Lage nach dem Bau der Berliner Mauer (13)
29. August 1961
Bericht Nr. 496/61 über die Situation aufgrund der Schutzmaßnahmen der DDR
1. Gegnerische Pläne und Aktionen in Westberlin
In der Berichtszeit wurde bekannt, dass der DGB beabsichtige, Delegationen aus allen Großbetrieben Westdeutschlands, die in Zusammenarbeit mit den Betriebsinhabern gebildet werden sollen, nach Westberlin zu schicken. Einerseits soll damit eine »Unterstützung der Westberliner Arbeiter« dokumentiert werden und andererseits verspricht man sich davon nach Rückkehr dieser Delegationen aus Westberlin auch eine Beeinflussung der westdeutschen Arbeiterklasse im feindlichen Sinne.
Aus SPD-Kreisen wurde bekannt, dass es Pläne gibt, unmittelbar an der Grenze auf Westberliner Seite Freilichtveranstaltungen durchzuführen. Besonders sollen Filme gezeigt werden, von denen man sich eine Beeinflussung der Bevölkerung des demokratischen Berlins und der Grenzposten verspricht, z. B. sog. Reißer zur Ablenkung der Grenzposten.
Von der Agentenorganisation VOS1 werden seit 28.8. Hetzflugblätter verbreitet, die zu einer Kundgebung am 1.9., 20.00 Uhr, im Studentenhaus am Steinplatz (Säulensaal) aufrufen.
Wie erst jetzt bekannt wurde, hat die amerikanische Presseagentur UPI nach dem 13.8.1961 die redaktionelle Spitze ihres Büros in Westberlin verdreifacht und u. a. zwei der amerikanischen Spitzenredakteure aus New York nach Westberlin geholt. Von den Angehörigen des Büros wird dieser Schritt damit begründet, dass man jederzeit mit einem bewaffneten Zwischenfall rechne.
Der Westberliner Zoll notiert die Autonummern aller von Westberlin in das demokratische Berlin fahrenden Kraftfahrzeuge, ohne bei ihrer Rückkehr diese Notizen zu löschen.
Seit 29.8. wird besonders an den Übergängen Invalidenstraße, Sonnenallee und Chausseestraße von den westlichen Kontrollorganen verstärkt dazu übergegangen, alle Westberliner Bürger, besonders aber Ärzte und Spezialisten, die mit Pkw in das demokratische Berlin einfahren wollen, zu warnen und zurückzuhalten. U. a. wurde erklärt, dass sie aus dem demokratischen Berlin nicht wieder zurückgelassen würden. So wurden Dr. [Name 1] (Krankenhaus Weißensee), der Abteilungsleiter im Städt. Krankenhaus Berlin-Kaulsdorf, [Name 2], Dr. [Name 3], Facharzt für Röntgenologie in Bln.-Lichtenberg u. a. zurückgewiesen. Z. B. sind auch im Krankenhaus Friedrichshain eine Anzahl Ärzte, darunter Prof. Dr. Prschenke, nicht zum Dienst erschienen.
In der gleichen Absicht erhielten im demokratischen Berlin beschäftigte Westberliner Ärzte in der Nacht vom 28. zum 29.8. Anrufe mit der Aufforderung, das demokratische Berlin nicht mehr zu betreten, weil sie von unserer Seite aus nicht wieder zurückgelassen würden, u. a. weil im demokratischen Berlin im Gesundheitswesen der Notstand ausgerufen sei.
Die Versuche, in provokatorischer Form die Angehörigen der Sicherungsorgane zu beeinflussen und Grenzsicherungsanlagen zu zerstören, hielten auch weiterhin an, aber ohne zuzunehmen. So rotteten sich an den Kontrollpunkten Markgrafenstraße (20.35 Uhr), Chausseestraße (21.00 Uhr) und Sebastian-/Ecke Heinrich-Heine-Straße (23.00 Uhr) jeweils ca. 250 Personen – meist Jugendliche – zusammen, die versuchten, die Sicherungsanlagen zu beschädigen und die die Posten mit Steinen bewarfen. Zum Teil wurden die Ansammlungen von der Stupo zurückgedrängt und zum Teil durch unsere Grenzposten mittels Wasserwerfer und Nebelkerzen aufgelöst.
