Stimmung der Bevölkerung Friedensvertrag-Vorschlag der Sowjetunion (2)
19. Januar 1959
Information Nr. 4/59 – 2. Bericht über die Stimmung der Bevölkerung der DDR zum Friedensvertrag-Vorschlag der Sowjetunion
Die bis zum jetzigen Zeitpunkt bekannt gewordenen Stimmen und Erklärungen zeigen, dass der Friedensvertrags-Entwurf der SU in den Mittelpunkt aller Diskussionen gerückt ist und diese Diskussionen einen immer größeren Teil der Bevölkerung der DDR erfassen.1 Dabei wird der Vorschlag von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung begrüßt – wie schon im 1. Bericht angeführt wurde – und wobei sich an den Argumenten auch nichts Wesentliches verändert hat. Es sollen deshalb dafür einige typische Beispiele genügen:
Dr. [Name 1] aus Sangerhausen erklärte: »Ich begrüße diesen Vorschlag aus vollem Herzen und kann nicht verstehen, dass es heute noch Kräfte in Westdeutschland gibt, die sich gegen diesen Vorschlag stellen.« Dr. [Name 2], ebenfalls aus Sangerhausen, sagte: »Nach 14 Jahren seit Kriegsende ist es doch für jeden Deutschen eine Pflicht, Vorschläge, die der Entspannung und der Sicherung des Friedens dienen, zu akzeptieren. Dieser Vorschlag insbesondere gewährleistet uns Medizinern in ganz Deutschland eine Tätigkeit ohne Sorge um die weitere Zukunft.«
Im VEB Gummikombinat – Werk Gotha, [Bezirk] Erfurt,2 – begrüßten die Ingenieure und Wissenschaftler diese Initiative der SU und insgesamt 26 Ingenieure, Techniker und Obermeister erklärten sich bereit, in einer »sozialistischen Arbeitsgemeinschaft« zur Verbesserung der neuen Technik im Betrieb mitzuarbeiten. In der Abteilung Platten des gleichen Betriebes erklärten sich einige Kollegen unter Anleitung des Produktionsleiters und des Meisters bereit, ein Kollektiv der »sozialistischen Arbeit« nach dem Beispiel des VEB EK Bitterfeld zu gründen, mit der Aufgabenstellung: »Wir wollen sozialistisch arbeiten, lernen und leben.«3
Solche positiven Beispiele und Produktionsverpflichtungen sind sehr zahlreich und auch zur Popularisierung des Friedensvertrags-Entwurfes wurde nach neuen Methoden gesucht. In Mühlhausen wurde vonseiten der Partei ein Gespräch am runden Tisch mit Personen aus allen Bevölkerungskreisen über die Note der SU organisiert und auf Tonband aufgenommen, welches vor Beginn der Kinoveranstaltungen übertragen wurde.
Durch die Vielzahl der uns vorliegenden Materialien wird jedoch immer deutlicher, dass ein Fragenkomplex in den Vordergrund gestellt wird, der – neben den positiven Stimmen – das weitaus größere Ausmaß hat. Das sind die sich mit der Grenzregelung4 befassenden und mit den vielfältigsten Argumenten geführten Diskussionen, die an der Richtigkeit der im Vertragsentwurf vorgeschlagenen Grenzregelung zweifeln bzw. sie ablehnen und die Ostgebiete zurückfordern. Einen großen Anteil an diesen Stimmen haben die ehemaligen Umsiedler, aber auch in allen anderen Bevölkerungsschichten werden diesbezügliche Argumente vertreten und verdrängen mitunter alle anderen Punkte des Entwurfs. Trotzdem ist es nicht so, dass alle ehemaligen Umsiedler sich diesen Diskussionen mehr oder weniger anschließen, sondern es gibt auch eine Reihe von Beispielen, wo solche Personen erklären, dass sie auch die Grenzregelung anerkennen, weil sie einmal den Frieden garantiere und weil sie zum anderen hier in der DDR eine neue Heimat gefunden haben.
