Lage nach dem Bau der Berliner Mauer (17)
2. September 1961
[Bericht] Nr. 530/61 über die Situation aufgrund der Schutzmaßnahmen der DDR
Gegnerische Pläne und Aktionen in Westberlin
Auf dem Reichskanzlerplatz in Westberlin wurde in den Abendstunden des 2.9.1961, gegen 20.00 Uhr eine Kundgebung der »Deutschen Jugend des Ostens«1 abgehalten, auf der Brandt eine Ansprache von ca. 30 Minuten hielt. Die Versammelten, ca. 600 Teilnehmer, waren fast ausschließlich Angehörige der DJO, die auf Transparenten hetzerische Losungen mit sich führten. Es wurden Flugblätter verteilt und Abzeichen verkauft. Allgemein herrschte unter den Jugendlichen Enttäuschung, wegen der geringen Beteiligung der Westberliner Bevölkerung.
An den Grenzen zur DDR bzw. des demokratischen Berlin werden die Hetzsendungen des Senders »Stacheldraht«2 von Westberliner Boden aus verstärkt fortgesetzt. Im Mittelpunkt des über Lautsprecher gesendeten Inhaltes stehen weiterhin die Aufforderung »die Waffen niederzulegen« und »nicht auf Brüder und Schwestern zu schießen«. Gegenwärtig häufen sich die Provokationen mittels Androhung von Schusswaffen, durch Angehörige der Westberliner Polizei und des Zolls, gegenüber den eingesetzten Sicherungskräften. Bereits am 1.9.1961 wurde ein Offizier der deutschen Grenzpolizei an der S-Bahn-Strecke Hennigsdorf–Heiligensee durch einen Zöllner mittels gezogener Pistole bedroht. An der Brücke der Einheit/Potsdam begab sich ein Westberliner Zöllner bis zur Brückenmitte, zog seine Pistole und richtete sie in provokatorischer Weise auf die Posten des AZKW.
Im Verlaufe des 1. und 2.9.1961 ereigneten sich weitere Fälle des Beschusses der Sicherungskräfte von Westberliner Gebiet. Am 1.9.1961, gegen 21.15 Uhr wurde am KP 68 ein GAS Kübel der Bereitschaftspolizei von westlichem Gebiet, mit KK-Munition beschossen. Am 2.9.1961 ereignete sich am KP 68/69 und 72 erneut ein derartiger Zwischenfall. Gegen 21.50 Uhr wurde der Posten am KP 72 aus Richtung Kiesberg, mit sechs Schuss (vermutlich aus einer KK-Waffe), beschossen. In beiden Fällen konnte der Täter noch nicht festgestellt werden. Die weiteren Ermittlungen werden zurzeit noch geführt.
Am 2.9.1961, gegen 15.10 Uhr wurde die Kontrollstreife der DGP der Kompanie Großziethen, Kreis Königs Wusterhausen, an der Schillerstr. durch einen amerikanischen Militärangehörigen mit einer MPi bedroht. Dieser wurde von einem weiteren in einem Jeep befindlichen amerikanischen Militärangehörigen gedeckt.
Am 2.9.1961, gegen 17.50 Uhr soll von einem Hubschrauber, unbekannter Nationalität, über dem S-Bahn-Gelände des BW Gesundbrunnen, in einer Höhe von ca. 500 bis 700 m, ein Ballon aufgelassen worden sein, an welchem ein kleinerer, silbern glänzender Kasten, angebunden war. Gegen 18.00 Uhr überflog in etwa 1 000 m Höhe ein Ballon das EAW Treptow in Richtung demokratisches Berlin.
Vom KPP Oebisfelde/Staatsgrenze West wurde bekannt, dass der westdeutsche Passkontrolldienst am dortigen Kontrollpunkt westdeutsche Messebesucher dahingehend zu beeinflussen versuchte, nicht die Messe zu besuchen, da angeblich in Oebisfelde sofort die Festnahme durch DDR-Organe erfolgen würde. Die westdeutschen Messebesucher sollen aufgefordert worden sein, in Wolfsburg auszusteigen und von einem Messebesuch Abstand zu nehmen.
An der Staatsgrenze West wurde durch die Kontrollorgane der DDR wiederholt festgestellt, dass in den westdeutschen Kontrollpunkten bewusst Stauungen herbeigeführt wurden, um dann eine größere Anzahl von Fahrzeugen auf einmal die KPP der DDR anfahren zu lassen. Es wurde die Vermutung geäußert, dass dadurch bei den auftretenden Verzögerungen im Kontrollablauf Unzufriedenheiten unter den westdeutschen Reisenden gegen die Organe der DDR erzeugt werden soll.
