Flucht eines (Technischen) Direktors aus Thale
23. Mai 1961
Einzel-Information Nr. 253/61 über die Republikflucht des Technischen Direktors vom VEB Eisenhüttenwerk Thale
Wie berichtet wird, hat der Technische Direktor des VEB Eisenhüttenwerk Thale, Borinsky, am 18.5.1961 illegal die DDR verlassen.
B. fuhr im Auftrage der Werkleitung bereits am 17.5.1961 nach Berlin, wo er gemeinsam mit dem Leiter der Technischen Arbeitsnormung, dem Leiter der Investabteilung und der Technologie an einer Verhandlung über Projektierungs- und Investitionsfragen im VEB Metallurgie-Projektierung (Mepro) Berlin teilnahm.
Am 18.5.1961 fand beim Direktor der VVB Stahl- und Walzwerke, Kempny, eine Planbesprechung statt, an der Borinsky ebenfalls teilnehmen sollte. B. fuhr gemeinsam mit den anderen Personen vom Sporthotel in der Reinhardtstraße, wo sie übernachtet hatten, zum Sitz der VVB. Hier stieg er zunächst mit aus, kam aber unmittelbar darauf wieder zum Wagen zurück und bat den Kraftfahrer zum Bahnhof Friedrichstraße zu fahren, wo seine Ehefrau warte. Gemeinsam mit seiner Ehefrau, die von ihrem Kuraufenthalt aus Neu-Fahrland bei Potsdam gekommen war, ließ sich B. dann zum Ostbahnhof fahren, wo er Platzkarten für den D-Zug nach Olbernhau über Karl-Marx-Stadt beschaffen wollte. Die gleiche Begründung hatte B. den anderen Leitungskräften des Werkes gegenüber abgegeben, mit denen er an der Besprechung teilnehmen sollte. Am Ostbahnhof ließ B. den Kraftfahrer [Name 1] etwa eine halbe Stunde warten. Danach kam er zum Wagen zurück, holte seinen Koffer und seine Aktentasche und beauftragte den Fahrer zur VVB zurückzufahren und erst gegen 13.30 Uhr wieder am Ostbahnhof zu sein, um ihn abzuholen. B. erklärte dem Fahrer, bis zur Abfahrt des Zuges bei seiner Frau bleiben zu wollen.
Als B. zur vereinbarten Zeit nicht an der vereinbarten Stelle eintraf, suchte der Fahrer zweimal die Mitropa-Gaststätte ab, in der Annahme, B. dort zu treffen, jedoch ohne Erfolg. Nachdem der Fahrer noch bis 15.00 Uhr gewartet hatte und B. trotzdem nicht erschien, fuhr er zur VVB und meldete diesen Vorfall dem Direktor Kempny. In der Annahme, dass B. seine Ehefrau aus gesundheitlichen Gründen plötzlich begleiten musste, wurde durch den Direktor Kempny davon Abstand genommen, sofort die Eltern des B., bei denen sich das Kind von B. aufhielt, anzurufen. Den Auftrag, Nachfragen in Olbernhau anzustellen, erhielt der Werkleiter Genosse Gehrke. Diese Nachfragen ergaben, dass die Mutter der B. mit dem Kind nach Thale gefahren war, um es zu den Eltern zurückzubringen. Da die Mutter in Thale nicht eintraf, muss angenommen werden, dass sie das Kind nach Berlin brachte und dass sie alle gemeinsam mit Borinsky die DDR verließen.
Wie die Ermittlungen über evtl. Gründe für die Republikflucht des B. ergaben, ist dieser vor ca. drei Wochen von seiner schon länger republikflüchtigen Schwester in Thale besucht und möglicherweise dabei zur Flucht beeinflusst worden. Zeugen haben wahrgenommen, dass die Schwester und die gleichfalls anwesenden Eltern bei der Abreise auffallend viel Gepäck mitgenommen haben. Die durchgeführte Wohnungsbesichtigung erhärtet den Verdacht einer vorbereiteten Flucht, da neben dem Fernsehapparat die gesamte Leib- und Bettwäsche, die gute Oberbekleidung und eine komplette Amateurfotoausrüstung in der Wohnung fehlten. Außerdem hat B. bis auf kleinere Beträge alle seine Sparkonten abgehoben.
Außerdem besteht die Möglichkeit, dass B. von der Firma Industrie für Import-Export, Düsseldorf oder von der Firma Steinmetz und Schleifenbaum, Siegen abgeworben wurde. Mit beiden Firmen verhandelte B. im Februar 1961. Da er bei dieser Dienstfahrt gleichzeitig feststellen sollte, weshalb der zu seinen Eltern nach Schneppenhausen in Urlaub gefahrene Hauptmechaniker [Name 2] vom VEB Eisenhüttenwerk Thale seinen Urlaub überschritten hatte, wurden B. und der Kraftfahrer [Name 3] am 22.2.1961 in Gießen festgenommen und der Vorbereitung des »Menschenraubes« beschuldigt. [Name 2] hatte sich inzwischen im Flüchtlingslager Gießen als Flüchtling gemeldet. Die Festnahme erfolgte während des Gespräches mit [Name 2] vor dem Flüchtlingslager Gießen. Am 28.2.1961 wurden sowohl B. als auch [Name 3] wieder freigelassen.