Entwicklung des Pkw-Typ P 100
6. September 1961
Bericht Nr. 535/61 über einige Hemmnisse bei der Entwicklung eines neuen Pkw-Typ P 100
Dem MfS wurden eine Reihe von Problemen über die Entwicklung des Pkw-Typ P 100 bekannt, die u. a. beinhalten, dass die Entwicklung unvollständig vorbereitet,1 unwissenschaftlich durchgeführt und ohne genaue technische Konzeption vollzogen wird. Aus diesen Gründen erachtet es das MfS für notwendig, auf einige dieser Fakten hinzuweisen.
Ende 1960 wurde von verantwortlichen Funktionären der VVB Automobilbau festgelegt, dass ein neuer Pkw-Typ in der Größenordnung eines Mittelklassewagens (ca. 1 000 cm³) zu entwickeln sei (Typenbezeichnung P 100).
Es sollte innerhalb eines halben Jahres (Termin 30.6.1961) ein standardisiertes Fahrzeug entwickelt werden, welches etwa ab 1965 im VEB Automobilwerke Eisenach und ab 1967 im VEB »Sachsenring« Zwickau gebaut werden soll.2
Die bisher bekanntgewordenen Einzelheiten über den Ablauf der Entwicklung und Konstruktionsarbeiten widersprechen den allgemeinen Grundsätzen der Neuentwicklung von Fahrzeugen im Automobilbau.3
Die Entwicklungsarbeiten haben im vergangenen Zeitraum unter der unzureichend ausgearbeiteten technischen Konzeption gelitten. Leitende Funktionäre der VVB begnügten sich mit einer sehr allgemein gehaltenen Aufgabenstellung und setzten für die Entwicklungs- und Konstruktionsarbeiten eine sozialistische Arbeitsgemeinschaft, bestehend aus Werksangehörigen des AWE und des »Sachsenring«-Werkes, ein. Diese Arbeitsgemeinschaft musste zunächst die technische Grundkonzeption für den Pkw-Typ erarbeiten, wobei sich ein Streit zwischen beiden Werkgruppen entfaltete.
Die Angehörigen von Zwickau empfahlen die Konstruktion eines Wagens mit Frontantrieb, unter Hinweis auf die sich abzeichnende internationale Entwicklungsrichtung4, während die Werkgruppe des AWE5 auf dem Standpunkt6 verharrte, einen Wagen mit Unterflurheckmotor7 (angeordnet vor der Hinterachse) zu bauen. Dabei wurden Meinungen geäußert, nach denen dieses Prinzip eine neue technische Entwicklungslinie in der internationalen Pkw-Produktion hervorrufen könne. Gegenwärtig gibt es in dieser Bauart noch keinerlei Erfahrungen.8
Da angeblich keine Einigung herbeizuführen war und die Leitung der VVB keine bindende Entscheidung treffen wollte, wurde beschlossen, die sozialistische Arbeitsgemeinschaft aufzulösen und in beiden Autowerken je einen Prototyp des neuen Fahrzeuges entwickeln zu lassen.9 Als Endtermin der Fertigstellung wurde der 30. Juni 1961 genannt. Diese Praxis widerspricht vollkommen den gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Bedingungen im Automobilbau der DDR.10
Im VEB »Sachsenring« Zwickau wurden die Entwicklungsarbeiten ohne jegliche Voraussetzungen begonnen. Im VEB AWE hingegen wurden die 2-jährigen Ergebnisse der Entwicklungsarbeiten am Sportwagen 313/2 zur Grundlage für den neuen Pkw-Typ genommen. Dieser Sportwagen und der neue Typ P 100 sollen jeweils mit einem Unterflurheckmotor ausgestattet werden, wobei Fachleute des Automobilbaues der DDR die Meinung vertreten, dass für die Betriebsführung und Wartung des Fahrzeuges wesentliche Nachteile gegenüber den herkömmlichen Antriebsarten entstehen können. Diese Hinweise wurden jedoch von der Leitung der VVB ignoriert.
