Lage nach dem Bau der Berliner Mauer (12)
28. August 1961
Bericht Nr. 494/61 über die Situation aufgrund der Schutzmaßnahmen der DDR
1. Gegnerische Pläne und Aktionen in Westberlin
Wie intern bekannt wurde, hat der französische Botschafter Seydoux1 am 26.8.1961 anlässlich eines Empfanges vor über 100 maßgeblichen französischen Staatsangehörigen in Westberlin gesprochen, mit dem Ziel, einer gewissen Unruhe und Panikstimmung entgegenzuwirken.
Er äußerte, die Lage wäre ernst, aber es bestünde kein Grund zur Beunruhigung und schon gar nicht zum Schießen. Wie weiter bekannt wurde, haben die Franzosen Vorkehrungen getroffen, um die französische Garnison in Westberlin um 2 000 Mann zu verstärken. Dabei soll es sich um Luftlandeeinheiten handeln. Der Zeitpunkt des Eintreffens ist noch nicht bekannt. Die Ausgangssperre für die französischen Truppen in Westberlin wurde am 26.8.1961 aufgehoben.
In einer Besprechung des »Freiheitsbundes«2 Charlottenburg am 25.8.1961 im SPD-Kreisbüro Charlottenburg wurden Maßnahmen festgelegt, die älteren Mitglieder zum Telefondienst einzusetzen und die jüngeren einer kurzen Waffenausbildung zu unterziehen.
Weiter soll ein Losungswort vereinbart werden, das im Einsatzfall durch Telefonanrufe und Funkspruch bekanntgegeben wird. Danach sollen sich alle Mitglieder des »Freiheitsbundes« im SPD-Kreisbüro Berlin-Charlottenburg, Otto-Suhr-Allee 72 einfinden.
An der Staatsgrenze nach Westberlin kam es auch am 28.8.1961 wieder zu Provokationen, wobei unsere Sicherungskräfte beschimpft, mit Steinen beworfen und mit KK beschossen wurden. Gegen 17.00 Uhr wurde am KP Ackerstraße (Westberlin) ein Wartburg-Combi (Polizeiliches Kennzeichen […]) festgestellt, der ein Transparent mit folgendem Inhalt mit sich führte: »Freiheit für die 17 Millionen im Ost-KZ.« Zum gleichen Zeitpunkt kam es am Brandenburger Tor zu einer Ansammlung von ca. 100 Personen auf westlichem Gebiet. Am KP Treptower Str. musste ein Wasserwerfer der VP gegen ca. 200 randalierende Westberliner eingesetzt werden.
Gegen 20.55 Uhr hielten sich ca. 50 Personen an der Treptower Heidelberger Str. auf. Sie randalierten und bewarfen unsere Posten mit Steinen.
Zu weiteren Menschenansammlungen auf Westberliner Gebiet kam es an der Jerusalemer-, Heinrich-Heine-, Friedrichstraße, am KP Oberbaumbrücke, KP 40 Markgrafendamm und Chausseestr. Am KP Oberbaumbrücke wurden unsere Posten ebenfalls mit Steinen beworfen. Am KP Chausseestr. versammelten sich gegen 21.30 Uhr ca. 300 Personen, wobei ca. 30 Jugendliche als geschlossene Provokationsgruppe auftraten und randalierten. Nach Einsatz des Wasserwerfers der VP drängte die Stupo die Menschenansammlung zurück. Am KP 27 (Am Kiesberg) wurde der Stacheldraht von westlicher Seite durchschnitten.
Gegen 20.30 Uhr wurde am KP 27 aus einem Funkstreifenwagen der Stupo eine Packung Zigaretten (im »Telegraf« eingewickelt) über die Grenze geworfen. Das Päckchen wurde von unseren Posten aufgehoben und zerrissen, wobei ein Knallkörper explodierte. Das Päckchen war ferner mit einem Hetzstreifen umwickelt.
