Einschätzung der Gewerkschaftswahlen 1961
17. Oktober 1961
Bericht Nr. 647/61 über einige bei den Gewerkschaftswahlen 1961 aufgetretene Probleme
Im Verlaufe der Gewerkschaftswahlen 19611 wurden dem MfS eine größere Anzahl von Informationen und Hinweisen über Schwächen in der Gewerkschaftsarbeit bekannt, die zwar örtlich bereits ausgewertet wurden, auf die aber im Interesse einer Verbesserung der politisch-ideologischen Arbeit innerhalb der Gewerkschaftsorganisationen zusammenfassend nachträglich hingewiesen werden soll.
Insgesamt ist einzuschätzen, dass sich im Verlauf der Gewerkschaftswahlen die politische Arbeit und das gesellschaftliche Leben innerhalb der Gewerkschaft weiter verbessert haben. Eine positive Entwicklung in dieser Richtung war vor allem dort zu verzeichnen, wo die Parteileitungen der Betriebe und die übergeordneten Gewerkschaftsorgane sich aktiv bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahlen eingesetzt haben.
Als hauptsächlichster Mangel während der gesamten Wahlperiode zeigte sich demnach die ungenügende politische Führungsarbeit, um die vorhandene Aufgeschlossenheit der Werktätigen für die weitere klassenmäßige Festigung und Erziehung aller Gewerkschaftsmitglieder auszunutzen.
Diese Einschätzung kommt in einer Reihe von Einzelerscheinungen in den Gewerkschaftsorganisationen auf betrieblicher bzw. Kreisebene sowie in einigen IG zum Ausdruck.
Die Gewerkschaftsmitglieder wurden ungenügend auf den konkreten Kampf um den Abschluss eines Friedensvertrages vorbereitet, da in vielen Versammlungen von den Gewerkschaftsfunktionären der Zusammenhang zwischen politischen und ökonomischen Grundfragen nicht ausreichend und vor allem nicht offensiv erläutert wurde. Dieser Zustand führte häufig dazu, dass in den Wahlversammlungen untergeordnete und nebensächliche Probleme aufgeworfen und in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt wurden, sodass die Gewerkschaftsleitungen sich gezwungen sahen, auf diese Fragen einzugehen, um überhaupt das Ziel der Gewerkschaftswahlversammlungen einigermaßen zu erreichen. Zu den Fragen des Friedensvertrages wurde oft nur allgemein gesprochen. In einer Reihe von Versammlungen wurde offensichtlich versäumt, volle Klarheit über den Charakter unserer gegenwärtigen Entwicklungsphase zu schaffen und die damit im Zusammenhang auftretenden wirtschaftspolitischen Probleme und auch Schwierigkeiten näher zu erläutern.
Die Aufgabenstellung der Partei, während der Wahlperiode im breiten Umfang die Rolle der rechten DGB-Führung unter Richter unter den Gewerkschaftsmitgliedern zu klären, ist nach den vorliegenden Berichten nicht erfüllt worden. Diese Frage spielte in den Wahlversammlungen der Betriebe kaum eine Rolle und gewann erst während der Durchführung der Kreis- bzw. Bezirksdelegiertenkonferenzen zunehmend an Bedeutung. Als Ursache wird u. a. mit angesehen, dass auch der FDGB-Bundesvorstand erst sehr spät zu diesem Problem Stellung genommen hätte. Weitere Schwächen zeigten sich in der Nichtbeachtung solcher Fragen wie der Gefährlichkeit der Bonner Ultras, ihrer aggressiven Zielsetzung sowie der organisierten Störtätigkeit, auf die in der Mehrzahl der betrieblichen Wahlversammlungen nicht eingegangen wurde.
Weiterhin zeigte sich, dass es die Gewerkschaftsfunktionäre nur ungenügend verstanden haben, im Rahmen des sozialistischen Wettbewerbs die breite Initiative zur Störfreimachung der Betriebe usw. zu wecken, obwohl von zentraler Ebene eine konkrete Orientierung bestand. Während des gesamten Zeitraums der Gewerkschaftswahlen wurde in dieser Frage keine allseitige Orientierung der Gewerkschaftsorganisationen erreicht.
