Grenzvorfälle mit Waffenanwendung (Text für SED)
10. Dezember 1961
Einzel-Information Nr. 769/61 über Grenzprovokationen an der Staatsgrenze nach Westberlin am 9.12.1961
In den frühen Abendstunden des 9.12.1961 meldete die [Name 1], geboren am [Tag, Monat] 1912 in Spandau, wohnhaft: Staaken, [Straße, Nr.], tätig beim Rat der Gemeinde Staaken, Mitglied der SED, dem Kommandeur der 2. Grenzabteilung der 2. Grenzbereitschaft, Genosse Oberleutnant Wittkowski in seiner Wohnung, dass sie am gleichen Tage von ihrer am 21.10.1961 nach Westberlin geflüchteten 17-jährigen Tochter [Vorname] brieflich aufgefordert wurde, am 9.12.1961 um 19.00 Uhr an der Grenze nach Westberlin in Staaken, Hauptstraße zu erscheinen und alle Papiere mitzubringen. Die Tochter wollte zur gleichen Stelle bzw. Zeit auf der Westberliner Seite erscheinen und sich durch Blinkzeichen mit einer Taschenlampe bemerkbar machen. Da Frau [Name 1] aus dem Inhalt dieses Briefes schloss, dass sie nach Westberlin geschleust werden sollte, eine Republikflucht aber ablehnte und auch schon versucht hatte, ihre Tochter zur Rückkehr in die DDR zu bewegen, schlug sie vor, bei dieser Gelegenheit nochmals persönlich zu versuchen, die Tochter zur Rückkehr in die DDR zu veranlassen.
Da es sich offensichtlich um eine von westlicher Seite vorbereitete Provokation handelte, wurde die zusätzliche Sicherung dieses betreffenden Grenzabschnittes veranlasst und Oltn. Wittkowski begab sich zusammen mit dem Kompanieführer Oberleutnant Gabriel, und der Frau [Name 1] gegen 19.00 Uhr zur vorgeschlagenen Treffstelle, wo Frau [Name 1] unmittelbar an den Grenzzaun herantrat.
Kurze Zeit nach Eintreffen an der Treffstelle erschienen auf Westberliner Gebiet drei bis vier männliche und eine weibliche Person und näherten sich der angegebenen Stelle, wo sie mit zwei Taschenlampen unmittelbar am Zaun blinkten.
Nachdem die noch auf Westberliner Gebiet befindlichen Personen die [Name 1] zur Ruhe ermahnten, begannen sie sofort damit, den Drahtzaun zu durchschneiden. Als sich die Grenzverletzer bereits zwischen dem ersten und zweiten Drahtzaun und damit ca. 4 m auf dem Gebiet der DDR befanden, wurden sie von Genosse Wittkowski und Genosse Gabriel mit den Worten: »Halt, Deutsche Grenzpolizei!« angerufen. Daraufhin wurde aus der Richtung der Grenzverletzer sofort ein Schuss abgegeben, worauf Genosse Wittkowski aus seiner Pistole ebenfalls das Feuer eröffnete. Da die Grenzverletzer weiterhin mehrere Pistolenschüsse abgaben, und dabei Genosse Wittkowski durch einen Streif- und Durchschuss am Oberschenkel verletzten, wurde das Feuer unsererseits durch Einbeziehung der Grenzsicherungsposten und des Genossen Gabriel verstärkt und eingestellt, nachdem sich die Provokateure zurückzogen.
Etwa 20 Minuten nach dem Schusswechsel erschienen an der Provokationsstelle zwei Jeeps der englischen Besatzungsmacht, ein VW der Stummpolizei und ein MTW der Stummpolizei.1 Durch das Scheinwerferlicht dieser Fahrzeuge wurde festgestellt, dass eine Person zwischen dem ersten und zweiten Drahtzaun lag. Sie wurde gegen 19.30 Uhr durch die Grenzpolizei geborgen. Es handelt sich dabei um den bei diesem Schusswechsel durch einen Herzschuss getöteten Wohlfahrt, Dieter, geboren am 27.5.1941 in Berlin, wohnhaft: Berlin-Wilmersdorf, [Straße, Nr.], Staatsangehörigkeit: Österreich, ausgewiesen durch den Reisepass Nr. […], Student der Technischen Universität Westberlin, Fachrichtung Chemie.2
Unmittelbar neben der Leiche wurden gefunden und sichergestellt:
- –
1 Pistole Kal. 6,35 mm, Typ RMF Nr. 8938, 1 Schuss im Lauf, 1 Schuss im Magazin (aus der Waffe ist nachweisbar geschossen worden),
- –
1 gefülltes Magazin mit 6 Schuss,
- –
1 Paket Patronen mit 21 Schuss scharfer Munition und 4 Gaspatronen,
- –
1 Plastikbombe,
- –
1 Pistolen-Unterschnalltasche,
- –
1 Pionier-Drahtschere und 1 Beißzange,
- –
140 DM West und 10 Franken,
- –
einige Ausweispapiere.
