Lage nach dem Bau der Berliner Mauer (10)
26. August 1961
[Bericht] Nr. 489/61 über die Situation aufgrund der Schutzmaßnahmen der DDR
1. Gegnerische Pläne und Aktionen in Westberlin
Dem MfS wurde bekannt, dass im »Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen« gegenwärtig an einer Dokumentation der Bundesregierung gearbeitet wird, die in ca. 14 Tagen erscheinen soll.1 Sie soll in Form eines Weißbuches herausgegeben werden und Materialien über die Republikflucht vor dem 13.8.1961 enthalten. Das Material soll mit zahlreichen Bildern und Flüchtlingsaussagen belegt werden, wobei auch die Maßnahmen vom 13.8.1961 berücksichtigt werden sollen. Diese Dokumentation soll an Regierungen und Journalisten in aller Welt herausgegeben werden.
Desgleichen soll vom selben Ministerium ein Film über die Ereignisse seit dem 13. August in englischer, französischer und spanischer Sprache synchronisiert ins Ausland geschickt werden. Über die Lage nach den Maßnahmen des 13. August würden im Auftrage des Bundespresseamtes täglich Filmaufnahmen an 30 Fernsehgesellschaften in Europa, Amerika, Afrika und Asien verschickt werden. Außerdem ist vorgesehen, dass in den nächsten Tagen verstärkt Lautsprecherwagen an der Grenze zum demokratischen Berlin eingesetzt werden, die vor allem Nachrichten und Kommentare für die bewaffneten Organe der DDR bringen sollen.
Von westlicher Seite werden bereits Lautsprecherwagen eingesetzt. In den Sendungen fordern sie unsere Sicherungsposten auf, sich nicht gegen ihre Brüder und Schwestern missbrauchen zu lassen und fahnenflüchtig zu werden.
Auf Anregung des Lemmer-Ministeriums2 hat das Büro »Bonner Berichte«3 in Bonn unter dem Motto »Das ganze Deutschland soll es sein« Klebemarken mit Abbildungen von Baudenkmälern in der DDR und den ehem. Ostgebieten herausgegeben. Diese Marken sollen als Briefkleber für Briefe nach der DDR und dem Ausland verwendet werden.
Die Annahmestellen der DDR für Aufenthaltsgenehmigung für Westberliner Bürger auf den Bahnhöfen Zoo und Westkreuz wurden am 26.8.1961, 13.30 Uhr bzw. 13.45 Uhr, von der Stummpolizei4 geschlossen, nachdem es zu Tumulten und Provokationen von Rowdys gekommen war. Es wurden an beiden Stellen bis zur Schließung 270 Anträge ausgegeben, 110 davon ausgefüllt zurückgegeben und 22 Aufenthaltsgenehmigungen erteilt.
Die Boykottmaßnahmen gegen die S-Bahn wurden auch am 26.8.1961 fortgesetzt. Auf Westberliner Gebiet wurden an 33 S-Bahn-Wagen Beschädigungen vorgenommen.
Auf dem Bahnhof Westkreuz wurden Reisende von einer randalierenden Person von der Benutzung der S-Bahn abgehalten und beschimpft. In den Mittagsstunden forderte ein Lautsprecherwagen zum S-Bahn-Boykott auf.
In der Bahnhofshalle des Bahnhofs Zoo befand sich gegen 15.00 Uhr eine große Menschenansammlung, die alle Personen anpöbelte, die die S-Bahn benutzen wollten. Schalter wurden mit Bildzeitungen und Transparenten zugeklebt. Wer eine Fahrkarte löste, wurde fotografiert. Männer mit Hetzplakaten standen herum. Ein Bahnhofseingang wurde von der Stupo gesperrt.
In der Kehranlage Gesundbrunnen wurden zwei S-Bahn-Züge von der Bahnbrücke aus mit Steinen beworfen. Täter wurde von der Stupo gestellt.
Am Bahnhof Halensee wurden die Aufsicht und Reisende von jugendlichen Rowdys geschlagen. Täter wurden von der Stupo festgenommen.
In zwei Fällen wurden an den Bahnhöfen Jungfernheide und Charlottenburg S-Bahn-Züge beschossen und dabei eine Türscheibe zertrümmert.
