Immatrikulation von Kindern aus Medizinerfamilien
13. Juni 1961
Einzel-Information Nr. 302/61 über gegenwärtige Schwierigkeiten bei der Immatrikulation von Kindern der medizinischen Intelligenz und mögliche Auswirkungen auf die Republikflucht der davon betroffenen Personen
Dem MfS liegen Informationen vor, die auf Schwierigkeiten bei der Immatrikulation von Kindern der med. Intelligenz hinweisen. Im Interesse der Vermeidung von Republikfluchten Angehöriger der med. Intelligenz sehen wir uns veranlasst, einige Fragen der Zulassung zum Studium an den Universitäten Jena und Leipzig darzustellen.
Der Sohn des Dr. med. [Name 1] aus Reichenbach im Vogtland sollte aufgrund seiner guten Leistungen bei der Ablegung der Reifeprüfung 1961 (9 Noten: sehr gut und 3 Noten: gut) zum Auslandsstudium delegiert werden. Infolge eines Leberleidens wurden vom Vater gegen ein Auslandsstudium Einwände erhoben und darum gebeten, seinem Sohn das Sofort-Studium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zu ermöglichen.
Es wurde uns bekannt, dass Dr. [Name 1] Schwierigkeiten bei der Unterbringung seines Sohnes an der Universität Jena hat, da angeblich die Immatrikulation erst zum Studienjahr 1962/63 möglich wäre.
Aufgrund der Ablehnung zur Immatrikulation für das Studienjahr 1961/62 beantragte Dr. [Name 1] für sich und seine Familie einschließlich seiner Mutter ab 10.6.1961 eine Reisegenehmigung nach Westdeutschland. In diesem Zusammenhang äußerte Dr. [Name 1], dass er eben seinen Sohn dort unterbringen müsse, wo das Studium möglich sei. Es bestand daher der dringende Verdacht der Republikflucht. Durch Hinweise des MfS wurde von der SED-Kreisleitung Reichenbach eine Aussprache mit dem Prorektorat der Universität Jena herbeigeführt. An dieser Aussprache nahmen der Vertreter der SED-Kreisleitung Reichenbach, der 2. Sekretär der Bezirksleitung der SED Gera, der 1. Sekretär der BPO der Universität Jena und Prof. Stammfurt teil. Um die mögliche Republikflucht des Dr. [Name 1] zu verhindern, wurde von Prof. Stammfurt vorgeschlagen, den Sohn für das Studienjahr 1962 vorzuimmatrikulieren und ihm für den Zeitraum 1961/62 einen Platz an der medizinischen Fakultät der Universität Jena zur Ableistung des Vorpraktikums einzuräumen.
Prof. Stammfurt teilte in diesem Zusammenhang mit – offensichtlich zur Begründung seines Vorschlages –, dass zzt. ca. 6 000 Studienplätze fehlen und bereits Kinder von Nationalpreisträgern abgelehnt werden mussten, darunter auch Bewerber, deren Aufnahme vom Staatssekretär Girnus empfohlen worden seien. Dabei ging er in der Argumentation so weit, dass er für die Durchsetzung einer sofortigen Immatrikulation die Befürwortung durch den Vorsitzenden des Staatsrates, Genossen Walter Ulbricht, als notwendig bezeichnete. Diesen Hinweis ergänzte er noch dahingehend, dass er dann aber nicht die Garantie übernehmen könne, dass der dafür ausscheidende Student nicht republikflüchtig werde.
Dr. [Name 1] gab in einer durch die Kreisleitung der SED geführten Aussprache sein Einverständnis zu diesem Vorschlag. Er bestand jedoch weiter auf seiner beantragten Westreise, die er auch inzwischen angetreten hat. Durch die Frau des Dr. [Name 1] wurde von der SED-Kreisleitung eine schriftliche Zusicherung für die Vorimmatrikulation ihres Sohnes und die Möglichkeit seines Praktikums gefordert. Dieses Verhalten zeigt, dass sie noch kein volles Vertrauen zur vorgeschlagenen Lösung besitzt, welches sich auf ein weiteres Verbleiben des Dr. [Name 1] in der DDR negativ auswirken kann.
Ein ähnliches Beispiel liegt aus dem Kreis Werdau/Sa. vor. Der Sohn des Frauenarztes Dr. [Name 2] legte 1960 seine Reifeprüfung ab und leistet zzt. sein Praktikum im Krankenhaus ab. Der Antrag zum Studium wurde von der med. Fakultät Leipzig abgelehnt. Dr. [Name 2] wurde mitgeteilt, dass eine Immatrikulation seines Sohnes erst für das Studienjahr 1963/64 möglich ist. Mit dieser Entscheidung ist Dr. [Name 2] nicht einverstanden. Er verlangte deshalb den Verzug seines Sohnes nach Westdeutschland. Dabei muss bemerkt werden, dass bereits der Tochter des Dr. [Name 2] das Studium vor drei Jahren versagt wurde und sie deshalb nach Westdeutschland flüchtete, wo sie ihr Studium dann aufnahm. Bei Dr. [Name 2] handelt es sich um einen fachlich guten Arzt, der ein hohes Ansehen genießt. Während seines Aufenthalts im Frühjahr 1961 in Westdeutschland lehnte er die Abwerbungsversuche mit aller Entschiedenheit ab und kehrte in die DDR zurück. Sein weiteres Verhalten dürfte jedoch durch die geschilderte Situation wesentlich beeinträchtigt worden sein.
Auf Unverständnis stößt bei den davon betroffenen Personenkreisen ein in der Republikausgabe des »ND« Nr. 157 vom 9.6.1961 veröffentlichtes Interview des Ministers für Volksbildung, Prof. Dr. Lemmnitz, in dem er zu den Fragen der Berufsausbildung für Abiturienten Stellung nimmt. In diesem Interview wird festgestellt, dass jedem Abiturienten eine entsprechende berufliche Ausbildung gesichert ist, falls er nicht vorimmatrikuliert werden kann. Es heißt darin, dass für eine große Zahl von hochqualifizierten Berufen, wie z. B. der Chemie, der Zahn- und Humanmedizin, des Schiffbaues, der Luftfahrt u. a., entsprechend den wirtschaftlichen Schwerpunkten besondere Klassen für Abiturienten einzurichten sind.
Neben allgemeinen Diskussionen, dass diese Versprechungen im Gegensatz zur realen Lage stehen, wird auch auf die im Interview angeführte Ausbildungsmöglichkeit auf dem Gebiet der Luftfahrt verwiesen, die im Widerspruch zu den Beschlüssen des 12. Plenums des ZK1 stehe.
Nach unserer Einschätzung ist es erforderlich, das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen nochmals auf die Besonderheiten der Zulassungsmethoden bei den verschiedensten Bevölkerungsschichten hinzuweisen. Weiterhin sollte bei der nächsten Beratung mit den Prorektoraten für Studienangelegenheiten der Universitäten und Hochschulen nochmals eine Aussprache über diese Fragen durchgeführt werden. Es wäre auch zu prüfen, ob evtl. nochmals in der Presse zu den genannten Problemen Stellung genommen werden müsste, um unnötige Komplikationen bei der Zulassung von Kindern der Intelligenz zum Studium zu vermeiden.