Grenzvorfälle mit Waffenanwendung (Text für MfAA)
11. Dezember 1961
Einzel-Information Nr. 771/61 über vom britischen Sektor ausgehende Grenzprovokationen an der Staatsgrenze nach Westberlin
Am 9.12.1961 um 19.00 Uhr erschienen an der Hauptstraße in Staaken auf Westberliner Gebiet drei bis vier männliche Personen und eine weibliche Person, näherten sich der Grenzsicherungsanlage und begannen sofort damit, den Drahtzaun zu durchschneiden. Als sich die Grenzverletzer bereits zwischen dem ersten und zweiten Drahtzaun und damit ca. 4 m auf dem Gebiet der DDR befanden, wurden sie von Angehörigen der Grenzsicherungskräfte mit den Worten: »Halt, Deutsche Grenzpolizei!« angerufen. Daraufhin wurde aus der Richtung der Grenzverletzer sofort ein Schuss abgegeben, worauf ein Angehöriger der Grenzsicherungskräfte aus seiner Pistole ebenfalls das Feuer eröffnete. Da die Grenzverletzer weiterhin mehrere Pistolenschüsse abgaben und dabei einen Angehörigen der Grenzsicherungskräfte der DDR durch einen Streif- und Durchschuss erheblich verletzten, wurde das Feuer unsererseits durch Einbeziehung der Grenzsicherungsposten erwidert und, nachdem sich die Provokateure zurückzogen, eingestellt.
Etwa 20 Minuten nach dem Schusswechsel erschienen an der Provokationsstelle zwei Jeeps der englischen Besatzungsmacht, ein VW der Stummpolizei und ein MTW der Stummpolizei.1 Durch das Scheinwerferlicht dieser Fahrzeuge wurde festgestellt, dass eine Person zwischen dem ersten und zweiten Drahtzaun lag. Sie wurde gegen 19.30 Uhr durch die Grenzpolizei geborgen. Es handelt sich dabei um den bei diesem Schusswechsel durch einen Herzschuss getöteten Wohlfahrt, Dieter, geboren am 27.5.1941 in Berlin, wohnhaft: Berlin-Wilmersdorf, [Straße, Nr.], Staatsangehörigkeit: Österreich, ausgewiesen durch den Reisepass Nr. […], Student der Technischen Universität Westberlin, Fachrichtung Chemie.2
Unmittelbar neben der Leiche wurden gefunden und sichergestellt:
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1 Pistole Kal. 6,35 mm, Typ RMF Nr. 8938, 1 Schuss im Lauf, 1 Schuss im Magazin (aus der Waffe ist nachweisbar geschossen worden),
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1 gefülltes Magazin mit 6 Schuss,
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1 Paket Patronen mit 21 Schuss scharfer Munition und 4 Gaspatronen,
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1 Plastikbombe,
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1 Pistolen-Unterschnalltasche,
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1 Pionier-Drahtschere und 1 Beißzange,
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140 DM West und 10 Franken,
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einige Ausweispapiere.
Ca. weitere 20 Minuten nach Erscheinen der schon genannten Polizei- und Militärfahrzeuge auf Westberliner Gebiet, traf ein mit Blaulicht fahrender Unfallwagen ein, in den einige Zivilisten einstiegen und der dann sofort wieder davon fuhr.
Diese Tatsache und die Feststellungen, dass während des Schusswechsels aus der Richtung der Provokateure einige Male gerufen wurde, weist darauf hin, dass Provokateure vermutlich verletzt wurden.
Außer der Verstärkung durch weitere Polizei- und Militärfahrzeuge am Provokationsort, wurden keine weiteren Handlungen des Gegners festgestellt.
Am 10.12.1961, gegen 10.15 Uhr, erschienen an der Provokationsstelle vier Jeeps der englischen Militärpolizei, vier Funkstreifenwagen der Stupo und drei mit Zivilisten besetzte Pkw. 15 Personen stiegen aus, fotografierten die Provokationsstelle und fuhren 10.35 Uhr in Richtung Spandau.
Zu einer weiteren Provokation kam es im Raum Seeburg (Kreis Potsdam). Am 9.12.1961, um 16.15 Uhr, hielten sich am Schmiedeweg (Raum Seeburg) vier Jugendliche im Alter von etwa 17 bis 21 Jahren in unmittelbarer Nähe der Grenzsicherungsanlagen auf und folgten ständig der im Einsatz befindlichen Kontrollstreife unserer Grenzsicherungskräfte. Einen scheinbaren Abzug der Kontrollstreife benutzten die Personen, um sich direkt an die Grenzsicherungsanlage zu begeben und sie zu zerstören. Die unteren drei Drähte der ersten Pfahlreihe sowie drei weitere Drähte, die parallel zur Pfahlreihe in Höhe der S-Rolle innerhalb der Sperre gezogen waren, wurden zerschnitten.