Es wird berichtet, dass sich alle Senatsangestellten schriftlich verpflichten müssen, die S-Bahn nicht mehr zu benutzen.
Außerdem wurden folgende Vorkommnisse bekannt:
Am Morgen des 26.8.1961 kamen mit den D-Zügen aus Aachen und München drei Gruppen zu je 15 bis 20 Personen Eisenbahner der Bundesbahn mit Sammelfahrscheinen auf dem Bahnhof Zoo an. Zwei Schaffnerinnen hörten von diesen die Äußerung: »Wir werden den Laden jetzt übernehmen.« (An der Aufklärung wird gearbeitet.)
Die Provokationen an der Staatsgrenze nach Westberlin hielten auch im Berichtszeitraum an. Gegen 14.30 Uhr erschienen an der Sandgrube Seeburg/Potsdam auf westlichem Gebiet fünf Jugendliche, die die dort eingesetzten Grenzposten provozierten. Nach Abgabe eines Warnschusses zogen sich die Jugendlichen zurück.
Gegen 18.45 Uhr wurden im Abschnitt der DGP Hennigsdorf/Oranienburg in der Nähe der Ruppiner Chaussee fünf Drähte einer alten Drahtsperre zerschnitten. Die Beschädigung wurde beseitigt.
Im Bereich der 6. Komp., GB Blankenfelde rissen gegen 19.00 Uhr vier Jugendliche aus Richtung Lichtenrade kommend einen Zementpfahl um. Vom 300 m entfernten Wachturm wurde ein Warnschuss abgegeben, worauf sich die Jugendlichen zurückzogen.
In den Abendstunden hielten sich auf dem Aschberg (Radarstation Rudow) ca. 150 Jugendliche auf. Einige dieser Jugendlichen rollten vom Berg alte Autoreifen gegen die Grenzsicherungen, was teilweise zu Beschädigungen an den Sicherungsanlagen führte.
Am 26.8., gegen 20.00 Uhr bewarfen am KP 72 jugendliche Rowdys unsere Posten mit Steinen und beschädigten ebenfalls mit alten Autoreifen die Drahtsperre. Pioniere brachten die Drahtsperre wieder in Ordnung.
Am 26.8., gegen 1.10 Uhr kam es am KP Heinrich-Heine-Str. westlicherseits zu einer Menschenansammlung von ca. 100 Personen. Einzelne Personen versuchten unsere Posten zu provozieren. In unmittelbarer Nähe standen ein Panzer, ein SPW und ein Lautsprecherwagen. Weiterhin kam es in der Zeit von 21.00 bis 22.00 Uhr an den KP Friedrichstraße, Chausseestr., Oberbaumbrücke und abermals Heinrich-Heine-Str. zu Ansammlungen von ca. 100 bis 180 Personen, die sich nach und nach zerstreuten. Nur in Einzelfällen kam es zu provokatorischen Zurufen gegen unsere Sicherungsposten.
Vom Gegner wird nach wie vor eine konzentrierte Beeinflussung der Sicherungskräfte durch versuchte Kontaktaufnahme durchgeführt. Besonders starken Provokationen waren die Sicherungskräfte der BP in den Abschnitten Mitte und Süd ausgesetzt.
Einschätzung der taktischen Handlungen des Gegners
Im Verhältnis zum Vortage zeigten sich in den taktischen Handlungen der westlichen Besatzungsmächte keine bemerkenswerten Veränderungen. Die Maßnahmen bestanden weiterhin in einer laufenden Streifen- und Patrouillentätigkeit, die in Zeitabständen von ein bis drei Stunden geführt wird.
Auf französischer Seite handelten im Gegensatz zum Vortage motorisierte Streifen in Zugstärke mit drei SPW, einem Jeep und einem Krad. Auf amerikanischer Seite waren am 26.8.1961, um 12.00 Uhr die Brücken durch je ein bis zwei Panzer besetzt worden. Zu diesem Zeitpunkt waren zehn Panzer unmittelbar an der Grenze im Einsatz. Besonders aktive Streifentätigkeit durch zwei bis drei Panzer und ein SPW wurden im Raum Friedrichstraße–Oberbaumbrücke festgestellt.
