Unstimmigkeiten in Lohn- und Prämienfragen
18. August 1959
Information Nr. 568/59 – [Bericht über] Unstimmigkeiten in Lohn- und Prämienfragen auf einigen Gebieten des Verkehrswesens der DDR
Nach einer Anzahl von Hinweisen gibt es unter den Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn auf verschiedenen Gebieten und Schwerpunkten seit Beginn der Lohnerhöhungen in den einzelnen Zweigen der Industrie in stärkerem Umfang Diskussionen zu Lohnfragen.1 Dabei werden in der Hauptsache Vergleiche zwischen den Löhnen und Gehältern der Deutschen Reichsbahn und denen der volkseigenen Industrie gezogen. Tatsächlich bestehen auch große Differenzen zwischen gleichartigen Beschäftigungsgruppen der Industrie und der Reichsbahn. Dies wirkt sich in Bezirken mit Schwerpunktobjekten der volkseigenen Wirtschaft – wie z. B. Schwermaschinenbau Magdeburg – besonders krass aus.
Dieser Umstand, dass in der volkseigenen Industrie für die gleichen Berufsgruppen bei einer wesentlich niedrigeren Belastung höhere Löhne gezahlt werden, begünstigt die Fluktuation und verstärkt den Arbeitskräftemangel bei der Reichsbahn, vor allem an Rangierern und Fahrpersonal. Oftmals wird von den Reichsbahnangestellten darauf hingewiesen, dass die Arbeit bei der Eisenbahn zum Teil anstrengender und verantwortungsvoller sei.
Die Diskussionen lassen ferner erkennen, dass aufgrund der Lohnveränderungen in der Industrie auch von den Angehörigen der Reichsbahn in absehbarer Zeit lohnerhöhende Maßnahmen erwartet werden. Diese Erwartungen wurden nicht zuletzt durch Versprechungen einer Reihe von Funktionären entfacht und begünstigt, wobei zu bestimmten Anlässen Versprechungen oder Andeutungen gemacht wurden, dass lohnerhöhende Maßnahmen geplant sind. So äußerte z. B. der Leiter der Politischen Verwaltung der Deutschen Reichsbahn, Menzel,2 zu Eisenbahnern des Bahnhofes Oschersleben in Anspielung auf eine Lohnerhöhung: »Zum Oktober gibt es einen Batzen Geld bei der Reichsbahn.« Eine ähnliche Meinung hat auch der Dienstvorsteher vom Bahnhof Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, der erklärte, dass von höheren Stellen geäußert wurde, dass zum 10. Jahrestag der DDR mit einigen Lohnüberraschungen bei der Deutschen Reichsbahn zu rechnen ist. Da die oftmals von verantwortlichen Reichsbahnfunktionären gegebenen Versprechungen und Termine nicht eingehalten wurden, entstanden zwangsläufig negative Diskussionen und Verärgerung.
Spekulationen dieser Art gab es schon zu der für den 23./24.4.1959 vorgesehenen Konferenz der Eisenbahner in Leipzig, wo von einem großen Teil eine Veränderung der Lohnstruktur erwartet wurde. Die gleichen Hoffnungen wurden dann mit dem »Tag des Eisenbahners«3 verbunden. Nachdem beide Termine keine Veränderung brachten, setzten in den einzelnen Dienststellen, vorwiegend im Rbd-Bezirk Magdeburg, verstärkt Diskussionen über Lohnerhöhungen ein, wobei verschiedentlich mit Kündigung gedroht wird. Ein Großteil der Diskussionen läuft darauf hinaus, dass man vorziehen soll, bei der Reichsbahn zu kündigen und Arbeit in der örtlichen Industrie aufzunehmen.
So haben im Elbbahnhof Magdeburg4 innerhalb weniger Tage sieben Rangierer gekündigt, um die Arbeit in der Schwerindustrie aufzunehmen. In diesem Industriezweig erhalten sie als Rangierer 450 DM, während sie bei der Reichsbahn nur 307 DM erhielten. Vom Bahnhof Jüterbog, [Bezirk] Potsdam, kündigten sieben Rangierer, die in die Industrie überwechselten. Auf dem Bahnhof Magdeburg-Rothensee kündigten Ende Juli sechs Rangierer, um sich bessere Verdienstmöglichkeiten zu suchen. Im Rbd-Bezirk Berlin kündigten wegen der bestehenden Lohnverhältnisse allein im I. Halbjahr 1959:
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121 Rangierer
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88 Zugschaffner
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81 Güterbodenarbeiter5
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75 Lokheizer
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111 Wagenreinigungskräfte und
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146 Bahnunterhaltungsarbeiter
Weitere Unzufriedenheit wird auch durch die unterschiedliche Bezahlung bei der Reichsbahn selbst hervorgerufen. Zum Beispiel werden Schlosser in Reichsbahnausbesserungswerken (RAW) besser bezahlt als Schlosser in Bahnbetriebswerken (BW), obwohl die Arbeit der letzteren schwieriger ist, da sie überwiegend an heißen Maschinen hantieren müssen.
