Vorbereitung und Durchführung von Grenzprovokationen
2. Oktober 1959
Information Nr. 705/59 – [Bericht über] Vorbereitung und Durchführung von Grenzprovokationen an der Staatsgrenze West der DDR
Dem MfS sind gegnerische Pläne bekannt geworden, die eine Aktivierung der Tätigkeit besonders in den Grenzgebieten zur DDR unter Einbeziehung der dort wohnenden Bevölkerung zum Inhalt haben. In erster Linie soll die Grenzbevölkerung psychologisch beeinflusst werden, um sie in größerem Ausmaße in Übereinstimmung mit der revanchistischen Bonner Politik bringen zu können. Offensichtlich verfolgt man dabei aber auch gleichzeitig das Ziel, sich die Notwendigkeit von Grenzprovokationen sanktionieren zu lassen bzw. zu eigenständigen Provokationen zu ermuntern.
Unter diesem Aspekt einer ideologischen Kampagne sind z. B. auch die von der CDU vorgesehenen sogenannten gesamtdeutschen Wochen zu sehen, die bis zum 6. Oktober 1959 in den westdeutschen Grenzkreisen Eschwege, Fulda, Schlüchtern, Hünfeld, Lauterbach, Hersfeld1 und Rotenburg2 stattfinden, wo die Bevölkerung »wachgerüttelt und der kommunistischen Propaganda« entgegengetreten werden soll.
Weiter wird unter Regie des Lemmer-Ministeriums,3 des SPD-Vorstandes und des RIAS4 in einer Anzahl westdeutscher Grenzkreise die Bevölkerung »getestet« und im feindlichen Sinne beeinflusst. Zu diesem Zweck wurde eine »Informationsgruppe« zusammengestellt, die unter Leitung des im Besucherdienst des Lemmerschen Bundeshauses in Westberlin beschäftigten und enge Verbindung zum RIAS unterhaltenden [Name 1] steht. Diese Gruppe, zu der noch die beiden Soziologie-Studenten [Name 2, Vorname] und Blau, Hagen5 sowie der RIAS-Journalist [Name 3, Vorname] (vermutlich alle SPD-Mitglieder) gehören, soll unter allen Kategorien der Bevölkerung Untersuchungen in folgender Richtung führen:
Wie lange ist die betreffende Person im Grenzgebiet wohnhaft und in welchen persönlichen Verhältnissen lebt sie.
Wie ist der Einfluss der Schule, der Vereine, Landsmannschaften usw. auf die Kinder und Jugendlichen hinsichtlich der bestehenden Grenze.
Welche materiell-persönliche Schädigung hat der Betreffende durch die Grenze.
Welche persönlichen Bindungen bestehen über die Grenze (verwandtschaftlicher Art, durch Parteien, durch Kirche usw.)
Welche Stellen gelten als mögliche Fluchtwege von Ost nach West und umgekehrt.
Sieht der Betreffende die Grenze als Staatsgrenze an.
Wird der Betreffende die Grenze unter Umständen persönlich verteidigen.
Steht der Betreffende gleichgültig der Grenze und der Weiterentwicklung gegenüber usw.
Ist die Grenze eine Bedrückung. (Auf wen orientiert sich die Bevölkerung, auf Bonn oder die DDR.)
Wie denkt der Betreffende über die Weiterentwicklung an der Grenze und alle Fragen der Wiedervereinigung.
Aktivität der Verwaltungen und Parteien jeder [unleserliches Wort] (soziale Betreuung, zur Wiedervereinigung usw.).
Wie wirkt die Propaganda der DDR auf die Grenzbevölkerung (Radio, Fernsehen und alle anderen propagandistischen Aktionen).
Ist die Grenze ein Hindernis im kleinen Grenzverkehr (z. B. Arbeiter, die in der DDR arbeiten). Wie ist deren ideologische Beeinflussung bzw. wie tragen diese bei, die Ideologie des Westens in die DDR hineinzutragen. (Zu diesem Punkt sollen parallele Beispiele zur Lage in Berlin als Vergleich angeführt werden.)
Welches Propagandamaterial erfasst die DDR-Bevölkerung in Fragen der Wiedervereinigung a) West b) Ost, d. h. was tun die Parteien auf westlichem Gebiet, z. B. Deutschlandplan der SPD usw.6 Was tut die DDR, z. B. Flugblätter, Rundfunk usw.
Welche Möglichkeiten bestehen zu sogenannten Grenzgesprächen zwischen Ost und West.
Welche Propagandamittel werden eingesetzt a) um in die DDR zu wirken, b) die aus der DDR kommen.
Diese angeführten Fragen werden auf die einzelnen Mitglieder dieser Informationsfahrt aufgeteilt und am Schluss in einem gemeinsamen Bericht für das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen und den Parteivorstand der SPD zusammengefasst.