Ein Postenpaar unserer Grenzsicherungskräfte verfolgte sofort die sich entlang der Drahtsperre entfernenden Personen und forderte sie durch Anruf zum Stehenbleiben auf. Da die Personen daraufhin weiter in Richtung entlang der Drahtsperre flüchteten, erfolgte die Abgabe von Warnschüssen. Aus diesem Grunde gingen die Personen in Deckung. Unsere Kontrollstreife überschritt während dieser Vorgänge die Drahtsperre an der zerstörten Stelle und verfolgte weiterhin auf DDR-Gebiet die Personen in dem Raum zwischen der vor Jahren errichteten alten und der nach dem 13.8.1961 neu gebauten Drahtsperre.
In Höhe eines etwa 100 m von der Provokationsstelle entfernten Akazienwäldchens unternahmen zwei dieser Jugendlichen einen erneuten Fluchtversuch. Daraufhin wurden von unseren Posten kurze Feuerstöße abgegeben. Von einem der Jugendlichen wurde das Feuer mit drei bis fünf Schuss aus Pistole erwidert. Unsere Grenzposten gaben deshalb erneut Schüsse ab und forderten die Jugendlichen abermals auf, sich zu ergeben.
Dieser Aufforderung kam ein Jugendlicher nach. Nach seiner Festnahme begab sich ein Postenführer unserer Grenzsicherungskräfte vor die Reste der alten Drahtsperre, um nach einem zweiten Jugendlichen zu sehen, der am Boden verblieben war. Dabei wurde festgestellt, dass dieser durch mehrere Schüsse verletzt worden war. Die beiden anderen Jugendlichen konnten unerkannt entkommen und sind im westlichen Hinterland mit zwei weiteren Personen, die bis dahin nicht in Erscheinung getreten waren, zusammengetroffen.
Bei dem Verletzten handelt es sich um den [Name 2]3, geboren am [Tag, Monat] 1942 in Berlin, wohnhaft: Bln. N 65, [Straße, Nr.], Student der Technischen Universität Westberlin, und bei dem Festgenommenen handelt es sich um den [Name 3]4, geboren am [Tag, Monat] 1944 in Baden bei Wien, wohnhaft: Bln. NW 21, [Straße, Nr.], Lehrling im 2. Lehrjahr bei Siemens & Halske.
Bei der Festnahme wurde ein feststehender Dolch mit dem Zeichen des sog. »Bund Deutsche Ostjugend« aufgefunden und bei der am 10.12.1961 um 8.30 Uhr erfolgten Besichtigung des Festnahmeortes wurde auch die Pistole »FN lang« Nr. 20585 Kal. 7,65 sichergestellt, in der noch Pulverreste zu erkennen waren. Ferner wurde eine Patronenhülse gleichen Kalibers gefunden. Die Pistole war in einem einwandfreien und gepflegten Zustand. Vier Patronen befanden sich im Magazin, eine Patrone im Lauf.
Nach dem Vorkommnis erschienen auf westlicher Seite etwa acht bis elf uniformierte Personen, die teils als Bereitschaftspolizisten und teils als Angehörige der britischen Besatzungsmacht identifiziert werden konnten. Das Hauptinteresse dieser Personen erstreckte sich ausschließlich auf die Provokationsstelle, die von ihnen intensiv abgeleuchtet wurde.
Auch an dieser Provokationsstelle erschienen am 10.12.1961 gegen 9.20 Uhr ein Jeep der englischen Besatzungstruppen mit zwei Engländern, ein Überfallwagen mit zwei Stupos und ein Pkw mit drei Zivilisten. Die Insassen machten Fotoaufnahmen und fuhren gegen 10.10 Uhr wieder zurück.
Der festgenommene [Name 3] machte über die Organisierung und die Ziele dieser Provokation folgende Angaben:
Die Provokation wurde bereits vor drei Wochen in dem Lokal »Okay« am Bahnhof Zoo von dem [Name 4] genannt [Pseudonym 1]5, wohnhaft: Berlin-Spandau, [Straße, Nr.] geplant. [Name 4] ist bei der von dem britischen Major Sanders geleiteten und in der Smuts-Kaserne in Berlin-Spandau untergebrachten »German Service Organisation« (GSO) beschäftigt und hat bereits vor kurzer Zeit zusammen mit dem [Name 2] in organisierter Form in Nähe der Carolinenhöhe/Staaken die Grenzsicherungsanlagen zerstört. Am 3.12.1961 begaben sich [Name 4], [Name 2] und [Name 3] erneut an die Grenze, um neue Provokationsmöglichkeiten zu erkunden und die bereits von ihnen zerstörte, inzwischen aber wieder in Ordnung gebrachte, Grenzsicherung bei Carolinenhöhe zu besichtigen.
An diesem 3.12. wurde auch der konkrete Termin (9.12.1961) für die nächste Provokation festgelegt. An diesem Tage trafen sich [Name 3], [Name 2] und ein weiterer namentlich nicht bekannter Jugendlicher, genannt »[Pseudonym 2]«, mit [Name 4] und begaben sich ins Grenzgebiet. [Name 4] und »[Pseudonym 2]« waren mit Pistolen bewaffnet. Als Ziel der Grenzprovokation wurde festgelegt, gewaltsam in das Gebiet der DDR einzudringen und Grenzposten der DDR, die sich in einem in der Nähe der Grenzbefestigungen befindlichen unterirdischen Beobachtungsbunker aufhielten, zu überfallen und zu entwaffnen. Ferner plante man, die an der Staatsgrenze patrouillierenden Grenzposten gewaltsam nach Westberlin zu verschleppen.