Einschätzung der taktischen Handlungen der westlichen Besatzungsmächte
Die taktischen Handlungen der Besatzungsmächte an der Staatsgrenze nach Westberlin sind nach wie vor durch eine Streifentätigkeit in längeren Zeitabständen mit SPW, MTW, Jeep und auch Fußstreifen gekennzeichnet. Der Schwerpunkt der Streifentätigkeit liegt entlang der Staatsgrenze im Stadtkern von Berlin, zwischen den Kontrollpunkten Chausseestraße, Invalidenstraße, Brandenburger Tor, Potsdamer Platz und Friedrichstraße.
Bemerkenswert ist, dass die Streifentätigkeit der Franzosen mit geringeren Kräften als an den Vortagen durchgeführt wurde. Bei den englischen und amerikanischen Truppeneinheiten ist der Personal- und Materialaufwand etwa konstant geblieben.
Auf dem am 1.9.1961 abgebrochenen Zeltplatz der Engländer vor dem Reichstag wurden keine feststationierten Kräfte der Besatzungsmächte mehr festgestellt. Nach vorhandenen Hinweisen wurden die bisher dort befindlichen Fahrzeuge in Richtung Olympia-Stadion zurückgezogen.
Im Stadtgebiet wurde erstmals kein Hubschrauber zur Beobachtung der Staatsgrenze eingesetzt. Nur im Bereich der Staatsgrenze der DDR nach Westberlin, im Raum Klein-Ziethen/Mahlow, konnte der Einsatz eines Hubschraubers zur Grenzaufklärung beobachtet werden.
Der auf dem Reichstag von britischen Truppen eingerichtete Beobachtungsstand war den Tag über von 6.25 Uhr ab mit ca. fünf britischen Soldaten besetzt.
Nach vorliegenden Einschätzungen betragen die eingesetzten Kräfte der Besatzungsmächte für den Streifendienst etwa:
- –
Franzosen: Ein Zug mot. Schützen mit zwei SPW und Jeep,
- –
Engländer: Zwei Züge mot. Schützen mit sieben SPW, mehreren MTW und Jeep,
- –
Amerikaner: Ein Zug mot. Schützen mit fünf Jeeps, die mit Nachrichtenmitteln ausgestattet sind. (ca. 15–20 Mann)
In der Berichtszeit kam es durch Angehörige der Besatzungstruppen zu mehreren Grenzverletzungen bzw. provokatorischen Handlungen gegenüber den Sicherungsposten der DDR. Gegen 10.15 Uhr überfuhr ein britischer SPW am KP Invalidenstraße die Staatsgrenze um ca. 8 m. Die Aufforderung, sich nach Westberlin zurückzuziehen, wurde nur zögernd befolgt. Gegen 15.10 Uhr flog ein Hubschrauber der US-Streitkräfte die Staatsgrenze nach Westberlin im Bereich Klein-Ziethen/Mahlow, ab. Dabei wurde der Luftraum der DDR mehrmals um etwa 15 bis 20 m verletzt. Gegen 23.45 Uhr überschritt ein amerikanischer Militärpolizist mit gezogener Pistole den KP Friedrichstraße.
Am 2.9.1961 wurde im Gebiet Staaken, am Hahneweg ein ca. 2 m hoher Erdwall aufgeschüttet. Neben dem Erdwall sind etwa 30 2-Mann-Zelte errichtet worden. Soldaten konnten noch nicht festgestellt werden. In den Smuts Barracks stehen noch immer ständig aufgetankte Fahrzeuge der britischen Truppen einsatzbereit auf den Hof.
Durch eine zuverlässige Quelle wurde bekannt, dass im Quartier Napoleon eine aus Algerien kommende Fallschirmjäger-Kompanie erwartet wird. Mit dem Eintreffen der Verstärkung wird in der Woche vom 4.9. bis 9.9.1961 gerechnet. Französische Offiziere äußerten sich hierzu, dass diese Verstärkung völlig sinnlos wäre, da Westberlin im Fall eines Krieges ein hoffnungsloser Fall sei und einem zweiten Stalingrad gleichkäme.
Gegnerische Provokationen im demokratischen Berlin
Am 2.9.1961, gegen 12.45 Uhr wurde in der Umgebung des Marx-Engels-Platzes ein amerikanischer Staatsbürger festgenommen, da er Postenketten und Posten der VP fotografierte. Nach kurzer Vernehmung durch die KD Berlin Mitte wurde er den sowjetischen Genossen zur weiteren Bearbeitung übergeben.