Völlig unbeachtet blieb das Problem der Produktion von Konsumgütern in der Abteilung I. Von keiner Gewerkschaftsleitung wurde auf die Einstellung der Konsumgüterproduktion in den 172 davon betroffenen zentralgeleiteten Industriebetrieben eingegangen.
Die zentralen Organe des FDGB hatten vor und nach dem 11. Plenum des ZK der SED2 die unteren Gewerkschaftsleitungen darauf hingewiesen, dass durch die Gewerkschaftswahlen in der Volkswirtschaft ein größerer Arbeitsaufschwung erreicht werden sollte, der sich besonders in der Erfüllung des Planes, der Steigerung der Arbeitsproduktivität und in einer hohen Arbeitsdisziplin bei Einhaltung der Lohnkosten ausdrücken sollte. Obwohl in einigen Betrieben gute Beispiele und Ergebnisse erreicht werden konnten, ist es jedoch in dieser Zeit den zentralen, örtlichen und betrieblichen Organen des FDGB nicht gelungen, auf breiter Basis entscheidende Erfolge zu erzielen. Erst mit dem Produktionsaufgebot sind die politischen und organisatorischen Grundlagen zur Führung des sozialistischen Wettbewerbs mit exakter Aufgabenstellung geschaffen worden. Als Ursache für die in der Vergangenzeit aufgetretenen Hemmnisse wird in Diskussionen örtlicher und betrieblicher Gewerkschaftsfunktionäre angeführt, dass bei den zentralen Organen des FDGB zeitweilig größere Unklarheiten über den Weg zur Lösung dieser Frage bestanden hätten.
In diesem Zusammenhang wird wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass die politischen Schwächen in der Durchführung der Gewerkschaftswahlen zu einem großen Teil auf die mangelhafte politisch-ideologische Führungsarbeit der leitenden FDGB-Organe zurückzuführen seien. Besonders die Arbeitsweise des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes wird kritisiert mit dem Hinweis, dass zugunsten der Behandlung technisch-organisatorischer Fragen die politisch-ideologischen Probleme nur unzureichend geklärt wurden. Dieser Umstand hat demnach wesentlich dazu beigetragen, dass die FDGB-Organe in den Bezirken und Kreisen sowie die Zentralvorstände der IG den Gewerkschaftsorganisationen bei der Klärung herangereifter Fragen kaum Unterstützung gegeben haben. Bemängelt wird auch die Kollektivität des Sekretariats in der Wahlperiode, da oftmals nur zwei bis drei Sekretäre an den Beratungen teilgenommen hätten.
Zu dem Niveau der Gewerkschaftsversammlungen in den Betrieben, staatlichen Organen usw. ist einschätzend weiter festzustellen, dass es vielfach durch eine sehr große Unterschiedlichkeit gekennzeichnet war. Zahlreiche Rechenschaftsberichte der BGL beschränkten sich auf eine Einschätzung der ökonomischen Lage des jeweiligen Betriebes, ohne dabei auch eingehend den politisch-ideologischen Zustand der Gewerkschaftsgruppen, einzelner Brigaden, der AGL-Bereiche oder des gesamten Betriebes zu untersuchen. In der Diskussion zu den Rechenschaftsberichten und zur Aufgabenstellung für die Gewerkschaftsorganisation stand die Frage um Inhalt und Wesen des Verhältnisses von Arbeitsproduktivität und Durchschnittslohn im Allgemeinen mit im Mittelpunkt der Beratungen. Dabei ist jedoch einzuschätzen, dass die Ideologie unter einem Teil der Werktätigen, wonach mit der Klärung dieses Problems ein Lohnabbau beginnen und eine physisch stärkere Belastung des Einzelnen einsetzen würde, nicht überwunden werden konnte.
Da das Problem der Beseitigung des Missverhältnisses von Arbeitsproduktivität und Durchschnittslohn vor allem von der Lohnseite her aufgegriffen wurde, kam es dazu, dass die die Arbeitsproduktivität beeinflussenden Faktoren wie die volle Auslastung des Arbeitstages, die volle Ausnutzung der Maschinen und Aggregate, der unversöhnliche Kampf gegen jede Art von Bummelei sowie die Erziehung der Werktätigen zu einer höheren Arbeitsmoral und Arbeitsdisziplin von vielen Gewerkschaftsorganen in den Betrieben und Einrichtungen als zweitrangige Frage behandelt wurden.