Gegen 21.30 Uhr wurden unsere Posten zwischen dem KP 4 und 5 von Westberliner Seite mit KK beschossen. Die Schüsse gingen dicht neben dem Posten in Bäume und Büsche.
Durch DDR-Bürger, die in Westberlin zu Besuch waren, wurde berichtet, dass in Westberlin versucht wurde, sie einzuschüchtern und an einer Rückkehr in das demokratische Berlin zu hindern.
In der Berichtszeit hielten die Provokationen gegen die S-Bahn auch weiterhin an. Auf mehreren Bahnhöfen Westberlins wurden Provokateure mit Plakaten festgestellt, deren Inhalt sich gegen die Benutzung der S-Bahn richtete.
Am 28.8.1961, gegen 5.15 Uhr wurde zwischen den Bahnhöfen Spandau und Pichelsberg die Streckenfahrsperre 265 durch Eisenstücke blockiert. Dadurch erhielten mehrere Züge dieser Strecke bis zu 10 min Verspätung.
Die S-Bahn-Beschädigungen durch Westberliner Rowdys wurden auch weiter fortgesetzt, wobei in Westberlin 17 Beschädigungen festgestellt wurden. Im demokratischen Berlin kam es zu zehn Beschädigungen.
In Bezug auf die Informationen aus der Firma Eternit3 in Rudow (Bericht vom 27.8.1961) wurde bekannt, dass bisher 38 Arbeiter und sechs Angestellte entlassen wurden.
Einschätzung der taktischen Handlungen der westlichen Besatzungsmächte
In den taktischen Handlungen zeigte sich auch am 28.8.1961 keine wesentliche Veränderung. Die Maßnahmen bestanden im Wesentlichen in einer ständigen Streifentätigkeit. Die zum Einsatz gelangten Kräfte unmittelbar an der Grenze waren, insgesamt gesehen, nicht stärker als am Vortag. Während auf amerikanischer Seite die Bewegung von Gefechtsfahrzeugen entlang der Grenze eingeschränkt war, zeigten die französischen Kräfte eine aktive Patrouillentätigkeit mit SPW, MTW und zu Fuß entlang des gesamten Grenzabschnittes zwischen Lübars und Bornholmer Str. Im Verlauf des 28.8.1961 waren mehrfach Hubschrauber zur Kontrolltätigkeit entlang der Grenze eingesetzt, die teilweise das Grenzgebiet fotografierten. (Sonnenallee, Heinrich-Heine-Str., Potsdamer Platz, Brandenburger Tor, Schönefeld und Mahlow)
Ein französisches Flugzeug (Hochdecker) wurde in den Nachmittagsstunden des 28.8.1961 wiederholt über dem Tiergarten beobachtet.
An nachstehenden Punkten waren ständige Kräfte stationiert:
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Brandenburger Tor: im Raum Tiergarten/Zeltwiese/Platz der Republik aktive Fahrzeugbewegung der britischen Kräfte. Es wurden SPW, MTW, Jeep und Versorgungsfahrzeuge festgestellt, die auf der Strecke Siegessäule/Zeltwiese fuhren. Es wird vermutet, dass im gesamten Raum die britischen Einsatzkräfte (2 Inf. Züge) untergebracht sind und von dort aus die Streifentätigkeit entlang der Grenze ausüben.
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Friedrichstraße,
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Heinrich-Heine-Straße.
Weitere Punkte, die häufiger als alle anderen durch Streifen überwacht werden:
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Invalidenstr. und Potsdamer Platz.
An der Radarstation Rudow ergaben sich bis 15.00 Uhr (28.8.1961) keine Veränderungen. In den späten Nachmittagsstunden wurde mit dem Abbau der Funkstation auf dem Aschberg begonnen. Die Panzer wurden zurückgezogen und werden vermutlich hinter dem Aschberg aufgestellt.
Südlich der Enklave Eiskeller/Siedlung Falkenhöh wurden durch 20 englische Soldaten mit SPW die Pionierarbeiten unserer Kräfte laufend beobachtet. Es traten keine Provokationen militärischer Art an der Grenze auf.