Daneben spielen noch immer solche Meinungen eine große Rolle, dass der Friedensvertrags-Entwurf der SU zwar gut und begrüßenswert sei, dass sich aber die Westmächte nicht daran halten werden. Dieses Argument wird meist in ehrlicher Überzeugung ausgesprochen, aber mitunter werden auch Schlussfolgerungen gezogen, die sich gegen die SU richten:
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Der Westen macht sich über diese Vorschläge nur lustig und geht unbeirrbar seiner Aufrüstung nach.
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Es sei ganz gleich, ob Vorschläge gemacht werden oder nicht, es bleibe doch alles beim Alten. Man macht viel Wind und einige Zeit später ist alles genau so ruhig wie zuvor.
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Es wird wohl mehrere Jahre dauern, bis ein Friedensvertrag zustande kommt. Eine Globalvereinbarung mit den Westmächten wäre vielleicht besser gewesen.
Das LDP-Mitglied [Name 3] aus Langewiesen, [Kreis] Ilmenau, vertrat z. B. folgende Meinung: »Es ist immer ein und dasselbe. In gewissen Zeitabständen bringt man wieder etwas Neues, sodass die Bevölkerung ständig in Unruhe gebracht wird. Es ist nicht das erste Mal, dass solche Vorschläge gemacht worden sind. Ich persönlich habe davon gar nichts.«
Auch die Unklarheiten und das Nichteinverständnis mit der vorgeschlagenen Regelung über Streitkräfte und deren Bewaffnung sind noch häufig anzutreffen, stehen aber – genauso wie einige über den Österreich-Passus5 vorhandene Unklarheiten – in keinem Verhältnis zum Umfange der Diskussionen über die Grenzregelung und enthalten nur in ganz wenigen Fällen neue Argumente. Zum Beispiel wird über die Österreich-Frage angeführt,
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dass sich die asiatischen und afrikanischen Völker vereinigen dürfen, die deutschsprachigen aber nicht;
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dass Österreich wieder an Deutschland angeschlossen werden müsste, da ja in Österreich deutsch gesprochen wird.
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Warum ist es uns verboten, mit Österreich Verbindungen aufzunehmen oder in wirtschaftlicher Form Verträge abzuschließen? … Man will uns klein halten – das ist es!
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Wenn beide Teile einverstanden sind, kann Österreich doch ein Land wie z. B. Bayern oder Sachsen werden, deshalb brauchte doch kein Krieg gemacht zu werden.
Zur Frage der Streitkräfte wird erklärt:6
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Man kann doch Deutschland nicht nur eine Armee gestatten ohne U-Boote, Bomber u. a. Waffen. Da sind wir doch machtlos und stellen nichts dar.
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Warum soll es Deutschland nicht gestattet werden, für friedliche Zwecke auf dem Gebiete der Raketenforschung zu arbeiten?
Im Zentralen Kontrollinstitut für Impfstoffe7 äußerte Kollege [Name 4] folgende feindliche Meinung: Wenn die Besatzungsmächte abziehen, dann geht der Amerikaner bis über den Atlantik zurück und der »Russe«? … – der steht dann an der Oder. Wie sollen wir uns denn sonst verteidigen!
Wie schon in der Einschätzung betont, sind die Diskussionen über die Grenzregelung als Schwerpunkt zu betrachten. Sie werden unter den vielfältigsten Gesichtspunkten und mit vielerlei aufschlussreichen Begründungen geführt, die erkennen lassen, dass ein großer Teil den durch die westlichen Rundfunksender verbreiteten revanchistischen Forderungen unterliegt beziehungsweise vergessen zu haben scheint, dass Hitlerdeutschland den Krieg verloren hat. Zu den Argumenten im Einzelnen:
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Wir streben doch den Internationalismus an. Da wird es doch keine Grenzen mehr geben. Es ist doch dann gleich, wo der Sozialismus anfängt und wo er aufhört.