In der Tiefe gegenüber des KP Oberbaumbrücke und Sonnenallee wurde auf westlicher Seite eine Tiefensicherung festgestellt, die vom demokratischen Berlin aus nicht einzusehen ist.
Für den an der Friedrichstraße ständig stationierten US-Panzer erfolgte die Ablösung durch Auswechseln der Besatzung. Der Panzer wurde am Ort aufgetankt.
Die zum Einsatz gelangten Kräfte unmittelbar an der Grenze hatten annähernd die gleiche Stärke wie am Vortage. Irgendwelche zusätzliche Mittel und Kräfte bzw. neue Momente zeigten sich nicht.
An der Radarstation Rudow wurden die Panzer abgezogen und dafür zwei SPW eingesetzt. In den Nachmittagsstunden des 26.8. war auf dem Aschberg eine bewegliche Funkstation eingerichtet. Von dort aus bewegten sich Streifen von drei bis vier Soldaten bis zur F 179 in Abständen von ca. einer Stunde.
In der Enklave Eiskeller südlich Schönwalde wurden von den britischen Kräften neun Zelte für ca. 60 bis 70 Personen aufgebaut. An der Zufahrtsstraße zur Enklave am sog. englischen Weg wurden vier Zelte errichtet.
An folgenden Stellen zeigten sich Provokationen:
Sonnenallee 26.8, 15.45 Uhr:
Ein US-Kfz mit einem Offizier und zwei Soldaten fuhr bis dicht an die Grenze heran. Die Soldaten überschritten die Grenze, die Aufforderung unserer Posten, sich zurückzuziehen, befolgten sie nicht. Auch die Aufforderung der Stupo, unseren Anweisungen nachzukommen, wurde nicht beachtet. Nach kurzer Zeit bestiegen sie den […]5 und wendeten auf unserem Gebiet. Der Vorfall wurde von westlicher Seite fotografiert.
Am ehem. Kontrollpunkt »Sonne«/Staaken, 26.8., 10.30 Uhr:
Ein Stupo, ein britischer Offizier und zwei Sergeanten erschienen und wurden durch Stupo ins Grenzgebiet eingewiesen. Sie machten Aufzeichnungen und fotografierten. Anschließend zogen die Briten ihre Pistolen und richteten sie auf unseren Grenzposten.
Wiederholt waren zur Überwachung der Grenze Hubschrauber eingesetzt. (Invalidenstraße, Brandenburger Tor, Alte Jacobstr., Klein-Ziethen und Mahlow)
Gegen 11.35 Uhr verletzte ein Hubschrauber nordwestlich Bahnhof Schönefeld die Staatsgrenze. Eine weitere Verletzung wurde entlang der S-Bahn-Strecke Teltow–Lichterfelde beobachtet.
Am 26.8., gegen 13.00 Uhr wurden von einem französischen Hubschrauber am Bahnhof Bornholmer Str. aus ca. 20 m Höhe Luftaufnahmen gemacht.
Am Platz der Republik soll ein Start- und Landeplatz für Hubschrauber eingerichtet worden sein. (Nähere Überprüfungen werden durchgeführt.)
Wie uns durch die Aufklärungsabteilung der NVA bekannt wurde, soll auf einer Besprechung im Westberliner Senat, die Senator Lipschitz leitete, Folgendes beschlossen worden sein:
Ab Montag, den 28.8.1961, 6.00 Uhr, sollen sämtliche Personen, die die über den Bahnhof Friedrichstr. fahrenden S- und U-Bahnzüge nach Westberlin benutzen, an den westlichen Grenzübergangsstellen kontrolliert werden. Sämtliche Personen aus dem demokratischen Berlin, die Westberlin aufsuchen, sollen ab sofort namentlich erfasst werden. Alle Personen aus Westberlin, die das demokratische Berlin aufsuchen, würden ebenfalls ab sofort registriert werden. In den Listen sollen neben den kurzen Personalien, der Beruf, die Arbeitsstelle und der Grund für den Übertritt festgehalten werden.