Dem [Name 3] wurde von [Name 4] versprochen, dass er nach Durchführung der Provokation ebenfalls eine Pistole erhalten werde. Bereits einige Tage vorher nahm [Name 4] den [Name 3] mit auf einen Schießplatz in Ruhleben, der von den englischen Besatzern benutzt wird, und übte mit ihm Pistolenschießen.
Am 30.10.1961 wurden von den Grenzposten der Deutschen Volkspolizei die im britischen Sektor Westberlins wohnenden [Name 5], geboren am [Tag, Monat] 1935, wohnhaft in Berlin-Charlottenburg, [Straße, Nr.], zuletzt Student an der sog. Freien Universität und [Name 6], geboren am [Tag, Monat] 1936, wohnhaft in Berlin-Tiergarten, [Straße, Nr.], zuletzt Baumaschinist bei der Fa. [Firmenname] in Berlin-Reinickendorf festgenommen. Sie hatten die Grenzsicherungsanlagen an der Durchbruchstelle zerstört und wurden auf dem Territorium der DDR bei Klein-Ziethen gestellt. Eine dritte beteiligte Person aus Westberlin konnte sich der Festnahme entziehen.
Nach dem bisherigen Untersuchungsergebnis wurde von den genannten Westberliner Personen das Ziel verfolgt, Angehörige der Grenzsicherungskräfte der DDR zu überfallen, kampfunfähig zu machen und sich in den Besitz ihrer Waffen und Uniformen zu setzen. Nach Aussagen der festgenommenen Personen war beabsichtigt, diese Uniformen und Waffen für einen weiteren Grenzdurchbruch bei Kleinmachnow zu benutzen, dessen Zweck die gewaltsame Entführung eines Angehörigen der Betriebskampfgruppen sein sollte.
Die verhafteten Personen führten zu diesem Zweck eine Pistole Modell 08, Kal. 9 mm mit neun Schuss Munition und eine großkalibrige Gaspistole mit sechs Schuss Gasmunition sowie Spezialwerkzeuge zum Durchschneiden der Sicherungsanlagen und Betäubungsmittel bei sich.
Die Einzelheiten zur Vorbereitung und Organisierung des Grenzdurchbruchs wurden in mehreren Zusammenkünften im britischen Sektor festgelegt. Zur praktischen Durchführung der Provokation wurde jedoch der amerikanische Sektor Westberlins bevorzugt.
Im Verantwortungsbereich der englischen Besatzungsmacht in Westberlin kam es aber auch durch Westberliner Polizeikräfte zu wiederholten Grenzprovokationen. Z. B. beschädigten Westberliner Bereitschafts- und Stumm-Polizisten in einer größeren Anzahl von Fällen unsere Grenzsicherungseinrichtungen, verletzten provokatorisch das Territorium der DDR und bedrohten unsere Sicherungskräfte; u. a. an der Kronprinzenbrücke, Reinhardtstr. und am Brandenburger Tor.
Am 24.11.1961 brachen Westberliner Bereitschaftspolizisten an der Kronprinzenbrücke mit Spezialwerkzeugen Steine aus der Sicherungsmauer, bedrohten die dort diensttuenden Grenzsicherungskräfte der DDR und bewarfen sie mit Steinen. Am 3.12.1961, 18.50 Uhr, wurden die Grenzsicherungsanlagen an der Reinhardtstr. durch die Besatzung eines Überfallwagens der Stupo beschädigt.
Zu ähnlichen Provokationen kam es auch wiederholt am Brandenburger Tor. So wurden z. B. am 21.11.1961 durch Stummpolizisten unsere Grenzsicherungseinrichtungen am Brandenburger Tor erheblich beschädigt. Am 7.12.1961 überschritten am Brandenburger Tor durch den beschädigten Teil der Grenzmauer zwei Stupos die Staatsgrenze der DDR und zogen sich erst nach Annäherung der Sicherungskräfte auf Westberliner Gebiet zurück.
In diesem Zusammenhang müssen aber auch provokatorische Verletzungen des Territoriums der DDR durch Angehörige der englischen Besatzungsmacht in Westberlin gesehen werden. Besonders am KPP Invalidenstraße kam es wiederholt zu provokatorischen Handlungen durch Angehörige der englischen Besatzungsmacht, indem diese unsere Grenze verletzten und bewaffnet – z. T. mit Militärfahrzeugen – bis zu 10 m in das demokratische Berlin eindrangen.
Auch an anderen Stellen der Staatsgrenze, so u. a. auf dem Verbindungsweg nach der Enklave Eiskeller, wurde das Territorium der DDR durch englische Besatzungsangehörige in provokatorischer Absicht verletzt.