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Die Ostgebiete sollten ein neutraler Staat werden, damit die ehemalige Bevölkerung die Möglichkeit hat, wieder dort hinzuziehen, wo sie hingehört.
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Dass die Abtrennung der Ostgebiete endgültig sei, aber das Saargebiet wieder zu Deutschland kommen soll, wäre eine offene Benachteiligung der Westmächte, mit der sie sich unter keinen Umständen bereit erklären würden.8
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Das Saargebiet erkennt man als deutsches Gebiet an, aber die Ostgebiete nicht; da finde sich einer raus.
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Adenauer9 habe es verstanden, das Saargebiet an die Bundesrepublik anzugliedern. Die DDR würde demgegenüber jedoch nichts tun, um die ehemaligen Ostgebiete wieder anzugliedern.
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Wenn die Westmächte gegen die Grenzen sind, muss sich auch der »Russe« fügen. Der Zank und der »folgende Krieg« kämen nur durch die Oder-Neiße-Grenze.
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Warum mussten wir diese Gebiete abtreten, wenn sie von den Polen nicht benutzt werden? Die Gebiete an der Grenze nach Polen und nach der ČSR würden brach liegen.
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Pommern und Ostpreußen waren unsere Kornkammern und müssen wieder deutsch werden, damit sich unsere Ernährungslage bessert.
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Was gestern richtig war kann heute falsch sein – genau so wäre es in der Grenzfrage. Deutschland fehlte es schon immer an Raum, vor allem an landwirtschaftlichem Gebiet, während dieses jetzt in Polen und in der ČSR mitsamt der Bebauung verfallen würde.
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Die SU könne auf Königsberg verzichten und für uns sei es eine wichtige Hafenstadt.
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Die »Russen« wollen die Deutschen immer nur ausnutzen, die besten Gebiete von Deutschland haben sie weggenommen. Mit so einem Vorschlag könne kein echter Deutscher einverstanden sein.
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Wenn die Oder die Grenze sein soll, müsste Stettin demnach deutsches Gebiet sein.
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Wir wollen wieder zurück in unsere Heimat, weil wir sie lieben. Nur Feinde können das nicht verstehen. (So lautete ein Diskussionsbeitrag eines Konsumverkaufsstellenleiters in Rosslau/Elbe vor ca. 45 Personen, mit dem er den Beifall der Versammelten fand.)
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Die DDR stimmt nur zu, weil sie muss.
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Legte man die Grenzen von 1939 fest, dann würden sich die Großmächte schon längst einig sein und wir hätten auch schon einen Friedensvertrag.
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Wenn diese Vorschläge bereits 1946 erfolgt wären, hätten sie ohne Weiteres Erfolg gehabt.
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Die Grenzfrage müsste erst nach Abschluss eines Friedensvertrages von der neuen Regierung behandelt und bestimmt werden. So müsste auch mit anderen zu klärenden Fragen verfahren werden.
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Warum bekommen die Polen Land, während die anderen, die ebenfalls gegen den Faschismus kämpften, nichts bekommen?
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Dass man über diese Frage eine Volksbefragung durchführen sollte.
Außerdem wird neben einer Volksbefragung verschiedentlich auch »Freie Wahl« [sic!] gefordert, die u. a. auch »eine richtige Antwort auf die Grenzfrage« geben würde.
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Erst muss in »freier und geheimer Wahl« eine Regierung für ganz Deutschland gewählt werden, dann hätten wir sofort ein einheitliches Deutschland und auch bald einen Friedensvertrag. Ein Separat-Friedensvertrag mit der DDR würde die Spaltung Deutschlands nur vertiefen.
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Ein Friedensvertrag würde die Einheit Deutschlands auch nicht herbeiführen. Dies würde nur noch durch »Freie Wahlen« [sic!] erreicht. – »Jeder Deutsche müsse selbst bestimmen können, wer Deutschland regieren soll.«
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Erst »Freie Wahlen« [sic!], denn bisher hätte es solche in der DDR noch nicht gegeben.