Für Bürger Westdeutschlands würden besondere Listen geführt werden. Diese verschiedenartigen Listen sollen alle sechs Stunden dem Landeskriminalamt zugeschickt und dort ausgewertet werden.
2. Gegnerische Provokationen und Vorkommisse im demokratischen Berlin
Im Berichtszeitraum ereigneten sich auch im demokratischen Berlin mehrere Provokationen sowie Tätlichkeiten gegen SED- und FDJ-Mitglieder, Hetze und Schmierereien und andere Vorkommnisse, in deren Verlauf einige Festnahmen getätigt wurden.
Am 25.8. wurden der [Name 1] aus Berlin N 58 [Straße, Nr.] und [Name 2] aus Berlin N 58, [Straße, Nr.], beide im Institut für Gerätebau beschäftigt, wegen Boykotthetze inhaftiert. Durch negative Äußerungen beeinflussten sie einen Teil ihrer Kollegen und betrieben Mordhetze gegen SED-Mitglieder. [Name 2] forderte am 14.8.1961 gewaltsame Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR, und [Name 1] forderte nach dem 13.8.1961 zu einem Überfall auf einen Grenzposten auf, um sich in den Besitz seiner Waffe zu setzen, mit der er gewaltsam nach Westberlin durchbrechen wollte.
Im Bezirk Friedrichshain wurde am Frankfurter Tor ein SED-Mitglied von zwei Personen provoziert und tätlich angegriffen. Beide sind Rückkehrer. Sie wurden der VPI Friedrichshain zugeführt.
Der FDJ-Sekretär des VEB »7. Oktober« wurde in der Straßenbahn der Linie 3 von zwei männlichen Personen tätlich bedroht. (Täter wurden festgenommen)
Am 26.8., 0.45 Uhr, wurden aus dem 4. Stock des Hauses Köpenicker-/Ecke Fritz-Heckert-Str. Blinkzeichen beobachtet. Desgleichen aus dem Hause Wolliner Str. 20/Ecke Bernauer Str. 42.
Auf dem Flugplatz Schönefeld wurden am Gebäude des Startdienstes und im Bauhof Hetzlosungen gegen den Genossen Walter Ulbricht und gegen die Wahl angebracht.
Am 26.8., gegen 0.20 Uhr ereignete sich in der Braunsberger Str./Prenzlauer Berg im Jugendclubheim eine Schlägerei zwischen ca. 40 Jugendlichen.
26 Jugendliche wurden von der VPI Prenzlauer Berg vorläufig festgenommen, das Untersuchungsergebnis liegt noch nicht vor.
Bei der Ehefrau eines Kampfgruppenangehörigen der Plankommission in Berlin-Weißensee, Buschallee 26, erschien ein Zivilist. Dieser teilte der Ehefrau mit, dass am 27.8., 9.00 Uhr, für alle Kampfgruppenangehörigen Alarm sei. Einen Ausweis ließ sich die Frau nicht zeigen. Entsprechende Maßnahmen wurden eingeleitet.
An 26.8., 23.05 Uhr, wurde in Berlin-Pankow, Lauterbachstr. der [Name 3] aus Berlin N 113, [Straße, Nr.], aufgegriffen. Er war im Besitz eines schussfertigen Trommelrevolvers und eines Schlagstockes. Die Waffe und der Schlagstock stammen von seinem Freund der r-flüchtig geworden ist. [Name 3] ist VP-Helfer, Festnahme erfolgte. E-Verfahren wurde eingeleitet.
Im Berichtszeitraum wurden wiederum Fahrzeuge und stationäre Objekte des Verkehrswesens mit faschistischen Emblemen und Hetzlosungen beschmiert, die sich besonders gegen den Genossen Walter Ulbricht richten. Örtliche Schwerpunkte traten nicht in Erscheinung.
Auf der Strecke Strausberg–Friedrichstr. wurden in zwei Fällen zerschnittene Sitzpolster im S-Bahn-Wagen festgestellt. In einem Falle auch auf der Strecke Friedrichstr.–Erkner.
