Flucht von Medizinern
13. Dezember 1961
Einzel-Information Nr. 777/61 über die Republikflucht einiger Angehöriger der medizinischen Intelligenz
Am 22.11.1961 verließ Prof. Dr. Sperling, Leiter der orthopädischen Universitätsklinik der Charité Berlin und konsiliarisch im Regierungskrankenhaus tätig gewesen, das demokratische Berlin.
Er führte in der Vergangenheit zahlreiche Reisen ins kapitalistische Ausland, nach Westdeutschland aber auch in die Staaten des sozialistischen Lagers durch, besonders durch seine Tätigkeit als Sportarzt z. B. für die Jugendfußball-Nationalmannschaft. U. a. weilte er 1957 in Madrid und nahm vom 26.8. bis 28.9.1960 an dem Kongress für Orthopädie in New York teil.
1959 wurde Prof. Sperling von dem Agenten des amerikanischen Geheimdienstes, Dr. [Name 1], angeschrieben und zu einem Treff nach Westberlin bestellt. Die Überprüfungen ergaben jedoch, dass Sperling keinen Kontakt zum amerikanischen Geheimdienst aufgenommen hat.
Er verurteilte in der Vergangenheit die R-Flucht von Angehörigen der medizinischen. Intelligenz und führte zum Beweis an, dass er schon mehrere z. T. leitende Stellen in Westdeutschland angeboten bekommen aber abgeschlagen habe. Er behandelte eine Reihe führender Funktionäre und zahlreiche Spitzensportler und legte nach außen hin eine mehr oder weniger loyale Einstellung zur DDR an den Tag. In letzter Zeit wurden jedoch einige negative Äußerungen Sperlings bekannt, die vermutlich mit seinem Entschluss zur Flucht in Zusammenhang stehen. U. a. äußerte er: Es sei ihm in der DDR unmöglich, wissenschaftlich zu arbeiten, weil er zu viel Verwaltungsarbeiten erledigen müsse. Aus diesem Grunde habe er auch keine Zeit, sein Lehrbuch zu veröffentlichen, an dem er schon seit Jahren arbeite. Er würde solange in der DDR bleiben, solange er nicht in seelische Konflikte gebracht würde.
Wenige Tage vor seiner Flucht diskutierte Sperling gegenüber der Frau des Genossen Selbmann, die sich in seiner Klinik zur Behandlung befand, in äußerst negativer Form.
Er erklärte u. a. auch: »Ich werde es euch beweisen. Auch eure Maschinengewehre halten mich nicht mehr.« Diese eindeutigen Hinweise auf eine R-Flucht teilte zwar Frau Selbmann1 ihrem Manne mit, der sie aber als Geschwätz einschätzte und die Sicherheitsorgane nicht informierte. (Es handelt sich dabei um den Genossen Fritz Selbmann2)
Die Flucht selbst war für Sperling möglich, weil er einen Berechtigungsschein zum Betreten Westberlins besaß. Sperling war bis 21.11. in der Universitätsklinik und bat für 22. bis 25.11. um Urlaub, angeblich um nach Halle bzw. in den Harz zu fahren. Vom Westberliner Zentralflughafen schickte er brieflich seinen Berechtigungsschein B Nr. 185 an die Universitätsklinik zurück.
Republikflüchtig wurden ferner folgende leitende Angehörige der medizinischen Intelligenz:
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Die Chefärztin und ärztliche Direktorin im Krankenhaus Buch, Dr. med. hab. Pröscher geboren Ulimenko, Halina am 27.11.1961.
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Der Chefarzt der gynäkologischen Abteilung des Oscar-Ziethen-Krankenhauses, Dr. Friedrich Wolter, vermutlich am 12.11.1961.
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Der Oberarzt in der Frauenklinik der Charité, Dr. Max Pankow, vermutlich am 26.11.1961.
Bei diesen Personen konnten die unmittelbaren Anlässe und der Fluchtweg noch nicht genau ermittelt werden. Es gibt jedoch Hinweise, die den begründeten Verdacht aufkommen lassen, dass die Flucht mittels ausländischer Pässe und mithilfe des Gegners organisiert und bewerkstelligt wurde.
Die Chefärztin Pröscher, Schwiegertochter der Volkskammerabgeordneten Hermine Schirmer-Pröscher3, 1943 von den Faschisten aus der Sowjetunion verschleppt und 1945 hier geheiratet, war sehr eng mit ihrem Oberarzt Dr. med. Alexander v. Lutzki aus Westberlin befreundet, der mit dem Zeitpunkt der Flucht der P. ebenfalls gekündigt hat. Die Pröscher orientierte sich in jeder Beziehung stark nach dem Westen und führte in vertrautem Kreise eine Reihe negativer Diskussionen, während sie übergeordneten Stellen und Personen ihre wahre Einstellung nicht erkennen ließ (z. B. am 17. Juni 1953, während des konterrevolutionären Putsches in Ungarn, am 13. August).
Der ebenfalls republikflüchtige [Name 2], Anstaltspfarrer im Hufeland- und Städtischen Krankenhaus, erklärte vor seiner am 18.11.1961 erfolgten Flucht seinem Kollegen [Name 3], Pfarrer im Dr. Heim- und im Ludwig-Hoffmann-Krankenhaus, dass er vor kurzer Zeit angeblich von Mitarbeitern der Staatssicherheit unter mysteriösen Umständen angesprochen und mit der Beobachtung der Pröscher beauftragt worden sei. Er habe dies jedoch der Pröscher mitgeteilt.
Diese angebliche Kontaktaufnahme entspricht jedoch in keiner Weise den Tatsachen und es ist offensichtlich, dass hier eine feindliche Handlung vorliegt. Außer Prof. Dr. Sperling hatten keine der anderen genannten Personen Berechtigungsscheine zum Betreten Westberlins.