In offensichtlicher Auswirkung dieser feindlichen Aktivierungsbestrebungen und im Zusammenhang mit den Störmanövern anlässlich des 10. Jahrestages der DDR7 kam es in der letzten Zeit erneut zu verstärkten Grenzprovokationen an der Staatsgrenze West der DDR, die auf der gleichen Linie wie die bereits mehrfach berichteten liegen und die mit dem Ziel durchgeführt werden, Grenzsicherungsanlagen zu zerstören und damit auch Angehörige der DGP8 zu unüberlegten Handlungen zu provozieren. Dabei wurden auch neue, besonders gefährliche Methoden der Brandstiftung angewandt.
Am 1.10.1959, gegen 15.30 Uhr, drangen im Gebiet Ahrenshausen, Kreis Heiligenstadt, [Bezirk] Erfurt, 25 Jugendliche von Eichenberg/WD kommend in das Gebiet der DDR ein, nachdem sie einen Grenzpfahl herausrissen und die Drahtsperren niedertraten. Die meisten Jugendlichen befanden sich ca. 10 m im Gebiet der DDR. Sieben Jugendliche versuchten den in der Nähe befindlichen Schlagbaum (ca. 30 m im Gebiet der DDR) umzureißen, während zwei Jugendliche ca. 50 m auf das Territorium der DDR vordrangen. Außerdem wurde ein Grenzmarkierungspfahl herausgerissen und mit nach Westdeutschland genommen. Der 10-m-Streifen wurde mit 14 schweren Steinen beworfen.9 Nach ca. 20 Minuten begaben sich die Jugendlichen wieder nach Westdeutschland zurück. Die Provokation wurde von zwei Angehörigen des westdeutschen Zolls aus ca. 200 m Entfernung beobachtet und gesichert. Gegen 16.15 Uhr besichtigten 30 Zivilisten und zwei Angehörige des Bundesgrenzschutzes, die alle mit einem Bus kamen, den Tatort.
Um die Grenzsicherungsanlagen, vorwiegend Holzgrenzpfähle zu zerstören, geht der Gegner u. a. zu folgender Methode über: Es werden trockene Grasflächen und Grasnarben auf westdeutschem Gebiet, unmittelbar an der Grenze liegend, angezündet und der sich ausbreitende Brand greift auf die Grenzeinrichtungen über und zerstört diese in den meisten Fällen. So wurden am 1.10.1959, gegen 17.40 Uhr, bei Wendehausen [bei] Treffurt von zwei männlichen Zivilpersonen die Grasnarben des 10-m-Streifens in Brand gesetzt, wodurch 14 Grenzpfähle ankohlten bzw. durchbrannten. Gegen 19.00 Uhr wurde diese Stelle von sieben Personen, die mit drei Pkw vorfuhren, besichtigt, die sich über die Provokation lustig machten. Ebenfalls am 1.10.1959, gegen 15.00 Uhr, wurde in der Nähe von Vitzeroda, [Bezirk] Suhl, ca. 100 m westlich unserer Staatsgrenze, von einem Bauer Gras angebrannt. Dieser Brand breitete sich bis zur Staatsgrenze aus und zerstörte 13 Grenzpfähle. Ähnliche Beispiele gab es in der Nähe von Jützenbach, Kreis Worbis und Frauenthal, [Kreis] Nordhausen,10 wo jeweils sieben Grenzpfähle und der Stacheldraht umgerissen wurden.
Am 2.10.1959, um 10.30 Uhr, fuhren 15 Jugendliche, sieben Erwachsene und ein Stupo11 mit einem Reisebus bis zur Mitte der »Brücke der Einheit« in Potsdam (Westring um Berlin), stiegen dort aus und fotografierten die Umgebung und die Kontrollposten der DGP.
Dem MfS liegen außerdem besonders in diesem Zusammenhang zu beachtende Hinweise vor, dass in der Nähe der Staatsgrenze West auf westlichem Gebiet verstärkt Pass- und Gepäckkontrollen durchgeführt werden und auch besonders Fahrzeuge aller Art kontrolliert werden.
Weiter wurde bekannt, dass am 3.10.1959 in Eschwege/WD auf einer Hetzkundgebung (»Gesamtdeutsche Woche«) der Bonner Minister Oberländer12 sprechen soll.
Am 3.10.1959 soll an der Staatsgrenze West in Steinbach am Wald eine Versammlung stattfinden, die vom DGB organisiert sein soll. Nach bisherigen Informationen soll diese Versammlung dazu benutzt werden, die auf der gegenüberliegenden Seite im Schieferbruch Lehesten, Kreis Lobenstein, [Bezirk] Gera, tätigen Arbeiter zum Verlassen der DDR und zur Arbeitsaufnahme in Westdeutschland aufzufordern, wo man ebenfalls einen Schieferbruch in Betrieb nehmen will.13 Die örtlichen Organe der Partei wurden von diesen Vorkommnissen und den gegnerischen Plänen verständigt. Vom MfS wurden Sondermaßnahmen eingeleitet, um derartige Provokateure ohne Anwendung der Schusswaffe auf dem Territorium der DDR festzunehmen und unüberlegte Handlungen von Angehörigen der DGP auf gegnerische Provokationen zu verhindern.