Der bisherige Ablauf zeigt, dass durch die Trennung der Entwicklungsarbeiten der materielle und finanzielle Aufwand für eines der beiden Fahrzeuge ohne Nutzeffekt bleiben wird. Die Entwicklungskosten im AWE werden z. B. mit etwa 575 TDM angegeben, wobei aber unterlassen wurde, die für den Sportwagen 313/2 verausgabten Mittel von 809 TDM mit zu kalkulieren11, da ja die technische Konzeption dieses Wagens in dem vom AWE entwickelten Typ P 100 eingegangen ist.
Darüber hinaus wird allgemein bemerkt, dass die allseitige Ausnutzung und Anwendung der vorhandenen Entwicklungsrichtungen im internationalen Automobilbau bei der kurzfristigen Entwicklungszeit von einem halben Jahr nicht restlos möglich ist und daher kein ausgereiftes und durchkonstruiertes Fahrzeug entstehen konnte.12
Es wurde also durch die Trennung der Entwicklungsgemeinschaft Typ P 100 das Prinzip der sozialistischen Arbeitsgemeinschaft durchbrochen und nicht verhindert, dass nunmehr [regulärer]13 ein Konkurrenzkampf zwischen beiden Automobilwerken entstanden14 ist.
Die Aufgabenstellung der Entwicklung eines neuen Pkw-Typs soll nach Ansicht verschiedener Fachleute ohne ein begründetes Perspektivprogramm und ohne vorherige Abstimmung im RGW erfolgt15 sein. So soll z. B. im Rahmen der neuerlichen Ausarbeitung eines Perspektivprogrammes im Dezember 1960 durch die VVB Automobilbau die Idee der Neuentwicklung entstanden sein. Ohne vorhergehende Abstimmung mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten der DDR wurde dieses Entwicklungsvorhaben beschlossen. Es fehlte jegliche Abstimmung und Koordinierung über das Produktionsprofil für Pkw dieser Größenklasse im Rahmen des RGW.
Das weiter oben genannte Problem der Neuentwicklung ohne entscheidende Berücksichtigung der Entwicklungskosten wird noch dadurch kompliziert, dass die Höhe der zukünftig möglichen Produktionszahl bei Pkw völlig unklar erscheint.16 Die Perspektive über einen längeren Zeitraum fehlt gegenwärtig noch. Daher verlaufen die Konstruktionsarbeiten ohne Beachtung der gleichzeitig mit zu entwickelnden modernen hochproduktiven Fertigungstechnologie17. Dadurch können erneut umfangreiche Veränderungen am Wagen erforderlich werden, die mit einem neuerlichen Aufwand an finanziellen und materiellen Mitteln verbunden sind. Da bei den Konstruktionsarbeiten der Termin der Fertigstellung zu kurzfristig gestellt wurde, muss angenommen werden, dass der bisherige Entwicklungsstand des P 100 keine Optimallösung hinsichtlich der Betriebsführung und Wartung, hinsichtlich der Produktionstechnologie und des Materialverbrauches garantiert18.
Abschließend möchten wir darauf hinweisen, dass bei der Entwicklung des Pkw-Typ P 100 des AWE das Problem der Erreichung der Störfreiheit völlig unbeachtet geblieben ist19.
Diese Mängel bei der Entwicklung des Pkw-Typ P 100 dürften im Wesentlichen in der unzureichend ausgearbeiteten Perspektive des Industriezweigs Automobilbau der DDR als auch der beiden Werke Zwickau und AWE sowie in der fehlenden Perspektive im Programm für Forschung und Entwicklung begründet sein. Es wäre daher erforderlich, in absehbarer Zeit durch die verantwortlichen staatlichen Organe entscheiden zu lassen, welcher der beiden erbauten Prototypen als Grundlage der weiteren Vervollkommnung dienen soll. Für die Herbeiführung der Entscheidung wäre unbedingt die Stellungnahme des technisch-ökonomischen Rates der VVB Automobilbau einzuholen.20
Das Problem der Erreichung der Störfreimachung beim Pkw-Typ der Eisenacher Automobilwerke sollte bei der Entscheidung des zukünftig zu fertigenden Wagens besonders berücksichtigt werden, da wichtige Baugruppen für diesen Wagen von führenden Automobilwerken Westdeutschlands bezogen wurden.21
Mielke [Unterschrift]