Nach wie vor ist bei diesem Komplex der Grenzregelung festzustellen, dass ein kleiner Teil vor allem der ehemaligen Umsiedler hofft, dass sich in dieser Frage noch etwas zu ihren Gunsten tun werde. Vereinzelt wird sogar erklärt, dass es den Westmächten gelingen müsste, günstigere Grenzbestimmungen und eine Rückkehr in ihre ehemalige Heimat zu erreichen. Dabei wird auch betont, dass es sich vorerst ja nur um einen Entwurf handele. Vielleicht könne man auf der Friedenskonferenz noch einmal darüber sprechen. Lieber sollte man an Polen höhere Reparationen zahlen. Auch über eine »Entschädigung« für ehemalige Umsiedler wird noch diskutiert. Daneben gibt es noch eine ganze Reihe anderer Argumente, die entweder Einzelmeinungen darstellen oder aber keinen nennenswerten Umfang annahmen, jedoch schädliche Auswirkungen hervorrufen können: Ein Student der Fachschule der Deutschen Post in Königs Wusterhausen (SED) äußerte, dass die Westmächte die Grenzvorschläge niemals akzeptieren werden und man sollte die Oder-Neiße-Grenze lieber als Lockmittel zu Verhandlungen über die Deutschlandfrage benutzen. Die Mehrheit seiner Klasse stimmte dieser Ansicht zu.
Einige Angehörige des Betriebsschutzes und der Betriebsfeuerwehr des VEB Elektrokohle Berlin stehen auf dem Standpunkt, dass die Spannungen schon so weit gediehen sind, dass man sie auf friedlichem Wege nicht mehr lösen könne. Ein Arbeiter (SPD) aus dem demokratischen Sektor von Berlin vertrat die Meinung: »Nun muss doch auch vom Westen aus einmal etwas geschehen, sonst kommt es noch so weit, dass sich Ost und West über den Kopf von Adenauer hinweg einigen. Das wäre auch zu unserem Nachteil.«
Ein Kollege aus der Rohrschlosserei der Neptun Werft in Rostock sagte: »Mit dem Friedensvertrag hätte die SU noch ein bis zwei Jahre warten müssen, dann wäre sie durch die schnelle ökonomische Entwicklung reicher und stärker und die Westmächte müssten ihre Autorität auch in der Frage des Friedensvertrages respektieren.«
Eine Studentin aus Güstrow vertrat die Ansicht, dass die beiden deutschen Regierungen sowieso nicht übereinkommen. Man solle doch endlich Hagemann10 und ähnliche Leute aus beiden Teilen Deutschlands zusammenkommen lassen, die eine wirklich nur deutsche Regierung bilden und deutsche Interessen vertreten.
Feindtätigkeit ist im Zusammenhang mit der Note nur in sehr geringem Umfang bekannt geworden. Es handelt sich dabei meist um Hetze. Auch sind einige Anzeichen vorhanden, wo feindliche Elemente versuchen, den Wortlaut des Entwurfes in einer für ihre schädlichen Absichten und Argumentationen günstigen Form auszulegen.
Der Technische Direktor des Wissenschaftlich-Technischen Büros für Gerätebau in Berlin, Golecki,11 lehnte es ab, eine Versammlung mit seinen Mitarbeitern über den Entwurf zu organisieren, weil »er als Deutscher nicht mit diesen Vorschlägen einverstanden ist und nicht ewig ein Sklave der SU sein will.« Die gleiche Ansicht vertraten Laborleiter [Name 5] und Entwicklungsleiter [Name 6]. Der Produktionsleiter des VEB Schamottewerk Großbothen, [Kreis] Grimma, [Name 7], ehemaliger Umsiedler, parteilos und Kirchenanhänger zog die Schlussfolgerung, dass aufgrund des Friedens-Vertrag-Entwurfs auch den »Zeugen Jehovas« gestattet sein müsste, offiziell ihren Glauben wieder zu verbreiten, da im Entwurf von Glaubensfreiheit gesprochen wird.12