Am KP Alexandrinenstraße/Ecke Stallschreiberstraße rissen ca. 150 Rowdys die obersten Steinschichten der Sicherungsmauer in ca. 15 m Länge herunter.
Am KP 44 wurden ca. 10 m Zaun und fünf Lampen beschädigt.
Anhaltend war ferner der Einsatz Westberliner Lautsprecherwagen entlang der Grenze mit den Sendungen des sog. Studios am Stacheldraht.
Als verstärkt muss das Befahren des demokratischen Berlin durch Militär- und Missionsfahrzeuge der westlichen Alliierten eingeschätzt werden. Auch im Gebiet der DDR wurden solche Fahrten, u. a. auch in der Nähe der Bereitstellungsräume, festgestellt.
Weitere Provokationen ereigneten sich am KP Schmollerplatz, wo von Westberliner Seite aus eine Tränengasbombe gegen unsere Posten geworfen wurde, und am KP Kopenhagener Straße, wo zwei französische Offiziere eine Veränderung des Grenzverlaufs zwischen KP 8 und Wilhelmsruh forderten, weil der derzeitige Verlauf nicht stimme. Sie drohten, die Änderung selbst, »dann aber richtig«, vorzunehmen.
Vom SPD-Ostbüro2 wurde eine Hetzflugblattaktion gestartet. Es handelt sich dabei um eine Hetzschrift »Macht das Tor auf« und um den »Sozialdemokrat«. Exemplare dieser Hetzschriften wurden in den Bezirken Dresden (Kreis Kamenz und in den Gemeinden Rüsseina und Starbach), Halle (Kreis Gräfenhainichen), K.M.Stadt (Kreis Freiberg, Hainichen und Brand Erbisdorf), Leipzig (Kreis Delitzsch, Döbeln, Torgau, Wurzen und Oschatz) sichergestellt.
Einschätzung der taktischen Handlungen der westlichen Besatzungsmächte
Die taktischen Handlungen der Besatzungstruppen beschränkten sich wie in den Vortagen zum überwiegenden Teil auf eine Streifentätigkeit in größeren Zeitabständen. Die Streifen wurden sowohl zu Fuß als auch motorisiert eingesetzt. Außerdem wurde mehrmals die Grenze an verschiedenen Abschnitten des britischen und amerikanischen Sektors durch Hubschrauber abgeflogen.
Allgemein kann festgestellt werden, dass der Einsatz gepanzerter Kräfte nicht mehr in einer derartig konzentrierten Form wie in den Vortagen erfolgt und Panzer nur noch vereinzelt auftreten.
Nach Schätzungen beliefen sich die unmittelbar an der Grenze eingesetzten Kräfte auf:
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Franzosen: etwa eine schwache Inf.-Komp. – Im Verlauf des Tages wurden entlang der Grenze des franz. Sektors mehrmals Streifen zu Fuß in Stärken bis zu etwa zwölf Mann festgestellt, die mit den üblichen Handfeuerwaffen und Nachrichtengeräten ausgestattet waren. Zusätzlich erfolgte der Einsatz einiger SPW und Jeeps als motorisierte Streifen.
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Engländer: etwa ein bis zwei Züge SPW, die einzeln zum Einsatz kamen und in Abständen von etwa einer Stunde an der Grenze patrouillierten. Der Versorgungspunkt der Engländer befindet sich noch immer im Tiergarten.
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Amerikaner: etwa ein Zug Panzer (ca. 6 Panzer) und ein Zug SPW. Ständig eingesetzt waren ein bis zwei Panzer am KPP Friedrichstraße und zwei Panzer am KPP Heinrich-Heine-Straße. Die Grenzstreifen wurden motorisiert in größeren Zeitabständen durchgeführt.
Das Reichstagsgebäude wird von den britischen Truppen nach wie vor als Beobachtungspunkt benutzt. Es werden Eintragungen in Karten vorgenommen. An der Grenze des franz. Sektors wurden ebenfalls durch Offiziere Kartenvergleiche und -Eintragungen vorgenommen. Gegen 11.30 Uhr verletzte ein US-Hubschrauber den Luftraum des demokratischen Berlin durch mehrmaliges Kreisen im Raum Heinrich-Heine-Straße.