Im demokratischen Berlin konzentrieren sich die feindlichen Handlungen weiterhin auf hetzerische Äußerungen sowie Diversionsakte verschiedener Art. Im abgelaufenen Berichtszeitrum wurde an verschiedenen Stellen des demokratischen Berlin (Dimitroffstr.–Lichtenberg/Friedrichsfelde) festgestellt, dass Plakate mit den Porträts der Kosmonauten Gagarin und Titow abgerissen bzw. zerstört wurden. Es kam in mehreren Fällen zu Festnahmen wegen staatsgefährdender Hetze. Insgesamt wurden im abgelaufenen Berichtszeitraum zwölf Festnahmen getätigt.
Darunter befand sich auch die Festnahme des Schauspielers und Regie-Assistenten [Name 1] aus Hamburg, da er im Besitz von zwei westdeutschen Personalausweisen war.3
Erstmalig kam es an der Grenze nach Westberlin am KP 20 – Gartenstraße – zu einer Ansammlung von ca. 40 bis 50 Personen. Der eingesetzte Funkstreifenwagen der VP konnte die Ansammlung nicht auflösen, sodass eine Reservegruppe der Bereitschaftspolizei eingesetzt werden musste, die jedoch ohne Schwierigkeiten die Menschenansammlung auflösen konnte. Die Kontrolle der beteiligten Personen wurde dabei unterlassen.
Grenzdurchbrüche und Desertionen
In der Berichtszeit wurde nur eine geringe Anzahl von Grenzdurchbrüchen und Desertionen4 nach Westberlin bzw. Westdeutschland gemeldet.
Wegen Verdacht der Republikflucht wurden im Berichtszeitraum am Ring um Berlin durch die DGP sieben Personen festgenommen und der VP übergeben. Beim Versuch, das demokratische Berlin zu verlassen, wurden zwei Personen durch Sicherungskräfte festgenommen. Die Abschnitte des versuchten Grenzdurchbruches waren KP Wolliner Straße und das S-Bahn-Gelände der Umfahrt zum Bahnhof Köllnische Heide. Während des 2.9.1961 wurde nur ein Fall des gelungenen Grenzdurchbruches im demokratischen Berlin bekannt, der sich an der Markgrafenstr.-/Ecke Zimmerstr. in den Nachmittagsstunden gegen 16.00 Uhr ereignete. Durch die Unachtsamkeit des VP-Postens gelang es einer männlichen Person (ca. 20 Jahre) das Stacheldrahthindernis und die Steinmauer zu überwinden.
Am gleichen Tage erfolgte ein Grenzdurchbruch aus Richtung Westberlin in die DDR. Im Abschnitt der DGP, GB Groß Glienicke, KP Sacrow/Potsdam, durchschwammen zwei Westberliner Jugendliche die Staatsgrenze. Beide wurden von der Grenzpolizei festgenommen und dem VPKA Potsdam zugeführt.
An der Staatsgrenze West ereigneten sich am 2.9.1961 zwei Grenzdurchbrüche in Richtung DDR–Westdeutschland. Gegen 15.45 Uhr durchbrachen das Ehepaar [Vornamen, Nachname 2] mit zwei Kindern, wohnhaft Ummerstadt, Kreis Hildburghausen, die Staatsgrenze West. Die Ursachen sind vermutlich darin begründet, dass am 29.8.1961 in einer Gemeinderatssitzung von Ummerstadt der Beschluss gefasst wurde, den [Nachname 2] auszusiedeln, falls er nicht in der LPG in Zukunft besser mitarbeiten würde. Bereits am 19.8.1961 soll der Bürgermeister Seifert dem [Nachname 2] Arbeitslager angedroht haben.
Mit diesem Vorkommnis wird bereits der zweite Fall bekannt, in welchem offensichtlich die Aussiedlung wegen schlechter Arbeitsmoral angedroht wurde, die zu einer Republikflucht führten. In mehreren Fällen konnten durch die Sicherungsarbeit der DGP schwerere Grenzdurchbrüche verhindert werden. U. a. wurde in Harbke, Kreis Oschersleben, der schwer angetrunkene Traktorist [Name 3] am 10-m-Streifen gestellt, als er versuchte, mit einem Traktor nach Westdeutschland zu entkommen.
Im Berichtszeitraum desertierten zwei Angehörige des Luftschutzes im Postenbereich des KP 9–Klemkestr. Es handelt sich um den [Name 4] – geboren [Tag, Monat] 1942, wohnhaft in Leipzig und den [Name 5] – geboren [Tag, Monat] 1938, wohnhaft in Karl-Marx-Stadt. Beide Luftschutzangehörige hatten Befestigungsarbeiten an den Sicherungsanlagen auszuführen, die sich hinter der ersten Sicherungslinie der Staatsgrenze befanden. Dadurch war es den diensthabenden Posten nicht möglich, die Fahnenflucht zu verhindern.