Erhebliche Schwächen in der politischen Massenarbeit der Gewerkschaftsorgane zeigten sich auch in der Form, dass den verschiedenen Forderungen der Werktätigen (Urlaub, Lohn usw.) nicht im erforderlichen Ausmaß eine breite und verständliche Aufklärung gegenübergestellt wurde, z. B. welche Gründe dafür maßgebend sind, dass diese Forderungen in der Gegenwart nicht den realen Möglichkeiten entsprechen.
Schwerpunkte der Lohndiskussionen waren vor allem die Betriebe der Landwirtschaft, die örtlichen Organe der Staatsmacht, medizinische Einrichtungen, Großhandelsgesellschaften, Betriebsschutzeinrichtungen u. a. m.
Während der Gewerkschaftsversammlungen in den VEG wurden in großem Umfange massive Forderungen nach Lohnerhöhung gestellt, denen die leitenden Mitarbeiter der VEG in aufklärender Form nicht wirksam entgegentreten konnten. Eine besondere Rolle nimmt dabei die Entwicklung ein, dass z. B. in den umliegenden LPG das Einkommen der Mitglieder oft bedeutend höher liegt als der Lohn der Landarbeiter in den VEG. (Aus diesem Grunde sind bereits bedeutende Abwanderungen von landwirtschaftlichen Arbeitskräften der VEG in LPG zu beobachten.)
Negativ wirkte sich aus, dass im Rahmen der Auseinandersetzungen über die Lohnforderungen der sozialistische Wettbewerb als zurzeit gegebene Möglichkeit zur Steigerung des persönlichen Einkommens charakterisiert wurde.
Besonderer Anlass für Unzufriedenheiten in den Betrieben der Landwirtschaft (VEG) sind außerdem die Unterschiede in der Entlohnung zwischen den Feldbau- und Zuchtviehbrigaden.
In den örtlichen Organen des Staatsapparates wird verbreitet die Forderung nach einem neuen Tarifvertrag gestellt. Mit ähnlichen Forderungen beschäftigten sich auch die Gewerkschaftsversammlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Erneut gab es im Verlauf der Gewerkschaftswahlen in den Privatbetrieben der DDR Diskussionen über das unterschiedliche Lohnniveau zur volkseigenen Industrie.
Viele Wahlversammlungen in Gewerkschaftsgruppen waren eine formale Angelegenheit, da es zu keiner Rechenschaftslegung und Diskussion kam.
Vereinzelt, meist im Zusammenhang mit der Klärung von Fragen des AGB, waren Urlaubsfragen, Einführung der 5-Tage-Woche und örtliche Versorgungsprobleme Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen, wobei die Gewerkschaftsfunktionäre nicht immer in der Lage waren, den auftretenden Argumenten zu begegnen. In Einzelfällen haben sie durch untaktisches Verhalten direkt derartige Diskussionen provoziert. So hat z. B. ein Mitarbeiter des Zentralvorstandes der IG Textil, Bekleidung, Leder durch angedeutete Zusage die Diskussion über die Einführung der 5-Tage-Woche in das Textil-Kombinat Zittau hineingetragen.
Es gibt aber auch zahlreiche Beispiele aus den Bezirken und Kreisen, die die unzureichende Einflussnahme der Partei- bzw. Werkleitungen auf den Verlauf der Gewerkschaftswahlen beweisen. Teilweise war die Hilfe der Parteileitungen nur auf die Diskussion über die aufzustellenden Kandidaten beschränkt. Die Parteileitungen in den Betrieben nahmen unzureichenden Einfluss auf die Genossen, die als Kandidaten für die zu wählenden Gewerkschaftsleitungen vorgeschlagen werden sollten.
Andererseits gab es Beispiele, wie im VEB Feinpapier Königstein/Pirna, wo eine »Einmischung der Parteileitung in die Gewerkschaftsarbeit« abgelehnt wurde.
Im Ergebnis dieser unzureichenden Arbeit zeigte sich bei vielen Gewerkschaftsmitgliedern eine ungenügende Bereitschaft zur Übernahme von Gewerkschaftsfunktionen. Argumente für die Ablehnung der Kandidatur waren
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Überlastung mit gesellschaftlicher Arbeit.