Da ein großer Teil Ausländer den KP Friedrichstraße passiert und im Besitz verschiedener Pässe ist, wird von der Trapo vorgeschlagen, dort eine besondere Sperre für Ausländer einzurichten und einen Genossen des Ausländeramtes der HA Pass- und Meldewesen einzusetzen.
3. Grenzdurchbrüche und Desertionen und besondere Vorkommnisse an der Staatsgrenze um Westberlin
Die Zahl der gelungenen Grenzdurchbrüche vom demokratischen Berlin in die Westsektoren hat sich gegenüber dem Vortage erhöht. Aus den Randbezirken Potsdam und Frankfurt/O. ist dagegen keine Grenzverletzung in Richtung Westberlin festgestellt worden. Die Grenzdurchbrüche vom demokratischen Berlin sind auf immer noch vorhandene Lücken im Sicherungssystem zurückzuführen, lassen aber auch einige Schwächen in der Kontrolltätigkeit der Sicherungsposten erkennen.
Insgesamt gelang es 20 Personen, über die Grenze aus dem demokratischen Berlin flüchtig zu werden.
Einen Schwerpunkt bildet dabei der KP 70/71, an dem seit 18.00 Uhr insgesamt sechs Grenzdurchbrüche erfolgen konnten. Bei den Grenzdurchbruchstellen handelt es sich in der Hauptsache um Laubengrundstücke, die sich auf unübersichtlichem Grenzgelände befinden. Die Durchbrüche wurden durch die unzulänglichen Lichtanlagen begünstigt. Die am KP 70/71 eingesetzten Sicherungskräfte haben zum Teil in der Grenzsicherung erst wenig Erfahrung.
Zu den Grenzdurchbrüchen im Einzelnen:
Im KP Klemkestraße gelang es fünf Personen (1 Familie), flüchtig zu werden. Die Personen hatten sich vorher auf einem Laubengrundstück zu schaffen gemacht und waren daher von den Posten nicht mehr beachtet worden.
Gegen 10.15 Uhr sprang am KP 23/24 eine weibliche Person aus dem Wohnhaus Bernauer Straße 3 direkt auf westliches Gebiet. Sie verletzte sich und wurde von der Stupo abtransportiert.
Gegen 10.45 Uhr wurde an der Chausseestraße ein Arbeiter der Bewag flüchtig, der unmittelbar an der Grenze seit zehn Tagen Arbeiten durchführte. Von den Sicherungskräften wurde daher ihm gegenüber die Wachsamkeit verletzt.
Gegen 16.30 Uhr durchschwammen eine weibliche und eine männliche Person in der Nähe der Späthbrücke den Kanal.
Um 18.00 Uhr wurde der Kanal durch einen Angestellten vom VEB Zentral-Cirkus durchschwommen.
Gegen 18.15 [Uhr] wurden eine weibliche und eine männliche Person in der Heidelbergstraße flüchtig, indem sie unsere Posten umgingen.
Zur gleichen Zeit konnte ebenfalls in der Heidelbergstraße eine weibliche Person die Absperrung durchbrechen.
Um 19.45 Uhr war ein Grenzdurchbruch einer männlichen Person in der Bouchéstraße zu verzeichnen.
Neben den aufgeführten gelungenen Grenzdurchbrüchen nach Westberlin haben sich die Versuche der Grenzdurchbrüche nach Westberlin erhöht. Insgesamt wurden von unseren Sicherungskräften 15 Personen an der Staatsgrenze um Westberlin gestellt, die den Versuch der R-Flucht unternahmen, davon 13 Personen entlang der Staatsgrenze im demokratischen Berlin und zwei Personen entlang der Staatsgrenze im Bezirk Potsdam.
So wurden in Drewitz, Bezirk Potsdam zwei Jugendliche aus Karl-Marx-Stadt wegen Versuchs der R-Flucht von Sicherungsposten der GP gestellt. Beide gaben übereinstimmend an, dass sie in der Gaststätte »Zum Löwen« in Babelsberg von namentlich nicht bekannten Personen den Hinweis erhalten haben, den Grenzabschnitt Drewitz zum Grenzübertritt zu benutzen, da dieser ungenügend gesichert sei.