2. Gegnerische Provokationen und Vorkommnisse im demokratischen Berlin
Am KP 19 kam es gegen 17.15 Uhr zu einer Ansammlung von ca. 30 Personen, die durch die VP aufgelöst wurde.
Zwei Personen, die den Anforderungen der VP nicht Folge leisteten, wurden dem Stützpunkt zugeführt.
Im Bereich des VPR 83 wurden an fünf Anschlagsäulen Wahlbekanntmachungen beschädigt.
Die Säulen werden neu plakatiert. (Untersuchungen führt die Abteilung K.)
Gegen 15.25 Uhr wurden in einem Wagenzug der BVG, Straßenbahnlinie 69 einige zerschnittene Sitzpolster festgestellt.
3. Grenzdurchbrüche, Desertionen
Die Grenzdurchbrüche haben sich im Berichtszeitraum offensichtlich weiter vermindert. Nach vorliegenden Hinweisen gab es im Berichtszeitraum an der Staatsgrenze um Berlin insgesamt zwei Grenzdurchbrüche mit drei Personen. Während eine Person in Staaken den Grenzzaun von einer Kfz-Werkstatt aus überstieg, brachen zwei männliche Personen an der Schillingbrücke durch die Grenzsicherung nach Westberlin. Darüber hinaus gibt es eine Nachmeldung eines Durchbruchs mit drei Personen im KP-Abschnitt Schönwalde/GB Groß Glienicke vom 27.8.1961.
Auch im Berichtszeitraum wurden eine Reihe Grenzdurchbrüche nach Westberlin verhindert, wobei insgesamt 18 Personen festgenommen wurden. Diese Festnahmen verteilen sich wie folgt:
Vier Personen, untereinander verwandtschaftlich verbunden, versuchten durch Bestechung der Grenzsicherungsposten vom demokratischen Berlin nach Westberlin zu gelangen. Eine sofort durchgeführte Hausdurchsuchung ergab, dass die »R-Flucht« vorbereitet war. Neben Westschmökern, 1 700 Westmark, wurde eine Pistole mit dazugehöriger Munition gefunden.
Sieben Personen wurden von der Transportpolizei festgenommen, als diese versuchten auf dem Gelände der Reichsbahn die Grenze nach Westberlin zu durchbrechen. Eine Person davon wollte durch einen U-Bahn-Schacht von Westberlin zum demokratischen Berlin durchbrechen.
Sieben Personen wurden von der DGP festgenommen, weil diese versuchten von der DDR den Westring von Berlin zu durchbrechen.
Einen Schwerpunkt bilden immer noch die Desertionen von VP-Angehörigen. Während der überwiegende Teil der Angehörigen der bewaffneten Organe allen Angriffen des Gegners widersteht und treu seine Pflicht erfüllt, gab es im Berichtszeitraum wiederum sechs Desertionen von VP-Angehörigen.
Um 1.25 Uhr desertierte im Abschnitt 5, Heidelberger Str., der VP-Uwm. [Name 1], 1. Komp., 5. Abteilung, 1. Brigade.[Name 1] war zusammen mit dem Uwm. [Name 2] als Doppelposten in der Heidelberger Str. eingesetzt. Auf westlicher Seite befand sich um diese Zeit ein FW der Stupo. Während der Streife forderte [Name 1] den Genossen [Name 2] auf, nachzusehen, was der FW der Stupo macht. Den Weggang des [Name 2] nutzte [Name 1] aus, stieg über den Zaun und begab sich zum FW der Stupo, welcher den [Name 1] abtransportierte. Karabiner, Munition und Schutzmaske wurden mitgenommen.
Gegen 1.30 Uhr sind die VP-Wm. [Name 3] und VP-Wm. [Name 4] im Abschnitt 1, Schildower Brücke, unter Mitnahme ihrer Karabiner und je 20 Schuss Munition, desertiert. Beide waren Angehörige der 1. Brigade, 4. mot. Abteilung, 4. Komp.