Negative Auswirkungen in Form von Unzufriedenheit und Kündigungen zeigen sich bei den Wagenmeistern wegen Nichteinführung des neuen Prämiensystems. Dieses Prämiensystem wurde durch die IG Eisenbahn mit einer Anzahl von Wagenmeistern diskutiert, sodass seine Einführung nach Abschluss der Diskussionen erwartet wurde.
Diese Annahme wurde durch Äußerungen einiger Funktionäre der Reichsbahn bestärkt. Zum Beispiel erklärte der Leiter der Politischen Verwaltung der Deutschen Reichsbahn, Menzel, auf der Parteiarbeiterkonferenz im Dezember 1958 in Kirchmöser, dass das Prämiensystem bei der Reichsbahn nicht den ökonomischen Erfordernissen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität entspricht und der ZV der IG Eisenbahn und das Ministerium für Verkehr sollten mit der Überarbeitung des Prämiensystems beauftragt werden.
Auf der ökonomischen Konferenz in Magdeburg wurde von dem Hauptreferenten [Name 1] (Hauptverwaltung Wagenwirtschaft) erklärt, dass das Prämiensystem für Wagenmeister ab 1.7.1959 eingeführt wird.6 Gleiche Versprechungen wurden auch durch andere Funktionäre der HV gegeben. Da dieser Termin nicht eingehalten wurde, gibt es insbesondere unter den 440 Wagenmeistern der Rbd-Bezirkes Magdeburg, äußerst unzufriedene Diskussionen und Kündigungen.
So haben in der letzten Zeit allein in der Wagenmeisterei Magdeburg – Hauptbahnhof acht Wagenmeister gekündigt. In der Wagenmeisterei Aschersleben kündigten sieben Wagenmeister.
In der Wagenmeisterei Magdeburg gibt es auch solche Erscheinungen, dass durch die Nichteinführung des Prämiensystems die gesellschaftspolitische Arbeit vernachlässigt wird. Während diese Dienststelle im Bezirk bisher in der Stafettenbewegung7 bei Verpflichtungen und der Teilnahme an Wettbewerben an erster Stelle stand, liegt jetzt die gesamte gesellschaftspolitische Arbeit am Boden. Der Parteisekretär Heine8 vertrat die Meinung, »dass die Wagenmeister durch die Nichteinführung des Prämiensystems kein Vertrauen mehr zur Partei und Regierung haben«. Der Dienstvorsteher der Wagenmeisterei Magdeburg [Name 2] äußerte, dass Minister Kramer9 bereits 1956 die schnelle Einführung der Wagenmeisterprämie versprochen hat, aber bis heute noch keine Veränderung erfolgte.
Eine weitere Ursache der Unzufriedenheit unter dem Fahrpersonal der Reichsbahn ist der verstärkte Einsatz von »0-Mannzügen« (Züge ohne Zugbegleitpersonal). Die bisher eingesetzten Kräfte fahren jetzt Nah-Güterzüge oder sind als Rangierer bzw. Zugfertigsteller tätig, wodurch für sie ein finanzieller Nachteil bis zu 100 DM10 eintritt. Trotz des finanziellen Nachteils – durch den Wegfall des Kilometergeldes – muss beim Fahren von Nah-Güterzügen mehr Arbeit geleistet werden. Aus diesem Grunde wird vom Zugpersonal des Bahnhofes Magdeburg-Buckau zum Ausdruck gebracht, dass sie beim Einsatz als Rangierer oder Zugabfertiger ihr Arbeitsverhältnis bei der Deutschen Reichsbahn kündigen.
In einer Versammlung der Zugbegleiter des Bahnhofes Magdeburg-Rothensee am 29.7.1959 wurde ferner kritisiert, dass eine Neuregelung des Nebengeldes für Zugbegleiter bereits seit einem Jahr in Aussicht gestellt wurde, aber bis heute noch keine Klärung erfolgte.
Rege Diskussionen als Ausdruck der Unzufriedenheit gibt es auch z. T. jeweils nach Quartalsende über die Verteilung der Leistungsprämien. So erhalten z. B. im RAW Stendal bei Erfüllung des Quartalsplanes 160 leitende Angestellte insgesamt 65 000 DM Prämie, während 2 800 Angestellte insgesamt 69 000 DM erhalten.
Durch diese Situation wird der bestehende Arbeitskräftemangel bei der Deutschen Reichsbahn – vor allem an Rangier- und Zugpersonal – noch verschlechtert. Durch die eintretenden Kündigungen aufgrund der Lohnverhältnisse werden von dem jeweiligen Personal erhöhte Anstrengungen und Überstunden gefordert, was wiederum Unzufriedenheit und Verärgerung hervorruft. Zum Beispiel kündigten im Bahnbetriebswerk Dessau 16 Lokheizer, um eine Arbeit mit einem besseren Verdienst in der Industrie aufzunehmen. Dies führte dazu, dass das noch verbleibende Personal ständig eine hohe Anzahl von Überstunden leisten muss. Insgesamt wurden im I. Halbjahr 1959 bei der Reichsbahn ca. 4,8 Millionen Überstunden geleistet.
