Flucht eines Maschinenbauingenieurs
9. März 1961
Einzel-Information Nr. 138/61 über die Ergebnisse der Überprüfung der von dem Ingenieur Melzer in seinem Brief an den Ministerpräsidenten Genosse Otto Grotewohl dargelegten Gründe seiner Republikflucht
Die Überprüfungen des MfS ergaben, dass es sich bei dem Republikflüchtigen um den Maschinenbauingenieur Karl Melzer, zuletzt wohnhaft in Leipzig N 22, [Straße, Nr.], handelt.
Melzer war seit 1945 in verschiedenen Betrieben als Betriebsleiter bzw. Technischer Leiter und von 1956 bis 1958 im Ministerium für Schwermaschinenbau, Hauptverwaltung V, als Stellvertreter für Technik tätig. Mit der Auflösung der Ministerien im Zusammenhang mit den Maßnahmen zur Vervollkommnung und Vereinfachung des Staatsapparates und der Bildung der VVB Polygraph standen für den Einsatz als Technischer Leiter dieser VVB zwei Kandidaten zur Diskussion. Obwohl Melzer im Gegensatz zum ehemaligen ersten Stellvertreter der Hauptverwaltung V, Genosse Munzert, parteilos war, wurde er von dem damaligen Leiter der Hauptverwaltung Prüfer, und von der Parteileitung aufgrund seiner besseren Fachkenntnisse als Technischer Leiter der VVB Polygraph vorgeschlagen und berufen. Die Berufung erfolgte mit der Einschränkung, dass Melzer diese Funktion so lange ausüben soll (voraussichtlich Mitte 1959), bis der Werkleiter des VEB Planeta, Genosse Groude, diese Stellung übernehmen kann.
In den vorhandenen Personalunterlagen und in den Aussprachen mit den leitenden Mitarbeitern der VVB Polygraph und des VEB Projektierungsbüro wird Melzer als guter Fachmann bezeichnet, der ständig bemüht gewesen sein soll, sein politisches und fachliches Wissen zu erweitern. Von der Parteileitung der VVB wurde Melzer als Parteiloser auch zu wichtigen Produktionsberatungen und Besprechungen eingeladen, die in Auswertung von Beschlüssen und Tagungen der Partei stattfanden. Außerdem nahm er am Parteilehrjahr teil und fungierte in der staatspolitischen Schulung selbst als Lektor. Diese und ähnliche Beispiele beweisen, dass die von Melzer in seinem Brief an den Genossen Grotewohl aufgestellten Behauptungen, als Parteiloser sei er als Mensch zweiter Klasse angesehen worden, nicht zutreffen. Melzer hatte noch als Technischer Direktor der VVB einen Antrag um Aufnahme in die Partei gestellt, dem die Parteileitung und die Grundorganisation der VVB Polygraph am 27.7.1960 zustimmten. Von der Kreisleitung der Partei wurde dieser Antrag aufgrund [schutzwürdige Information] abgelehnt.
Die Kritik des 1. Sekretärs der Bezirksleitung Leipzig, Genosse Fröhlich, an der mangelhaften Leitung der VVB Polygraph im Politbüro hatte eine Überprüfung der Leitung der VVB zur Folge. Dabei wurde u. a. auch beschlossen, den Technischen Leiter Melzer aufgrund seiner organisatorischen Schwächen sowie seines Bestrebens, vieles selbst zu erledigen, dabei aber wenig zu schaffen, von dieser Funktion abzuberufen. Die Notwendigkeit dieser Abberufung wurde Melzer durch den Abteilungsleiter für allgemeinen Maschinenbau der Staatlichen Plankommission in einer Aussprache sachlich begründet. Melzer wurden während dieser Aussprache drei seinen Fähigkeiten entsprechende Funktionen angeboten, wobei er sich für die des Brigadeleiters der Gruppe Maschinenbau des VEB Projektierungsbüro Polygraph Leipzig entschied. Am 31.8.1960 wurde Melzer von seinem ehemaligen Mitarbeiterkreis in Ehren verabschiedet.
Als Technischer Leiter der VVB hatte Melzer einen Bruttoverdienst von 1 610 DM.
In seiner Funktion als Brigadeleiter im VEB Projektierung erhielt er 1 420 DM und 8 % Treueprämie. Außerdem erhielt er bereits in den ersten zwei Monaten seiner Tätigkeit als Brigadeleiter 600 DM Prämie, sodass in diesem Zeitraum keine finanzielle Verschlechterung bei ihm eintrat.
Der Einzelvertrag, den Melzer als Technischer Leiter der VVB hatte, wurde nach seiner Abberufung lt. »Verfügung und Mitteilung Nr. 4 der Staatlichen Plankommission vom 29.2.1960« wirkungslos. Diese Verfügung hat nach Einschätzung des Parteisekretärs der VVB, Genosse Heurich, zu allgemeinen Protesten, zur Unzufriedenheit unter Angehörigen der technischen Intelligenz und Ablehnung von Berufungen geführt, da mit einer Abberufung alle arbeitsrechtlichen Vergünstigungen erlöschen.