2. Gegnerische Provokationen und Vorkommnisse im demokratischen Berlin
Feindliche Handlungen im demokratischen Berlin traten nur vereinzelt auf.
In Berlin 0 112 wurden in drei Fällen Wahlplakate von unbekannten Tätern beschädigt.
In drei Fällen erhielten SED-Mitglieder anonyme Telefonanrufe provokatorischen und hetzerischen Inhalts.
Die in Bln.-Pankow, [Straße Nr.], wohnhafte [Name 4], ehem. Medizinstudentin an der »FU« in Westberlin wurde von einer unbekannten männlichen Person in ihrer Wohnung aufgesucht und zum Verlassen des demokratischen Berlins aufgefordert. (Untersuchungen werden noch geführt.)
Im Grenzabschnitt Gleimstraße und Eberswalder Straße fiel nach 0.00 Uhr die Grenzbeleuchtung aus. (Ursache konnte noch nicht ermittelt werden.)
3. Grenzdurchbrüche und Desertionen
In der Berichtszeit gelang es sechs Personen, die Grenze zu durchbrechen. Die Durchbrüche erfolgten in drei Fällen aus unmittelbar an der Grenze gelegenen Häusern (Bernauer Straße – eine weibliche Person durch Sprung aus dem Fenster, Wollankstraße 14 – zwei männliche Personen, die über den Bahndamm flüchteten).
Der Dumperfahrer [Name 5], ehem. Grenzgänger, seit 17.8. beim VEB Tiefbau Berlin-Mitte beschäftigt, nutzte eine Fahrt zur Schutthalde zwischen den KP 9 und 10 zur Flucht aus.
Eine männliche Person, die an Bauarbeiten in der Melchow-/Adalbertstraße beteiligt war, übersprang die Mauer, und eine Frau überstieg mit ihrem Kind die Mauer an der Lohmühlenstraße, wobei ihr von Westberliner Seite aus geholfen wurde. Die zuständigen Posten hatten ihren Bereich nicht eingehalten.
Ein Grenzdurchbruch von Westberlin ins Gebiet der DDR erfolgte in Staaken durch einen Soldaten der Bundeswehr im betrunkenen Zustand. Er wurde festgenommen.
In fünf Fällen wurden Grenzdurchbrüche verhindert. Dabei wurde der am 19.3.1934 geborene Roland Hoff getötet.3 Hoff versuchte am 29.8., gegen 14.00 Uhr den Teltow-Kanal in Höhe der ehem. Zehlendorfer Spinnerei zu durchschwimmen. Als H. auf Anruf und Warnschüsse nicht reagierte, wurde ein Zielschuss abgegeben, der ihn tödlich verletzte. Nach einer längeren Suchaktion konnte H. geborgen werden. Während der Suchaktion entfernten sich 40 Arbeitskräfte des Meliorisationsbetriebes GuM von ihrer Arbeit, angeblich aus Protest über die Erschießung des Grenzverletzers. Sie versammelten sich am Ufer des Kanals, um die Suchaktion zu verfolgen. Ein dabei provokatorisch auftretender Arbeiter wurde festgenommen. Auf Westberliner Seite versammelten sich ca. 70 Personen, davon ca. 30 Jugendliche, die bis zum Drahtzaun vordrangen, dann aber ohne Widerspruch zurückwichen.
In einem anderen Falle versuchten die Jugendlichen [Name 6] aus Sangerhausen und [Name 7] aus Brandenburg über die Enklave Steinstücken nach Westberlin zu gelangen. Sie sollten dabei vom Amtsvorsteher in Steinstücken, Reichhof unterstützt werden. U. a. wurden folgende Varianten erwogen:
- a)
mithilfe der alarmierten Westberliner Feuerwehr,
- b)
mit einem Handwagen unter Heu versteckt,
- c)
im Kofferraum eines Pkw,
- d)
auf dem Fußweg durch Täuschung der Posten.