Im Abschnitt 5, Kiefholzstr., desertierten gegen 3.00 Uhr VP-Owm. [Name 5], VP seit 1959 und der VP-Wm. [Name 6], VP seit 1959. Beide waren als Streife eingesetzt und wurden letztmalig um 2.30 Uhr kontrolliert. Sie waren Angehörige der 5. mot. Abteilung (Nähere Untersuchungen werden noch geführt.)
Gegen 17.10 Uhr wurde der Soldat [Name 7], GB Groß Glienicke, KP Niederneuendorf, mit dem SMK-Boot G-65 fahnenflüchtig. [Name 7] benutzte die Gelegenheit, als der Bootsführer das Boot kurze Zeit verlassen hatte, zur Desertion. Der [Name 7] führte einen Karabiner, 1 MPi, eine Leuchtpistole und je einen Kampfsatz Munition mit. Das Boot hatte ein defektes Funkgerät an Bord. Es war zur Streife von der Papenbucht bis zur Enklave eingesetzt. Der Funkcodeschlüssel musste aufgrund dieses Vorkommnisses für die GB geändert werden.
Die Lage in den bewaffneten Kräften ist weiterhin als gut zu bezeichnen. Die Forderungen nach Ausgang und Urlaub machen sich jedoch stärker bemerkbar.
Ein besonderes Vorkommnis ereignete sich am 28.8., verursacht durch den VP-Uwm. [Name 8] von der Dienststelle des BS-Amtes Schönefeld. Er ließ sich zur Einsichtnahme in die Wählerlisten einige Stunden Urlaub geben. Gegen 15.30 Uhr feuerte er vier Schüsse aus seiner Dienstpistole auf seine Mutter ab. Sie musste mit zwei Oberschenkel- und zwei Bauchschüssen in das VP-Krankenhaus eingeliefert werden. Er selbst erschoss sich durch Kopfschuss. Die Ursachen dieser Tat sind noch nicht aufgeklärt. [Name 8] erhielt am 27.8.1961 einen Eilbrief von seiner Mutter, der im Zusammenhang mit dieser Tat stehen kann.
(Untersuchungen werden noch geführt.)
Zwei Posten des KP Schildow mussten wegen Trunkenheit und Verlassen des Postens entwaffnet und dem Stützpunkt I zugeführt werden.
4. Vorkommnisse
Aus den uns vorliegenden Berichten ist ersichtlich, dass sich die Lage auch auf diesem Gebiet weiter normalisiert hat.
Wiederum wurde beim Einlaufen des Fährschiffes »Warnemünde« in Gedser/Dänemark provoziert. 250 bis 300 Personen hatten sich am Kai versammelt. Auf Barkassen mitgeführte Hetzlosungen richteten sich gegen die Maßnahmen der DDR vom 13.8. Diese massierten Provokationen wurden von Land aus gefilmt. Die Touristen auf dem MS »Warnemünde« reagierten auf diese Provokationen nicht.
Im Hafen von Warnemünde sank 50 m vor der Mole der Hochseeschlepper »Greif«. Die Besatzung des Schleppers konnte gerettet werden. Die Ursachen sind noch nicht bekannt.
Im Auslieferungslager der GHK Nahrung und Genuss in Berlin-Pankow, Mühlenstr. brach am 28.8.1961 ein Brand aus. Der sofortige Einsatz der Feuerwehr verhinderte größeren Schaden. (Weitere Ermittlungen werden geführt.)
Im VEB Vieh- und Schlachthof Berlin ist zzt. eine überhöhte Viehanlieferung festzustellen. Die Kapazität des Viehhofes von 4 600 St. Schlachtvieh wurde bereits weit überschritten. Am 28.8. z. B. wurden insgesamt 7 600 St. Schlachtvieh angeliefert. Dadurch entstehen große Schwierigkeiten in der Unterbringung und Schlachtung des Viehs.