Ca. weitere 20 Minuten nach Erscheinen der schon genannten Polizei- und Militärfahrzeuge auf Westberliner Gebiet, traf ein mit Blaulicht fahrender Unfallwagen ein, in den einige Zivilisten einstiegen und der dann sofort wieder davon fuhr. Diese Tatsache und die Feststellungen, dass während des Schusswechsels aus der Richtung der Provokateure einige Male gerufen wurde, weist darauf hin, dass Provokateure vermutlich verletzt wurden.
Außer der Verstärkung durch weitere Polizei- und Militärfahrzeuge am Provokationsort, wurden keine weiteren Handlungen des Gegners festgestellt.
Zu einer weiteren Provokation kam es im Raum Seeburg (Kreis Potsdam). Am 9.12.1961 um 16.15 Uhr wurden am Schmiedeweg (Raum Seeburg) vier Jugendliche im Alter von etwa 17 bis 21 Jahren festgestellt, die sich in unmittelbarer Nähe der Grenzsicherungsanlagen aufhielten und der im Einsatz befindlichen Kontrollstreife unserer Grenzsicherungskräfte ständig folgten. Einen scheinbaren Abzug der Kontrollstreife benutzten die Personen, um sich der Grenzsicherungsanlage, die am Schmiedeweg um etwa 1 bis 2 m von der Grenze zurückversetzt wurde, zu nähern. Nachdem von einem Postenpaar unserer Grenzsicherungskräfte zeitweilig nur noch ein Jugendlicher beobachtet werden konnte, da die drei anderen sich in einer Erdvertiefung (Straßeneinschnitt) befinden mussten, wurde von einem unserer Beobachtungsposten kurze Zeit später an dieser Stelle eine Zerstörung der Grenzsicherungsanlage festgestellt. Die unteren drei Drähte der ersten Pfahlreihe sowie drei weitere Drähte, die parallel zur Pfahlreihe in Höhe der S-Rolle innerhalb der Sperre gezogen waren, waren zerschnitten worden.
Ein Postenpaar unserer Grenzsicherungskräfte verfolgte sofort die sich entlang der Drahtsperre entfernenden Personen und forderte sie durch Anruf zum Stehenbleiben auf. Da die Personen daraufhin weiter in Richtung entlang der Drahtsperre flüchteten, erfolgte die Abgabe von Warnschüssen. Aus diesem Grunde gingen die Personen in Deckung. Unsere Kontrollstreife überschritt während dieser Vorgänge die Drahtsperre an der zerstörten Stelle und verfolgte weiterhin die Personen in dem Raum zwischen der vor Jahren errichteten alten und der nach dem 13.8.1961 neu gebauten Drahtsperre.
Die Jugendlichen hatten inzwischen ein etwa 100 m von der Provokationsstelle entferntes Akazienwäldchen erreicht und sich darin versteckt. Unter Androhung des Schusswaffengebrauchs wurden sie darin von unseren Posten in Schach gehalten. Da zwei dieser Jugendlichen einen erneuten Fluchtversuch unternahmen, wurden wiederum kurze Feuerstöße von unseren Posten abgegeben. Von einem der Jugendlichen wurde das Feuer erwidert. (Nach Angaben unserer Posten etwa zwei bis fünf Schuss aus einer kleinkalibrigen Pistole.)
Unsere Grenzposten schossen daraufhin wieder und forderten die Jugendlichen erneut auf, sich zu ergeben.
Dieser Aufforderung kam ein Jugendlicher nach. Nach seiner Festnahme begab sich ein Postenführer unserer Grenzsicherungskräfte vor die Reste der alten Drahtsperre, um nach einem zweiten Jugendlichen zu sehen, der am Boden verblieben war. Dabei wurde festgestellt, dass dieser durch mehrere Schüsse verletzt worden war. Die beiden anderen Jugendlichen konnten unerkannt entkommen und sind im westlichen Hinterland mit zwei weiteren Personen, die bis dahin nicht in Erscheinung getreten waren, zusammengetroffen.