Beim Versuch, mittels der letztgenannten Variante Steinstücken in Richtung Westberlin zu verlassen, wurden sie festgenommen. (Dieses Beispiel wird agitatorisch ausgewertet.)
Als Lücke im Sicherungssystem ist das Gebiet am Omnibus-Bahnhof Treptow anzusehen, das zzt. völlig unbewacht ist, weil die VP bereits am 26.8. dort abgezogen wurde, die anderen festgelegten Sicherungsmaßnahmen aber nicht eingehalten werden.
Auch die Desertionen von Angehörigen der Sicherungskräfte an der Grenze um Westberlin haben sich nicht erhöht. Insgesamt desertierten drei Angehörige der VP-Bereitschaften:
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Uwm. [Name 8], 1. Kompanie der 2. MA, der als Posten an der Sebastianstraße eingesetzt war. [Name 8] wurde von westlicher Seite angesprochen und aufgefordert zu flüchten. Zunächst reagierte er und der mit ihm eingesetzte Wm. nicht darauf. Als sich aber der Wm. zu einem Kontrollgang abwandte, nutzte [Name 8] dies zur Flucht aus. Von westlicher Seite wurde u. a. damit argumentiert, dass alles bereitstehe und er schnell kommen möchte, ehe es zu spät sei.
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Wm. [Name 9] und
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Wm. [Name 10], beide von der 1. Bereitschaft, 3. Abteilung, Abschnitt 6. Sie nutzten für ihre Flucht den Postendienst zwischen den KP 70/71 aus.
In einem Falle wurde durch Owm. [Name 11] und Wm. [Name 12] die Fahnenflucht des Wm. [Name 13] (3. Kompanie, 8. Bereitschaft) verhindert. [Name 13] befand sich bereits mit den Füßen auf der anderen Seite des Absperrdrahtes. Er wurde arrestiert.
Ohne die Lage in den bewaffneten Kräften wesentlich negativ zu beeinflussen, mehren sich jedoch die Beispiele unzufriedener und unklarer Diskussionen. Besonders wird erklärt, dass doch alles ruhig sei und man deshalb gewisse Erleichterungen schaffen könne. Dabei wird vor allem die Urlaubs- und Ausgangseinschränkung und die Dienstzeitregelung überhaupt angeführt. Vereinzelt treten auch folgende Ansichten auf:
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Das Tragen der langen Waffen sei nicht mehr notwendig (Skdo. der VPI Treptow).
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Der Abzug des Verpflegungsgeldes sei ungerechtfertigt, und man werde nach dem Einsatz kündigen, wenn keine Änderung erfolgt (VPI Lichtenberg).
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Die Behandlung durch die Offiziere sei schikanös (8. Bereitschaft der VP, 3. Kompanie).
In der letzteren Bereitschaft wird von den Wachtmeistern außerdem bemängelt, dass sich bisher niemand gefunden habe, um ihnen die politische Situation richtig zu erklären. Sie waren deshalb froh darüber, sich mit den Angehörigen der Kampfgruppen über diese Frage zu unterhalten.
In den Einheiten der 13. und 14. Grenzbereitschaft gibt es neben starken Diskussionen über die Urlaubs- und Ausgangseinschränkung auch einzelne politische Schwankungen. Z. B. gibt es Äußerungen, dass die Regierung der DDR an der gegenwärtig gespannten Lage schuld sei. Vorher wäre die Situation nicht so kritisch gewesen, um die Maßnahmen vom 13.8. einzuleiten. Ferner wird Unverständnis geäußert, dass ein Verbot der Kontaktaufnahme mit Westberlinern, »die ja auch deutsche Menschen seien«, bestehe.
In Einzelfällen kam es sogar zu Befehlsverweigerungen und Verlassen des Postens (4. mot. Abteilung).
4. Vorkommnisse
Bereits am 28.8. erhielt die SED-Kreisleitung Hildburghausen/Suhl einen anonymen Drohbrief aus Westdeutschland/Marburg. »Euer Sklavenhalter Ulbricht wird die Rede zum 12. Jahrestag der Republik am 7.10.1961 nicht mehr halten. Haltet Euch nach dem Attentat an Willi Stoph.«