Kritik von Schriftstellern
19. Dezember 1961
Einzel-Information Nr. 788/61 über provokatorisches Auftreten von Schriftstellern
Auf der am 14.12.1961 stattgefundenen Mitgliederversammlung zur Auswertung des XXII. Parteitages der KPdSU1 des Berliner Verbandes des DSV traten eine Reihe Schriftsteller in provokatorischer Form auf. Sie benutzten dazu als Anknüpfungspunkt die im Hauptreferat des vom DSV eingeladenen sowjetischen Schriftstellers Ilja Fradkin2 enthaltenen Darlegungen über die Auswirkungen des Personenkults in der SU auf die Literatur und die jetzt beschrittenen Wege zur Beseitigung dieser Auswirkungen.3
In den Diskussionen dazu versuchten vor allem Stephan Heym und Schlotz-Döderlin4 in scharfer Form sowie Gorrish5, Lauterbach6 und Weber7eine Parallele zur Lage der Schriftsteller in der DDR hineinzutragen und gegen die führende Rolle der Partei und ihren Einfluss Stellung zu nehmen.
Heym, der mehrmals das Wort ergriff, versuchte u. a. mit folgenden sinngemäßen »Begründungen« diese Linie zu beweisen:
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Das Ja-Sagen zur DDR und die Kritik an gewissen Zuständen bilde eine untrennbare Einheit. Wenn die Kritik bei bestimmten Leuten nicht genehmigt werde, müsse sich der Schriftsteller wohl fragen, ob es gestattet sei, dieses oder jenes zu schreiben, denn er wolle ja nicht nur für den Schreibtisch arbeiten.
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Den faschistischen Putsch in Ungarn konnte es nur geben, weil es einen Rákosi gab. Seit diesem Ereignis in Ungarn würde jedoch allen Schriftstellern eine feindliche Absicht unterschoben. Man solle endlich damit Schluss machen und von den einzelnen Personen ausgehen. Man müsse darüber diskutieren.
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Er habe erwartet, dass nach den Ausführungen von Fradkin von den Leuten, die heute noch die kritisierten Praktiken in der Arbeit anwenden, ein Proteststurm kommen würde. Dabei blickt er sich um und meinte ironisch: Davon wären ja eine Anzahl anwesend.
Ebenfalls sehr provokatorisch trat der religiös gebundene Schriftsteller Schlotz-Döderlin auf. Döderlin war 1956 Teilnehmer am Donnerstag-Kreis und trat auch in der nachfolgenden Zeit mehrfach mit negativen Diskussionen auf. Döderlin forderte, dass der Schriftsteller über alles schreiben und diskutieren müsse. Er »danke« Heym für seine Ausführungen für die er Beifall verdient habe. Die Kollegen hätten es sich aber nicht getraut zu klatschen. Er werde die Wahrheit sagen. Noch nie seien die Menschen so gegen Walter Ulbricht gewesen wie heute. Überall, in der U-, S-Bahn und den Läden usw. werde geschimpft. Man solle mehr Vertrauen zu den Schriftstellern haben. Sie würden auch die Wahrheit so darstellen, dass man die DDR lieben könne. Allerdings müsse man die Art der Darstellung dem Schriftsteller überlassen.
Von einer noch unbekannten weiblichen Teilnehmerin wurde unter allgemeiner Zustimmung gefordert, dass zukünftig die Entscheidung über das Erscheinen literarischer Werke nicht mehr von staatlichen Stellen, sondern von Schriftstellergremien genehmigt werden müsse, weil sonst die Gefahr des Dogmatismus zu groß sei. (Die Zustimmung, aber auch die bereits früher geäußerten Ansichten in dieser Richtung zeigen, dass viele der Schriftsteller dieser Meinung sind.)
Dass es sich dabei nicht um impulsive und spontane Reaktionen handelt, sondern um das Bestreben, Diskussionen über den Personenkult hervorzurufen, geht aus einer Reihe weiterer Hinweise einwandfrei hervor. So kam es bereits auf der Vorstandssitzung des DSV am 5. u. 6.12.1961 zu einem äußerst negativen Auftreten von Joho8 und Heym.
Joho wandte sich dagegen, dass das Problem der »neuen deutschen literatur«9 auf dem Plenum durch Genossen Fröhlich noch einmal aufgegriffen wurde, obwohl in der Abteilung Kultur doch eine Klärung bereits erfolgt war. Joho bezeichnete deshalb sinngemäß Funktionäre der Partei, die aus der »ndl« etwas herauslesen, als »unsauber« im Kopf. Als Joho daraufhin vom Genossen Lewin10 zurechtgewiesen wurde, verbot Heym in scharfer und zynischer Weise Lewin den Mund, weil er nichts zu sagen habe und nur Gast sei. Heym nahm dies ferner zum Anlass, um sich grundsätzlich gegen die Anwesenheit von »Gästen« bei Beratungen und Beschlussfassungen von Schriftstellern auszusprechen.
Im gleichen Zusammenhang sind auch Diskussionen zu sehen, dass in der DDR mit allen Mitteln Diskussionen über Personenkult unterbunden würden, »weil es auch in der DDR ganz konkrete Auswirkungen« gegeben habe. Die im ND veröffentlichten Artikel,11 in denen festgestellt wird, dass es bei uns keinen Personenkult gegeben habe, seien deshalb als Überheblichkeit zu bezeichnen.
Vom Auftreten verschiedener Funktionäre in Schriftstellerkreisen leiten sie jeweils eine scharfe Linie (Vertreter dieser Linie sei u. a. Genosse Gotsche12und Genosse Wagner13) bzw. eine gemäßigtere Linie (Genosse Kurella) ab. Dabei werden oft Ansichten geäußert, dass es in der Parteispitze bereits ernsthafte Auseinandersetzungen gebe, weil verschiedene Genossen »nicht die richtige Linie mitmachen« würden.
Nicht zuletzt ist für die Haltung vieler Schriftsteller auch die Tatsache aufschlussreich, dass die Versammlung des Berliner Verbandes über die Auswertung des XXII. Parteitages der KPdSU sehr stark besucht wurde, im Gegensatz zu den vorangegangenen Versammlungen und offensichtlich, weil sie dort Ansatzpunkte für ihre schwankende oder negative Haltung zu finden glaubten.
Da das Bestreben der Schriftsteller auf die Tendenz hinausläuft, Personenkult-Diskussionen fortzusetzen und sich gegen den Einfluss der Partei zu wenden, wurden vom MfS Maßnahmen eingeleitet, um die Reaktionen und Äußerungen besonders der negativen Kräfte in Erfahrung zu bringen, und um der Partei entsprechende Hinweise für offensive Auseinandersetzungen mit diesen Kräften geben zu können.