Im demokratischen Berlin wurden am 26.8., gegen 0.00 Uhr zwei Jugendliche am Nordhafen beim Fluchtversuch festgenommen. Es handelt sich dabei um die Personen [Name 4], 1943, aus Berlin NO 55, [Straße, Nr.], und [Name 5], 1942, aus Berlin NO 55, [Straße, Nr.].
Gegen 12.45 Uhr versuchte die Bürgerin [Name 6], 1921, Berlin-Niederschönhausen, [Straße, Nr.], die Posten am KP Sonnenallee zu umgehen.
Ebenfalls am KP Sonnenallee versuchte der Bürger [Name 7], 1934, aus Bln.-Baumschulenweg, [Straße, Nr.], nach Westberlin zu gelangen, indem er den Drahtzaun überklettern wollte.
Die übrigen versuchten Grenzdurchbrüche erfolgten in ähnlicher Weise.
Eine neue Methode des versuchten Grenzdurchbruchs nach Westberlin wurde von den Sicherungsposten des Ostbahnhofes Berlin bekannt. Dort hatte sich die Bürgerin [Name 8], 1940, aus Berlin, [Straße, Nr.], im letzten Wagen des D 130 Berlin-Ostbahnhof–München versteckt, um auf diese Art die DDR zu verlassen. Die [Name 8] wurde der VPI Friedrichshain übergeben.
Die noch bestehenden Lücken im Sicherungssystem an der Staatsgrenze um Westberlin beschränken sich in der Hauptsache auf Grenzstreifen in unübersichtlichem Gelände.
So sind die bereits früher berichteten Lücken im Südabschnitt Treptow noch nicht restlos geschlossen, da die von einer Räumung betroffenen Objekte in der Lohmühlenstraße und die an den Westsektor anschließenden Kleingartenanlagen noch nicht gekündigt und geräumt wurden.
Gleichermaßen trifft das für den Grenzabschnitt Britzer Allee zu, wo bisher keine pioniertechnischen Sicherungsmaßnahmen eingeleitet wurden.
Auch an der Westseite der Mühlenstraße (Friedrichshain) gelegene Wohnhäuser sind noch ungesichert, sodass Grenzdurchbrüche möglich sind, wobei die Ursache hierfür in einer ungenügenden Zusammenarbeit zwischen Magistratsdienststelle und VP liegen soll.
Weitere Mängel im Sicherungssystem bestehen am KP 10 (Provinzstraße, Bouchéstraße, Ecke Heidelbergerstraße) An der Provinzstraße existieren zwei kleinere Fabrikgebäude, durch die ein ungehindertes Betreten des Westsektors möglich ist.
Erwähnt werden muss, dass auch die Grenzdurchbrüche Staatsgrenze West in Richtung Westdeutschland unvermindert anhalten.
In der Berichtszeit wurden insgesamt 16 Grenzdurchbrüche DDR/West mit 18 Personen registriert, darunter drei schwere Grenzdurchbrüche mit zehn Personen, einem Motor- und einem Fahrrad.
Schwerpunkt bildet nach wie vor die 2. Grenzbrigade, GB Salzwedel/Magdeburg mit drei Grenzdurchbrüchen, an denen sieben Personen beteiligt waren.
In Einzelfällen wurde aus Diskussionen der Bevölkerung ersichtlich, dass ein Durchbrechen der Staatsgrenze in Richtung Westdeutschland eher möglich sei. Von einigen Personen wurde als günstigstes Gebiet im Zusammenhang mit Grenzübertritten der Grenzstreifen um den Brocken genannt.
In der Berichtszeit gab es nach hier vorliegenden Meldungen zwei Desertionen aus den Reihen der DGP und eine Desertion aus den Reihen der Bereitschaftspolizei.
Diese Desertionen erfolgten aus solchen Kampforganen, die zur Sicherung im Raum Berlin eingesetzt sind.
Außerdem waren zwei Desertionen aus den Reihen der DGP an der Staatsgrenze West/WD zu verzeichnen.
Bei den Desertionen handelt es sich im Einzelnen:
Am 27.8., 6.00 Uhr, wurde festgestellt, dass Gefr. [Name 9] und Gefr. [Name 10] vom KP Spitzberg/GP Schönberg fahnenflüchtig wurden. Am KP-Streifen hinterließen sie ihre Waffen und Ausweise. (Über die Ursachen laufen zzt. noch Ermittlungen.)
