Flucht eines Leipziger Zoologen
16. Mai 1961
Einzel-Information Nr. 239/61 über die Republikflucht des Dr. Lothar Dittrich, wissenschaftlicher Assistent im Leipziger Zoo
Der wissenschaftliche Assistent vom Leipziger Zoo, Dr. Dittrich, wurde während seines Urlaubs, den er am 19.4.1961 antrat, republikflüchtig.
Dr. Lothar Dittrich wurde am 20.4.1932 geboren und war zuletzt in Leipzig N 22, [Straße, Nr.], wohnhaft. Die Frau des Dr. Dittrich war beim Rundfunk freischaffend tätig. Seine persönlichen Verhältnisse galten als geordnet.
Dem Dr. Dittrich war bekannt, dass er als Nachfolger des Dr. Zukowsky, Direktor des Leipziger Zoo – 73 Jahre alt –, vorgesehen war, und sein Einverständnis zur Übernahme der Funktion lag vor. An seiner Arbeit im Leipziger Zoo gab es nichts Wesentliches auszusetzen.
Durch Vortäuschung großer Aktivität in arbeitsmäßiger Hinsicht und in seiner Eigenschaft als Stadtverordneter verstand er es, seine Mitarbeiter zu blenden.
Dr. Dittrich stellte losgelöst von den ökonomischen Verhältnissen hohe finanzielle Forderungen zum Ausbau des Leipziger Zoos und setzte sie auch teilweise durch. So führte er u. a. im Februar 1961 Verhandlungen mit dem Mitarbeiter des ZK der SED, Genosse Siegfried Wagner, von dem er 200 000 DM für die Werterhaltung des Leipziger Zoos forderte. Danach wurden in Rücksprachen bei der Abteilung Finanzen des Rates der Stadt Leipzig vorerst 138 000 DM bewilligt und weitere Beträge in Aussicht gestellt.
Dr. Dittrich war in seiner Eigenschaft als Stadtverordneter davon unterrichtet, dass die Abteilung Kultur aus dem Fonds für Instandsetzungen größere Beträge für andere Objekte (z. B. Trafo-Station in der Kongresshalle des Zoos) verwenden musste.
Außer den Mitteln für Werterhaltung forderte Dr. Dittrich wiederholt beim Rat der Stadt Leipzig, Abteilung Finanzen, eine Erhöhung der Löhne und Gehälter der Arbeiter und Angestellten des Zoologischen Gartens, mit der Begründung, dass davon die Gewinnung weiterer Arbeitskräfte abhänge. Im Zusammenhang mit diesen Forderungen äußerte Dr. Dittrich mehrmals, dass von ihrer Genehmigung sein weiteres Verbleiben abhängt.
Das Verhältnis des Dr. Dittrich zu seinen Mitarbeitern und zu denen des Rates der Stadt war gut. Es gab zwar kleinere Meinungsverschiedenheiten, die jedoch meist zu seinen Gunsten – bis auf die oben erwähnten Fragen – gelöst wurden.
Auch die leitenden Mitarbeiter des Zoos brachten nach Befragen zum Ausdruck, dass ihrer Meinung nach bei Dr. Dittrich kein aus der Tätigkeit bedingter Grund zur Republikflucht vorlag.
Nach den bisherigen Untersuchungen ist einzuschätzen, dass die Republikflucht des Dr. Dittrich längere Zeit vorbereitet wurde. Zur unmittelbaren Vorbereitung wurde vermutlich von Dr. Dittrich u. a. eine Reise nach Köln in der Zeit vom 12. bis 18.4.1961 benutzt, während er im Auftrage des Leipziger Zoos an einer wissenschaftlichen Tagung teilnahm. Am 19.4.1961 meldete er sich im Zoo von seiner Reise zurück und reichte seinen Urlaub für die Zeit vom 19.4. bis 12.5.1961 nach Rheinsberg/Mark, [Straße, Nr.], ein.
Einen Tag vor Urlaubsschluss des Dr. Dittrich, am 11.5.1961, erhielt Dr. Zukowsky von Dr. Dittrich einen Brief aus Berlin-Charlottenburg, in dem Dr. Dittrich seine Republikflucht mitteilt. In diesem Brief, der in einem vollkommen feindlichen Ton gegen die DDR gehalten ist, gibt Dr. Dittrich seine negative Haltung zur Entwicklung unseres Staates zu. Er ignoriert u. a. alle Unterstützungen und finanziellen Zuwendungen seitens unseres Staates an den Leipziger Zoo und ihn persönlich und schreibt von einem »aussichtslosen Kampf«, den er um den Fortbestand und die Weiterentwicklung des Zoos geführt habe und von einem »absteigenden Ast«, auf dem wir uns seit 1957/58 befinden würden. Als Stadtverordneter hätte er einen tiefen Einblick in das »wirtschaftliche Chaos« erhalten, und der »wirtschaftliche Bankrott des Staates« und der »chronische Mangel an Arbeitskräften« lägen allzu offen auf der Hand. Die Lohnpolitik des Staates den Arbeitern gegenüber bezeichnete er als »skrupellos«, und das ZK hätte erläutert, dass eine Änderung auf Jahre hinaus nicht möglich sei. Wiederholt spricht er in seinem Brief an Dr. Zukowsky im Sinne der Westpropaganda vom »Symptom des Niederganges, vom Verfall der mitteldeutschen Kultur« und davon, dass kein persönlicher Einsatz den Strudel des Verfalls aufhalten könne.
Abschließend bittet Dr. Dittrich in seinem Brief, an verschiedene aufgeführte leitende Mitarbeiter des Leipziger Zoos Grüße auszurichten und gibt »der Hoffnung Ausdruck, Dr. Zukowsky persönlich wiederzusehen, um manche noch offene Frage mündlich klären zu können«.
Zurzeit werden zwischen der Stadtleitung der SED Leipzig, Stadtrat Ernst, Leipzig, Oberreferent Brandt vom Ministerium für Kultur und Prof. Dr. Dathe vom Berliner Tierpark Verhandlungen geführt, um Dr. Dittrich evtl. zur Rückkehr zu bewegen.1