Flucht von Mitarbeitern des Staatsapparats
28. April 1961
Einzel-Information Nr. 221/61 über die Republikflucht von Mitarbeitern aus dem Staatsapparat
Mit dem nachstehenden Bericht kann aufgrund des bis jetzt vorliegenden Materials nur unvollkommen auf einige Schwerpunkte der R-Flucht von Mitarbeitern aus dem Staatsapparat und auf typische Ursachen und Anlässe, die zur R-Flucht dieser Mitarbeiter führten, hingewiesen werden. Umfassendes konkretes Zahlenmaterial liegt nicht vor.
In internen Aufstellungen der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik über die Republikfluchtbewegung wurden im Januar dieses Jahres 200 und im Februar 92 Mitarbeiter aus dem Staatsapparat erfasst. (Die R-Fluchten aus dem Staatsapparat werden erstmals seit Januar dieses Jahres statistisch gesondert erfasst.)
Wenn diese Zahlen von zwei Monaten auch noch keinen Überblick erlauben und keine Vergleiche zulassen, muss doch darauf hingewiesen werden, dass von den im Januar und Februar erfassten 292 Mitarbeitern aus dem Staatsapparat allein aus dem demokratischen Berlin 99, aus dem Bezirk Potsdam 34 und aus dem Bezirk Magdeburg 22 republikflüchtig wurden.
Die Zahlen von diesen beiden Monaten aus den übrigen Bezirken schwanken zwischen 5 (Schwerin) und 17 (Halle und Karl-Marx-Stadt). Aus der internen Übersicht der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik geht allerdings nicht hervor, welche staatlichen Organe im Einzelnen unter der Rubrik Staatsapparat erfasst sind.
In diesem Zusammenhang verdient auch Beachtung, dass nach einer internen Übersicht der HVDVP von den insgesamt erfassten r-flüchtigen Mitgliedern der SED, der anderen demokratischen Parteien und der FDJ nur ein verhältnismäßig geringer Anteil bei den örtlichen Räten beschäftigt war. Nach dieser Übersicht waren von den in den Monaten Januar bis März 1961 registrierten R-flüchtigen 1 115 Mitglieder der SED, 433 Mitglieder anderer demokratischer Parteien und 2 572 Mitglieder der FDJ ungefähr 50 in den örtlichen Räten beschäftigt.
Neben der erst seit Anfang dieses Jahres erfolgenden gesonderten Registrierung der r-flüchtigen Mitarbeiter des Staatsapparates ist für den ungenügenden Überblick auch die Tatsache bezeichnend, dass die einzelnen Ministerien, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keinen Überblick über die R-Flucht von Mitarbeitern der ihnen nachgeordneten staatlichen Organe haben. Der Überblick über die direkt aus den Ministerien republikflüchtig gewordenen Mitarbeiter ist teilweise ebenfalls noch sehr lückenhaft.
Aus den dem MfS vorliegenden Berichten und Übersichten über die R-Flucht von Mitarbeitern einzelner Ministerien und aus den dem MfS bekannten – allerdings wenigen – Beispielen der R-Flucht von Mitarbeitern der Räte der Bezirke, Räte der Kreise sowie der Städte und Gemeinden geht hervor, dass für die R-Flucht von Mitarbeitern des Staatsapparates im Wesentlichen die gleichen Ursachen und Anlässe zutreffen, wie sie bei der R-Flucht im Allgemeinen festgestellt werden. Die Mehrzahl der R-Fluchten von Mitarbeitern des Staatsapparates ist hinsichtlich der Ursachen darauf zurückzuführen, dass die bewusstseinsmäßige Entwicklung dieser Mitarbeiter nicht mit der Entwicklung in der DDR Schritt hält und verschiedene Mitarbeiter in starken kleinbürgerlichen und religiösen Auffassungen verharren. Hinzu kommt die starke feindliche ideologisch-politische Beeinflussung, begünstigt durch die zum Teil ungenügende politisch-ideologische Erziehungsarbeit.
In diesem Zusammenhang muss jedoch besonders hervorgehoben werden, dass Mitarbeiter des Staatsapparates viel häufiger, als dies im Allgemeinen festzustellen ist, sich der Verantwortung für begangene Fehler sowie für moralische und kriminelle Vergehen durch ihre R-Flucht zu entziehen versuchen. So wurde z. B. der Hauptreferent aus dem Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel [Name 1] republikflüchtig, weil er sich vor den Folgen eines Verfahrens fürchtete, das gegen ihn aufgrund der Festnahme seiner Ehefrau durch das AZKW durchgeführt werden sollte. Im Ministerium der Finanzen verließen drei von insgesamt acht im Jahre 1960 r-flüchtig gewordenen Mitarbeitern die DDR, weil sie sich wegen negativer politischer Einstellung bzw. wegen moralischer Vergehen verantworten sollten. Der Oberreferent in der DDR-Botschaft in Prag, [Name 2], nutzte einen Urlaub aus, um r-flüchtig zu werden. Er sollte sich verantworten, weil er auf eine nicht reelle Art und Weise von einem jugoslawischen Bürger ein Auto kaufte. Der stellv. Abteilungsleiter der Plankommission beim Rat des Kreises Pößneck [Name 3] verließ die Republik, weil er wegen Korruption und unmoralischen Verhaltens hart kritisiert wurde.