Bei den Deserteuren aus der GP an der Staatsgrenze West/WD handelt es sich um die Gefreiten [Name 11] und [Name 12] von der Grenzbereitschaft Halberstadt/Komp. Elend.
Der Deserteur VP-Owm. [Name 13] von der Bereitschaftspolizei der 11. Bereitschaft verrichtete seinen Dienst im Raum Babelsberg/Potsdam und wurde während der Dienstausführung r-flüchtig.
Von den Kontrollposten an den Übergängen nach Westberlin (vor allem Chausseestraße, Invalidenstraße und Oberbaumbrücke) wird wiederholt gemeldet, dass im verstärkten Maße Westberliner Bürger an unsere Posten herantreten, um Auskünfte und die Genehmigung zum Betreten des demokratischen Berlin einzuholen. Nach den Ursachen befragt, geben sie zum Schein an, im demokratischen Berlin Wohnsitz aufnehmen zu wollen, widerrufen jedoch nach eingehender Befragung diese Begründung.
Unter den Sicherungskräften an den Übergängen nach Westberlin herrscht zzt. immer noch keine Klarheit, wie Personen, die im Besitz von Auslandsausweisen sind, und den Kontrollpunkt passieren wollen, zu behandeln sind. Nach Meinung unserer Sicherungskräfte handelt es sich bei einem Teil dieser Personen um Grenzgänger, die in Westberlin ein Arbeitsverhältnis aufrecht erhalten.
4. Stimmung und Vorkommnisse in den Einheiten der Sicherungskräfte
Die Moral und Einsatzkraft unter den zur Grenzsicherung eingesetzten bewaffneten Einheiten im Raum Berlin ist nach wie vor gut. Die Argumente sind überwiegend positiv und zu den getroffenen Schutzmaßnahmen zustimmend. Aus allen Einheiten der Bereitschaftspolizei, der Grenzpolizei und der Kampfgruppen werden positive Stellungnahmen, Resolutionen und eine Reihe von Verpflichtungen bekannt. Viele Genossen der BP und DGP übernahmen Verpflichtungen, noch weiterhin Dienst in den bewaffneten Einheiten abzuleisten.
In geringem Umfang werden jedoch auch unzufriedene und direkt negative Stimmen bekannt, die jedoch an Umfang im Verhältnis zu den vorhergehenden Tagen nicht zugenommen haben. Bei solchen Diskussionen steht der verstärkte Dienst in den Einheiten im Mittelpunkt. Teilweise spielen auch Urlaubsfragen eine Rolle. Der Unzufriedenheit wird mehrfach in Briefen an Verwandte und Bekannte Ausdruck verliehen.
Eine Anzahl Angehöriger der NVA, DGP und BP wenden sich gegen eine Weiterverpflichtung und verlangen häufiger Ausgang. In Einzelfällen wurden von Angehörigen der NVA Diskussionen bekannt, in denen sie äußern, r-flüchtig zu werden. Einige Posten mussten daraufhin von der Grenzlinie zurückkommandiert werden.
Einzelne Grenzpolizisten wandten sich gegen die Anweisung, gegen Menschenansammlungen vorzugehen. Dabei wurde von ihnen in den Mittelpunkt gestellt, dass sie nicht auf ihre eigenen Leute und Verwandten schießen würden. (7. Kompanie 3. Bereitschaft)
In der Nähe des Grenzübergangs Sonnenallee wurde beobachtet, dass sich Angehörige der Bereitschaftspolizei mit Stupos unterhielten. Die gleichen Posten gestatteten Bürgern des demokratischen Berlin, sich mit Bürgern Westberlins über die Staatsgrenze zu unterhalten.
Einen Schwerpunkt in den Urlaubs- und Ausgangsdiskussionen bildet die 5. Grenzbrigade, in der eine Reihe ablehnender Argumente zum 12-Stunden-Dienst zu verzeichnen waren. Die Mannschaften wurden durch die Haltung ihres Kompaniechefs inspiriert, der offen die Maßnahmen der Regierung nicht anerkannte und seine Mitgliedschaft in der SED aufgeben will.