Im Zusammenhang mit den Grenzdurchbrüchen an der Staatsgrenze West wurde die Fahnenflucht des Angehörigen der Kampfgruppe [Name 6] – geboren [Tag, Monat] 1928 – am 1.9.1961, gegen 22.45 Uhr im Bereich der DGP, Kompanie Behrungen, bekannt. [Name 6] war Angehöriger der Kampfgruppeneinheit Wasungen, die sich zum Sperrenbau im Einsatz befand. Während der Einnahme einer Mahlzeit, entfernte er sich gegen 22.30 Uhr unbemerkt von seiner Einheit.
Vorkommnisse in der DDR
Im geringfügigen Umfang hält die Hetze und das Verbreiten illegaler Flugblätter auf dem Gebiet der DDR an. So wurde am 1.9.1961 in den Rathenower Optischen Werken, Abteilung Oberfläche, an drei Toilettentüren hetzerische Losungen gegen den Genossen Ulbricht angebracht. Wie erst jetzt bekannt wurde, wurde dem Bürgermeister der Gemeinde Belzig, Bezirk Potsdam, am 28.8.1961 auf postalischem Weg ein selbstgefertigtes Flugblatt (DIN A 4) mit folgendem Inhalt übersandt: »Zettelabgabe am 17.9.1961 ohne uns, erst KZ-Mauer in Berlin weg.«
In gleicher Form mehren sich die Hinweise über provokatorische Handlungen, die gegen die Volkswahlen am 17.9.1961 gerichtet sind. So wurde am 1.9.1961, gegen 23.00 Uhr in der Gemeinde Zschepkau, Kreis Kyritz von zwei Jugendlichen der Schaukasten des Rats der Gemeinde zerstört, in welchem sich ein Wahlplakat der Nationalen Front befand.
In der Nacht vom 1. zum 2.9.1961 wurden im Institut für Lehrerbildung Köthen auf dem Appellplatz sechs blaue und drei rote Fahnen aus der Erde gerissen und in einen Springbrunnen geworfen.
Noch in den Abendstunden des 1.9.1961 wurde auf diesem Gelände zur Begrüßung der neuimpatrigulierten [immatrikulierten] Studenten ein Lagerfeuer durchgeführt. Nach Abschluss, etwa gegen 22.00 Uhr, waren noch keine Beschädigungen festgestellt worden. Operative Maßnahmen zur Aufklärung wurden eingeleitet.
Am 2.9.1961, gegen 5.10 Uhr wurde auf dem Bahnhof Albrechtshof der Triebwagenzug aus Falkensee durch mehrere Warnschüsse der DGP-Streife zum Stehen gebracht. Der Triebwagenzug, der Angestellte der Reichsbahn, die in Westberlin arbeiten, nach Spandau bringt, hatte ca. 13 min Verspätung, welches der Streife nicht zur Kenntnis gegeben wurde. Es muss hier auf die bereits gefertigte Einzelinformation verwiesen werden.5
Im abgelaufenen Berichtszeitraum traten zwei Fälle von fahrlässigem Schusswaffengebrauch durch Angehörige der bewaffneten Kräfte auf. Bereits am 29.8.1961 verursachte der Angehörige der Bereitschaftspolizei Wm. [Name 7] vom Pionierzug der 3. Bereitschaft Potsdam einen Unfall durch fahrlässigen Schusswaffengebrauch, indem er sich den linken Oberarm durchschoss (Fleischwunde). Nach Aussagen des [Name 7] soll die Auslösung von drei Schuss Einzelfeuer darauf zurückzuführen sein, dass er bei seinem Postengang am Drahtgeflecht hängen blieb und er dabei an den Abzugsbügel der MPi gekommen sei. Die Überprüfungen ergaben Ungenauigkeiten in der Aussage des [Name 7], sodass die weitere Untersuchung durch die Militärstaatsanwaltschaft geführt wird.
Am 2.9.1961 zog sich der Angehörige der DGP Uffz. [Name 7] vom KP Schönefeld, 13. GB beim Überspringen eines Hindernisses durch Schussverletzung am linken Bein eine leichte Wunde zu. Es liegt fahrlässiger Schusswaffengebrauch vor, da er statt der vorschriftsmäßig 40 Schuss 45 Schuss unterladen hatte.
Am 2.9.1961, gegen 18.15 Uhr beging der Angehörige der DGP Soldat [Name 8] – geboren [Tag, Monat] 1942, DGP seit 30.5.1961, von der Wachkompanie Pätz, Selbstmord. Vor dem Wachaufzug suchte er die Toilette auf und erschoss sich mit seiner MPi.