Mit Melzer wurde durch den VEB Projektierungsbüro kein Einzelvertrag abgeschlossen, obwohl im Einstellungsbescheid festgelegt war, dass die Gehaltssumme von 1 420 DM und die 8 % Treueprämie Gegenstand eines Einzelvertrages sein sollten. In seinem Brief an den Genossen Grotewohl bezeichnet Melzer diese Tatsache als Vertragsbruch. Den Nichtabschluss eines Einzelvertrages mit Melzer begründet der Stellvertreter des Leiters des VEB Projektierung, Genosse Buschmann, damit, dass lediglich der Leiter dieses Betriebes einen Einzelvertrag habe und bei Abschluss eines solchen Vertrages mit Melzer auch die anderen Angehörigen der Intelligenz berechtigt diese Forderung hätten stellen können.
Andererseits wurden aber wesentliche Teile des alten Einzelvertrages, z. B. Gehaltsfestsetzung, Altersversorgung, Gewährung von vier Wochen Urlaub u. a. vom VEB Projektierung bereits verwirklicht, sodass nur besondere vertragliche Festlegungen über den Arbeitsplatz und die Arbeitsbedingungen fehlten.
Der tatsächliche Grund der Republikflucht des Melzer dürfte daher darin begründet liegen, dass Melzer in seiner neuen Tätigkeit als Brigadeleiter zwar bestehende Schwierigkeiten erkannte, ihnen jedoch aufgrund seiner Schwächen in organisatorischen Fragen die Dinge über den Kopf gewachsen sind. Außerdem hatte Melzer Schwierigkeiten in der Anleitung seiner Mitarbeiter, was dazu führte, dass sich diese an dessen damaligen Stellvertreter, Genosse Pfuhl, wandten und sich dort über die unpersönliche und administrative Art von Melzer beschwerten.
Die ihm wiederholt angebotene Hilfe, u. a. auch vom Genossen Pfuhl, lehnte Melzer ab, da er in jeder Beziehung sehr verschlossen war und nach Meinung leitender Genossen vom VEB Projektierung auch seine Schwächen nicht eingestehen wollte. So kam es u. a. zu mehreren Auseinandersetzungen mit Melzer, da die unter seiner Leitung erfolgte Projektierung für die geplante Betriebserweiterung des VEB Plamag/Plauen nicht den Erfordernissen und den gestellten Terminen entsprach, sondern entgegen den Versicherungen des Melzer gegenüber dem Leiter des VEB Projektierung, Genosse Riedel, sehr lückenhaft war.
Außerdem wurde durch Melzer der vom VEB Plamag/Plauen angeforderte Transport-Ingenieur [Name] mit falschen Begründungen in Leipzig zurückgehalten. Da diese Arbeitsweise die Realisierung der Termine gefährdete, sollte im Beisein von Melzer am 7.2.1961 eine Besprechung im VEB Plamag stattfinden. Dieser Aussprache hat sich jedoch Melzer durch seine Flucht entzogen. Ähnliche Beispiele der Arbeitsweise des Melzer, die zur Gefährdung von Terminen führten, wurden auch nach seinem Abgang im Bereich der VVB Polygraph noch festgestellt.
Die Besichtigung der Wohnung des Melzer nach dessen Republikflucht durch die Volkspolizei ergab, dass die Flucht nicht auf einen plötzlichen Entschluss zurückzuführen ist, sondern schon länger vorbereitet sein musste. [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.]
Die von Melzer in seinem Brief an den Genossen Grotewohl erhobenen Anschuldigungen, der Parteisekretär der VVB Polygraph, Genosse Heurig, sei nur auf pünktlichen Feierabend und persönliche Vorteile bedacht, trifft nach den Ermittlungen zu. Mit dem Genossen Heurig fand deshalb bereits eine Aussprache vor der Bezirksleitung der Partei in Leipzig statt. Diesen Schwächen steht jedoch das Bestreben des Genossen Heurig entgegen, die Politik der Partei in der VVB durchzusetzen.
Zusammenfassend ergibt sich, dass Melzer offensichtlich mit den in seinem Aufgabengebiet vorhandenen Schwierigkeiten nicht fertig wurde und eine nochmalige Abberufung befürchtete, was auch der tatsächliche Grund seiner Flucht sein dürfte. Die mit ihm in sachlicher Form geführten kritischen Aussprachen wurden von ihm zwar formal anerkannt, jedoch ungenügend berücksichtigt. Aufgrund seiner Charaktereigenschaften, seine Schwächen nicht zuzugeben, hat er die mehrmals angebotene Hilfe nicht in Anspruch genommen.
Es wurden bereits Möglichkeiten beraten, den Melzer zur Rückkehr in die DDR zu bewegen, ohne dass er jedoch daraus unberechtigte Forderungen ableiten kann.