Verhältnismäßig viel R-Fluchten sind im Bereich des Ministeriums der Justiz zu verzeichnen. Gegenüber 59 R-Fluchten im Jahre 1958 und 43 im Jahre 1959 wurden 1960 63 R-Fluchten festgestellt (1950–1960 insgesamt 802), davon sieben Mitglieder der SED und neun Mitglieder der anderen demokratischen Parteien. Von diesen 63 R-Flüchtigen waren neun Richter, sechs Notare, 19 mittlere Kader und 29 technische Kräfte. Als Schwerpunkte werden Berlin, Dresden und Potsdam genannt. In einem Bericht für das Kollegium des Ministeriums der Justiz wurde festgestellt, dass die Leiter der Justizdienststellen zu wenig erzieherisch auf ihre Mitarbeiter einwirken und dass über Mängel und Schwächen der Einzelnen keine grundsätzlichen und bis zur letzten Klarheit führenden Auseinandersetzungen erfolgen.
Diese Feststellungen treffen größtenteils auch auf die anderen staatlichen Organe zu. Das Gleiche gilt auch für die in dem genannten Bericht angeführten Tatsachen, dass in der Vergangenheit bereits bei der Auswahl der Mitarbeiter die Fragen der Sicherheit und Wachsamkeit, die Einstellung zu unserem Staat, die Verbindungen nach Westberlin und Westdeutschland, die Tätigkeit der nächsten Angehörigen und die Entwicklung der Bewerber nicht immer die genügende Beachtung fanden.
Es kam auch vor, dass, wie z. B. im Falle des Kraftfahrers [Name 4] (Oberste Staatsanwaltschaft), vom MfS vorher gegebene Hinweise und Verdachtsmomente, die auf eine R-Flucht schließen ließen, nicht beachtet wurden. Im Falle der r-flüchtig gewordenen Stenotypistin [Name 5] (Ministerium der Justiz) waren ihre Westverbindungen, ihre regelmäßig in kürzeren Zeitabständen erfolgten Westeinkäufe und ihr unmoralischer Lebenswandel zwar vielen Mitarbeitern bekannt, es wurde aber nichts dagegen unternommen.
Eine nicht genügend intensive operative Tätigkeit zur Verhinderung der R-Flucht trifft offensichtlich auch im Falle des Leiters der Hauptabteilung Heilwesen im Ministerium für Gesundheitswesen Dr. Rudolf Kretschmer zu. Mitarbeiter sagten aus, dass Dr. K. (vorher Chefarzt beim Medizinischen Dienst des Verkehrswesens) mit dem Funktionswechsel nicht zufrieden gewesen sei und sich auch wiederholt beim ZK der SED/Abteilung Verkehr darüber beklagt habe.
Beachtung verdient auch die Tatsache, dass ein wesentlicher Teil der R-Flüchtigen aus den zentralen Organen des Staatsapparates Mitarbeiter vom Hauptsachbearbeiter bis zum Hauptreferenten waren. Im Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel waren es 1960 von neun r-flüchtig gewordenen Mitarbeitern sieben, im Ministerium der Finanzen 1960 vier von acht, im Ministerium für Landwirtschaft, Erfassung und Forstwirtschaft 1960 vier Hauptreferenten von sechs R-Flüchtigen und 1961 bis jetzt drei Hauptreferenten von vier r-flüchtig gewordenen Mitarbeitern, im Ministerium für Bauwesen ebenfalls die Hälfte einschließlich des Fachgebietsleiters Nationalpreisträger Ing. Pröbe.
In diesem Zusammenhang wird auch auf die im Ministerium für Bauwesen und im Ministerium für Handel und Versorgung von inoffiziellen Mitarbeitern allgemein getroffene Feststellung hingewiesen, dass r-flüchtig gewordene Mitarbeiter offensichtlich schon vorher über Westverbindungen verfügten und nach ihrer R-Flucht sofort gut bezahlte Stellungen in Westdeutschland erhielten. Diese Feststellung lässt den Schluss zu, dass bei bestimmten Mitarbeitern eine Abwerbung vorlag und die R-Flucht »planmäßig« erfolgte.
Die bis jetzt bekannten Beispiele lassen auch den Schluss zu, dass das Ansteigen der R-Flucht im Jahre 1960 gegenüber 1959 im Allgemeinen auch auf den Staatsapparat zutrifft. So wurden z. B. in der Staatlichen Plankommission 1960 13 Mitarbeiter r-flüchtig gegenüber acht im Jahre 1959 und im Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel neun gegenüber vier im Jahre 1959.
Offensichtlich wird vom Gegner versucht, in zunehmendem Maße den Staatsapparat der DDR durch seine Hetz- und Wühltätigkeit und durch Abwerbungen wesentlich zu schwächen. In diesem Zusammenhang verdient neben der allgemein bekannten ständigen ideologisch-politischen Beeinflussung auch der Hinweis einer zuverlässigen Quelle Beachtung, wonach sich die Bonner Regierung damit beschäftigen würde, r-flüchtig gewordenen Mitarbeitern aus dem Staatsapparat der DDR bestimmte »Vergünstigungen« zu gewähren. Danach sei man bemüht, eine Regelung zu treffen, nach der Mitarbeiter des Staatsapparates der DDR in Westdeutschland zwar nicht in eine entsprechende Stellung eingebaut werden könnten, aber den 131ern1 gleichgestellt werden und eine entsprechende Bezahlung nach ihrer in der DDR ausgeübten Tätigkeit unter Anrechnung des Dienstalters usw. erhalten sollen.