Auch in der Urlaubsabwicklung bestehen ernsthafte Schwierigkeiten, da im I. Halbjahr 1959 erst 22 % des Urlaubes gewährt werden konnten und in zahlreichen Dienststellen noch Urlaubsüberhänge aus dem Jahre 1958 bestehen.
Die Fluktuation sowie der bestehende Arbeitskräftemangel auf dem Gebiete des Maschinendienstes der Deutschen Reichsbahn zeigen sich als Beispiel in folgender Übersicht der Überstunden und Urlaubsabwicklung:
Reichsbahndirektion | Anzahl der Beschäftigten im Maschinendienst | im Mai 1959 Überstunden | Urlaubsabwicklung bis 30.6.1959 | Überstunden Juni 1959 |
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Berlin | 10 959 | 21 630 | 29,0 % | 20 527 |
Cottbus | 5 571 | 42 900 | 19,3 % | 33 574 |
Dresden | 13 441 | 42 900 | 17,5 % | 45 509 |
Erfurt | 7 657 | 33 141 | 19,4 % | 33 150 |
Greifswald | 3 714 | 21 406 | 24,0 % | 34 140 |
Halle | 13 189 | 48 993 | 20,8 % | 46 029 |
Magdeburg | 9 769 | 32 818 | 21,2 % | 41 809 |
Schwerin | 4 456 | 28 000 | 31,1 % | 33 270 |
Das Beispiel des Maschinendienstes kann jedoch nicht als Einzelerscheinung gelten, sondern auf dem Gebiet Betrieb und Verkehr (im besonderen Zugbegleitpersonal, Rangierer und Weichenwärter) ist die Situation ähnlich.
Auf dem Bahnhof Zwickau arbeiten Rangierbrigaden, für welche eine Sollstärke von sieben Kollegen vorgesehen ist, zurzeit mit nur vier Kollegen. Auf den Bahnhöfen des Reichsbahndirektionsbezirkes Dresden kündigten im II. Quartal 1959 wegen niedriger Entlohnung 213 Kolleginnen und Kollegen.
Die Folgen der Fluktuation im Reichsbahndirektionsbezirk Dresden sind, dass in den für den Eisenbahnbetrieb wichtigsten Dienstposten des Betriebs- und Verkehrsdienstes folgende Unterbesetzungen vorhanden sind:
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Rangierer: 496
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Zugbegleitpersonal: 133
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Weichen- und Stellwerkspersonal: 100
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Ladedienst: 210
Diese Unterbesetzung wirkt sich erschwerend auf den Betriebsablauf aus und bringt die bereits erwähnten hohen Überstunden hervor.
Auch auf dem Gebiet der Bahnunterhaltung ist die Arbeitskräftelage ähnlich der bereits geschilderten Gebiete. Der Bahnmeisterei Fürstenwalde, [Bezirk] Frankfurt/O., stehen für 128 km zu unterhaltende Gleislänge nur 22 Bahnunterhaltungsarbeiter zur Verfügung. Ähnlich ist die Lage bei der Bahnmeisterei Frankfurt/O. Dort stehen bei einer Gleislänge von 250 km nur 28 Bahnunterhaltungsarbeiter zur Verfügung.
Im Bahnunterhaltungsdienst besteht ein Mangel an qualifizierten Streckenmeistern. Die Ursachen liegen ebenfalls im bestehenden Lohngefüge. Ein Streckenmeister (Qualifikation M 1) verdient 405 DM brutto, die ihm unterstellten Bahnunterhaltungsarbeiter jedoch 30,00 bis 45,00 DM monatlich mehr. Ähnlich ist das Problem der Qualifizierung von Schweißern. Diese gehen aus dem Stamm der Bahnunterhaltungsarbeiter hervor und verdienen dann nach der Qualifizierung als Schweißer weniger als vorher.
Insgesamt fehlen im Transportbetrieb der Deutschen Reichsbahn bei einem tatsächlichen Bedarf von 245 435 Arbeitskräften zzt. 9 551 Arbeitskräfte – (ohne Reichsbahnausbesserungswerke). Hinzu kommt, dass die Überalterung ständig zunimmt. Im April 1959 betrug die Anzahl der bei der Reichsbahn beschäftigten Invaliden und Altersrentner 16 740, im Juli 1959 waren es bereits 17 982.
Andererseits wird die Fluktuation durch solche Erscheinungen wie auf dem Bahnhof Halberstadt geradezu gefördert, wo der Brief eines ehemaligen Eisenbahners, der jetzt in der »Schwarzen Pumpe«11 arbeitet, kursiert. In dem Brief berichtet er über seinen höheren Verdienst und fordert die Kollegen auf, ebenfalls bei der Reichsbahn zu kündigen, um in der »Schwarzen Pumpe« zu arbeiten. In diesem Zusammenhang gibt es auch solche Hinweise, wo ehemalige Reichsbahnangestellte, die jetzt in VEB arbeiten, in ihren alten Dienststellen erscheinen und den Kollegen durch Vorlage ihres Lohnstreifens ihren höheren Verdienst beweisen wollen.
Direkte feindliche Lohnforderungen konnten auf den angeführten Gebieten nicht nachgewiesen werden.