Bei dem Verletzten handelt es sich um den [Name 2], geboren am [Tag, Monat] 1942 in Berlin, wohnhaft: Berlin N 65, [Straße, Nr.], Student der Technischen Universität Westberlin, und bei dem Festgenommenen handelt es sich um den [Name 3], geboren am [Tag, Monat] 1944 in Baden bei Wien, wohnhaft: Berlin NW 21, [Straße, Nr.], Lehrling im 2. Lehrjahr bei Siemens & Halske.
Der Verletzte [Name 2] befindet sich zzt. im Krankenhaus Falkensee. Die Verletzungen erfolgten durch einen Schuss in den rechten Oberbauch ohne Darmverletzung und durch drei Schüsse in die Leistengegend mit Beckentrümmerbruch. Nach Angaben der Ärzte besteht, wenn keine Komplikationen eintreten, keine Lebensgefahr.
Nach dem Vorkommnis erschienen auf westlicher Seite etwa acht bis elf uniformierte Personen, die teils als Bereitschaftspolizisten und teils als Angehörige der britischen Besatzungsmacht identifiziert werden konnten. Das Hauptinteresse dieser Personen erstreckte sich ausschließlich auf die Provokationsstelle, die von ihnen intensiv abgeleuchtet wurde.
Der festgenommene [Name 3] befindet sich zzt. beim MfS und wird vernommen. Er machte bisher folgende Angaben:
In dem Lokal »Okay« am Bahnhof Zoo will er vor ca. drei Wochen eine ungefähr gleichaltrige Person, von der ihm nur der Name [Pseudonym 1] bekannt sein will, kennengelernt haben. Im Laufe der Unterhaltung hätte man sich vereinbart, einmal an die Grenze zu gehen »um zu sehen, was dort los sei«. Nachdem beide bereits am 2.12.1961 am Grenzkontrollpunkt in Staaken waren, beschlossen sie, sich am 9.12.1961 erneut zu treffen, um ein anderes Stück der Grenzsicherungsanlagen anzusehen, und die dort diensttuenden Grenzpolizisten »zu ärgern«. Auf der Fahrt nach Staaken habe »[Pseudonym 1]« dem [Name 3] mitgeteilt, dass sich an der Endstation ihnen noch zwei weitere Personen anschließen würden. Gemeinsam mit diesen Personen wären sie dann entlang der Grenze gegangen und hätten die dortigen Grenzpolizisten verfolgt. [Name 3] habe sich dann von den anderen drei Personen entfernt und danach wäre es zu dem bereits geschilderten Vorfall gekommen. [Name 3] will nicht gewusst haben, dass die übrigen Personen im Besitz von Waffen waren.
Diese Vorkommnisse sind offensichtlich im Zusammenhang mit den jüngsten Erklärungen Brandts und anderer Scharfmacher zu sehen, mit der Forderung nach »Durchlöcherung der Mauer« provokatorische Grenzzwischenfälle zu schaffen. Das wird u. a. durch die Bewaffnung der Provokateure mit Pistolen und der Plastikbombe, die sofortige Eröffnung des Feuers und allgemein durch den gesamten Hergang dieser Vorkommnisse bewiesen.
Unter diesem Gesichtspunkt, dass es sich um organisierte, terroristische Handlungen handelt, wurde nach Absprache mit den Genossen Sindermann3 und Blecha4 von unserer Seite eine entsprechende Presseveröffentlichung vorbereitet.
Weiterhin wird jedoch vorgeschlagen, dass vom Minister des Innern ein Protest über diese bewaffneten Überfälle auf unsere Grenzsicherungskräfte und über die organisierte Zerstörung der Grenzsicherungsanlagen erfolgt.
In diesem Zusammenhang sollte geprüft werden, ob auch vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten beim britischen Stadtkommandanten in Westberlin Protest erhoben werden sollte.
Zur Aufklärung der unmittelbaren Organisatoren dieser Provokationen wurden vom MfS weitere Maßnahmen eingeleitet. Gegen die flüchtigen Provokateure werden Ermittlungsverfahren eröffnet und Fahndungsmaßnahmen durchgeführt.