Flucht eines Bitterfelder Chemikers
17. März 1961
[Einzel-Information] Nr. 158/61 über Ursachen der Republikflucht des verdienten Erfinders und Mitarbeiters der Forschungsabteilung im EKB Bitterfeld, Dr. Hans-Joachim Renner
Dem MfS wurde bekannt, dass am 7. oder 8.3. der Mitarbeiter der Forschungsabteilung des EKB Bitterfeld, der Verdiente Erfinder Dr. Renner (Mitglied der SED) republikflüchtig geworden ist. Renner war Fachmann auf dem Gebiet der Schädlingsbekämpfungsmittel und hat in den letzten Jahren eine Reihe von Neuentwicklungen herausgebracht, wofür er am Tage des Chemiearbeiters mit dem Titel »Verdienter Erfinder« ausgezeichnet wurde.
Nach bisherigen Ermittlungen nahm Dr. Renner eine am 2.3.1961 mit ihm stattgefundene Aussprache zum Anlass, illegal die DDR zu verlassen.1 Diese Aussprache mit Dr. Renner erfolgte auf Weisung der Staatlichen Plankommission, Abteilung Chemie, Sektor Kader, und wurde vom Leiter der VVB Elektro-Chemie und Plaste, Genosse Fickler, dem Werkleiter des EKB, Genosse Schubert, und dem Produktionsleiter des EKB, Genosse Boethin, durchgeführt. Der Parteisekretär des EKB hat erst nach erfolgter Aussprache davon Kenntnis erhalten, obwohl die Weisung der SPK vorsah, dass der Leiter der VVB gemeinsam mit der Parteileitung des EKB die Aussprache durchführen sollte.
Anlass für diese Aussprache war ein Schreiben des 2. Sekretärs der Botschaft der DDR in Vietnam, Dressler, an den Genossen Fleischer von der Staatlichen Plankommission. In diesem Schreiben, dass von der SPK dem Leiter der VVB Elektro-Chemie und Plaste, Genosse Fickler, abschriftlich als Grundlage für die mit Dr. Renner zu führende Aussprache zugeschickt worden war, wurde Dr. Renner vorgeworfen, dass er während seines dienstlichen Aufenthaltes in der VR Vietnam von November bis Dezember 1960 dass Ansehen der DDR geschädigt habe. Im Einzelnen wird dazu angeführt, dass Dr. Renner gegenüber Prof. Noan von der Universität Hanoi und dessen Ehefrau geäußert habe, »dass er in der DDR zwar schönes Geld verdiene, sich jedoch für dieses Geld in Westdeutschland mehr leisten könnte. Außerdem würde er in Westdeutschland freier als in der DDR leben und größere Reisen in die Schweiz usw. unternehmen können«.
In den Begleitschreiben der SPK wird erwähnt, dass Genosse Prof. Winkler als erzieherische Maßnahme vorschlägt, zeitweilig jegliche Dienstreisen des Dr. Renner in das Ausland zu sperren.
Der Leiter der VVB, Genosse Fickler, wurde in dem Schreiben weiter aufgefordert, die Durchführung der Aussprache mit Dr. Renner zu bestätigen.
Wie aus dem Schreiben des Genosse Fickler an die SPK ersichtlich ist, hat Dr. Renner in der Aussprache mit den genannten Genossen die ihm unterstellte Aussage scharf zurückgewiesen. Daraufhin wurde die Aussprache ergebnislos abgebrochen und von Genosse Fickler die Verhängung einer erzieherischen Maßnahme bis auf weiteres ausgesetzt. Unabhängig von dem Ergebnis der Aussprache ist aber offensichtlich Dr. Renner noch aufgefordert worden, bis zum 10.3.1961 eine schriftliche Stellungnahme zu diesem Vorgang abzugeben, die dann der SPK übermittelt werden sollte. Dieses Ersuchen erfolgte, obwohl Genosse Fickler in seinem Schreiben an die SPK bereits starke Zweifel erhebt, ob es überhaupt in dieser Angelegenheit zu einer Klärung kommen wird. Er fordert deshalb zu entscheiden, ob diese Auseinandersetzung, wo Behauptung gegen Behauptung stünde, nicht beigelegt werden könne.
Die Parteileitung des EKB Bitterfeld vertritt zu diesen Vorgängen die Ansicht, dass sie Dr. Renner eine solche Haltung nicht zutraut, zumal sich in seinen Kaderakten ein Schreiben des Ministeriums für Land- und Forstwirtschaft der Demokratischen Republik Vietnam befindet, in dem der Direktion des EKB und Dr. Renner für die von ihm während seines Aufenthaltes in Vietnam geleistete Arbeit und Unterstützung Lob und Anerkennung ausgesprochen wird.
Der Parteisekretär des EKB, der erst nach erfolgter Aussprache mit Dr. Renner davon erfuhr, ist der Auffassung, dass es nicht richtig war, diese Aussprache zu führen, da zwei so gegenteilige Meinungen über das Wirken des Dr. Renner in Vietnam vorhanden waren.
Obwohl nach Schilderungen des Werkleiters des EKB, Genosse Schubert, die Aussprache mit Dr. Renner vom Leiter der VVB, Genosse Fickler, in einem sachlichen Ton geführt worden sei, war Dr. Renner danach sehr deprimiert. Wie die Untersuchungen ergaben, hat er seinen Mitarbeitern gegenüber erklärt, dass er bei der erwähnten Aussprache »zusammengeknüllt worden wäre und die Nase voll habe«.
Der in einem Haus mit Dr. Renner wohnhafte Dr. [Name] erklärt, dass es am 4. und 5.3.1961 zwischen Dr. Renner und dessen Frau heftige Auseinandersetzungen gegeben habe, in denen u. a. auch die Worte gefallen seien, »es ist alles Mist hier – ich habe keine Lust mehr …«. Dr. Renner, der sonst einen sehr soliden Lebenswandel führe, habe an diesen Tagen auch sehr stark dem Alkohol zugesprochen.
Diese Vorgänge dürften die Bestätigung dafür sein, dass die Republikflucht des. Dr. Renner im Wesentlichen auf die geschilderte Aussprache zurückzuführen ist.
Dabei stehen, wie die Ermittlungen ergaben, die gegen Dr. Renner erhobenen Anschuldigungen in keinem Verhältnis zu seinen Verdiensten.
Dr. Renner arbeitete zuletzt an einem Forschungsauftrag, der es ermöglicht, die Fäulnis von Bananen während des Transportes zu beseitigen, einem Auftrag, der vor allem im Hinblick auf die Handelsbeziehungen der DDR mit den afroasiatischen Ländern von Bedeutung ist.
Die bisher eingeleiteten Maßnahmen, Dr. Renner zur Rückkehr in die DDR zu bewegen, führten zu noch keinem Ergebnis, da er offensichtlich auf Anweisung der Westberliner Organe sofort mit unbekanntem Ziel ausgeflogen wurde.