In den Kampfgruppen des Kreises Strausberg mehren sich die Anfragen, wann die Einsatzbereitschaft aufgehoben wird. Dabei wird Bezug genommen auf die Situation in Berlin, wo die Kampfgruppen Berliner Betriebe abgezogen werden konnten. Von einigen Kämpfern wird die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung des Einsatzes angezweifelt. Nachdem verschiedene Einheiten der Kampfgruppen Strausbergs zur Ernteeinbringung eingesetzt waren, verdichteten sich die Argumente, dass eine internatsmäßige Unterbringung nicht mehr notwendig sei.
In der Berichtszeit wurde in zwei Fällen fahrlässiger Schusswaffengebrauch verübt.
Im Bereich der 7. Kompanie der 3. GB Blankenfelde wurde dabei ein Posten der GP am Arm verletzt.
Der zweite fahrlässige Schusswaffengebrauch wurde von den Schutzkräften im Flughafen Schönefeld bekannt, wo aus dem Karabiner des VP-Uwm. [Name 14] ein Schuss abgegeben wurde, weil die Waffe nicht gesichert war. (Personen kamen nicht zu Schaden.)
5. Besondere Vorkommnisse
Vom AZKW wurde bekannt, dass seit dem 25.8. ein starker Paketverkehr beim Paketamt O 17 von Westberlin zur DDR zu verzeichnen ist. Der Anfall ist ca. vier- bis fünfmal stärker als zuvor. Gegenwärtig liegen 44 000 Paketsendungen dieser Art unkontrolliert bei der Post vor. Mit den zzt. vorhandenen Kräften kann das Öffnen aller Pakete nicht bewältigt werden.
Im Verlaufe des 26.8. flogen ca. 30 Ballons mit Hetzschriften in einer Höhe von ca. 3 000 m von Westdeutschland aus in unser Gebiet ein. Inzwischen werden im Bezirk Dresden Hetzschriften aufgefunden, die jedoch in ihrem Inhalt noch nicht zur Berlin-Situation Stellung nehmen. Es handelt sich um Flugblätter des SPD-Ostbüros6 und der CDU-Geschäftsstelle Bonn, älterer Herkunft.
Aus der Gemeinde Nochten/Weißwasser/Cottbus wurde eine Provokation seitens der Bevölkerung gegen eine Einsatzgruppe der VP bekannt. Bei einem Bauern wurde von der Einsatzgruppe Hamstergut im Werte von ca. 6 500 DM beschlagnahmt. Ca. 100 Bewohner aus dem Ort, meistens Bauern, die sich dabei auf dem Grundstück dieses Bauern versammelt hatten, lehnten sich mit Schimpfworten gegen den Transport dieser Waren auf. Der Hof musste von einem Zug der Kampfgruppe geräumt werden. Von der SED-Kreisleitung ist ein Agitationseinsatz in Nochten geplant.
Wie bekannt wird, sind die Maßnahmen zur Unterbindung der Teilnahme an der Leipziger Herbstmesse von Westberlin und Westdeutschland aus weiter verstärkt worden. Dabei mehren sich solche Meldungen, dass Unklarheit unter westdeutschen und ausländischen Geschäftspartnern hinsichtlich der Wiederausreise aus der DDR entstanden ist. Diese Unklarheiten werden durch Veröffentlichungen der Westpresse und des Westfunks geschürt, in denen es heißt, dass schwedische und norwegische Staatsangehörige von den Organen der DDR keine Ausreisegenehmigung erhalten würden. Vereinzelt wird von diesen Kreisen erklärt, dass diese Meldungen von der DDR-Presse bisher nicht dementiert wurden und somit der Wahrheit entsprechen müssten.
Am 27.8.1961, gegen 1.30 Uhr wurde ein Mitarbeiter des MfS Dresden-Stadt durch einen parteilosen Bürger provoziert, tätlich angegriffen und niedergeschlagen. Der Täter wurde sofort inhaftiert. Er ist bereits mit fünf Monaten Gefängnis wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt vorbestraft.