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Wir haben sowieso nichts zu sagen.
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Gewerkschaftsarbeit ist eine undankbare Arbeit.
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schlechte Zusammenarbeit mit der Betriebsleitung in der Vergangenheit.
Es gibt in diesem Zusammenhang eine Reihe von Beispielen für das Zurückweichen von Gewerkschaftsfunktionären vor den wachsenden und komplizierter werdenden Aufgaben. Dies zeigte sich in der ablehnenden Haltung zu den Kandidaturen für die Neuwahlen. Als vorgeschobene Begründungen wurden meistens Arbeitsüberlastung, Krankheit und Alter angeführt. In den Keramischen Werken Hermsdorf z. B. war es aus diesen Gründen nicht möglich, in zwei AGL-Bereichen die Funktion des AGL-Vorsitzenden zu besetzen.
Aus den vorliegenden Informationen ist ersichtlich, dass dieses Verhalten vereinzelt aber auch auf gegnerischen Einfluss zurückzuführen ist, wie überhaupt mehrere Erscheinungen darauf hinweisen, dass in Einzelfällen feindliche oder schwankende Elemente die Wahlen stören bzw. beeinflussen konnten. So wurde z. B. festgestellt, dass es derartigen Elementen in einzelnen Gewerkschaftsorganisationen gelungen ist, die Wahl bzw. Wiederwahl von Mitgliedern der SED und anderen fortschrittlichen Kräften zu verhindern und in diese Funktionen negative und schwankende Elemente zu bringen. Beispielsweise wurden im »Karl-Marx-Werk« Zwickau und in der Maschinenfabrik Greiz zur Wahl aufgestellte Genossen, die in der Vergangenheit politisch aktiv gearbeitet haben, nicht gewählt. Dies wurde u. a. dadurch ermöglicht, auch in vielen anderen Betrieben, dass mehr Kandidaten als vorgesehen aufgestellt wurden.
Auch aus anderen Beispielen ist ersichtlich, dass in Vorbereitung und Durchführung der Gewerkschaftswahlen die Wachsamkeit gegenüber klassenfremden Elementen teilweise stark verletzt wurde, indem negative Elemente bereits bei der Kandidatenaufstellung Berücksichtigung finden und durch die Wahl sich in Gewerkschaftsfunktionen einschleichen konnten.
Im VEB Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« Schwarza ist in der BGL und unter den Vertrauensleuten eine Konzentration von Rückkehrern, Zuwanderern und ehem. NSDAP-Mitgliedern. Im VEB Kraftverkehr Hildburghausen z. B. wurde eine Person als BGL-Vorsitzender gewählt, die bereits am 17.6.1953 negativ in Erscheinung getreten ist. In der Nickelhütte St. Egidien/Karl-Marx-Stadt. konnte ein ehem. Fremdenlegionär in die BGL gewählt werden. (weitere Beispiele liegen vor)
Die feindliche Einflussnahme zeigte sich weiter in den relativ häufig anzutreffenden und mehr oder weniger offenen Diskussionen auf den Wahlversammlungen, in denen der FDGB als »Staatsgewerkschaft« bezeichnet und reformistische Ansichten der SPD über das Nur-Gewerkschaftlertum und die politische Neutralität der Gewerkschaften vertreten wurden. In einer größeren Anzahl von Wahlversammlungen konnten Forderungen nach Durchführung sog. »freier Wahlen« erhoben werden, wobei auch aus den Begründungen zu erkennen war, dass im Wesentlichen die vom gegnerischen Rundfunk verbreiteten Argumente benutzt wurden. Allgemein ist einzuschätzen, dass die Auseinandersetzung mit diesen Kräften völlig ungenügend erfolgte bzw. vielfach sogar unterblieb.
Als Ausdruck der feindlichen Einflussnahme während der Wahlperiode ist weiterhin die Republikflucht von insgesamt 23 hauptamtlichen Funktionären des FDGB in dieser Zeit anzusehen. Darunter befanden sich z. B. der 1. Sekretär des FDGB-Kreisvorstandes in Heiligenstadt sowie der Sekretär der IG Bau-Holz in Arnstadt.