Lage nach dem Bau der Berliner Mauer (4)
21. August 1961
[Bericht] Nr. 466/61 über die Situation aufgrund der Schutzmaßnahmen der DDR
1. Zur diplomatischen und politischen Aktivität
Konkrete Erklärungen aus Regierungskreisen der Westmächte und Westdeutschlands zur Antwortnote der Sowjetregierung auf die sog. Protestschreiben der Regierungen der Westmächte liegen noch nicht vor.1
Ein Sprecher des USA-Außenministeriums teilte am 19.8. mit, ein sofortiger Kommentar sei dazu nicht zu erwarten. Die Feststellung, dass die Schließung der Grenzen keine Verletzung von 4-Mächte-Vereinbarungen bedeute, bezeichnete er als absurd.
Vertreter des französischen Außenministeriums erklärten zur Sowjetnote lediglich, die Maßnahmen der DDR bedeuteten nur eine Phase einer Entwicklung, die zu einer großen internationalen Krise führen könne, wenn die Sowjetunion im Herbst 1961 einen Friedensvertrag mit der DDR unterzeichnet.
Nach Auffassung eines Beamten des britischen Außenministeriums enthalte die Note keine nennenswerten neuen Aspekte.
Auch am 20.8.1961 wurde in den westlichen Reaktionen auf die Schutzmaßnahmen der DDR immer deutlicher die Tendenz sichtbar, allein schon auf die Forderung nach »drastischen Gegenmaßnahmen« zu verzichten.
Angesichts der Tatsache, dass am 20.8. eine amerikanische »Kampfgruppe« in Stärke von 1 500 Mann (282 Fahrzeuge, 6 Feldhaubitzen, 12 Geschütze, 4 SMG, 71 Funkgeräte, 100 t Munition usw.) in Westberlin eintraf und dort eine demonstrative Parade vor der Bevölkerung durchführte, ist zur Einschätzung der Haltung der USA zu den Maßnahmen der DDR die Äußerung des USA-Vizepräsidenten Johnson gegenüber Adenauer bemerkenswert, die Verstärkung der Streitkräfte in Westberlin dürfe keinesfalls so aufgefasst werden, dass die USA »irgendwelche aggressive Maßnahmen« in Westberlin planen. Die USA-Regierung sei der Meinung, dass diese Verstärkung notwendig sei, um das Verhandlungsgleichgewicht mit der Sowjetunion in Berlin wieder herzustellen. Durch die Anwesenheit von Panzern der Volksarmee in »Ostberlin« sei dieses Gleichgewicht gestört worden.
Diese Mitteilung machte von Brentano am 19.8.1961 vor dem Westberliner CDU-Landesvorstand, als er über den Inhalt der Gespräche zwischen Johnson und Adenauer berichtete. Er teilte ferner mit, dass er von Kennedy den Auftrag erhalten habe, den Westberliner Senat und »alle Organisationen« zu ersuchen, Besonnenheit an den Tag zu legen und keine weiteren selbstständigen Aktionen oder Provokationen an der Grenze, bei der S-Bahn usw. durchzuführen, solange nicht endgültig feststehe, dass Verhandlungen mit der Sowjetunion scheitern werden.
Im Kommuniqué über die Gespräche Johnsons und Adenauers, an denen von Bonner Seite außerdem von Brentano, Globke und der Bonner Botschafter in London, von Etzdorf, teilnahmen, heißt es, dass versucht werden müsse, durch Verhandlungen mit der Sowjetunion eine »zufriedenstellende Regelung« zu erzielen.2
Von Brentano erklärte in diesem Zusammenhang, die USA-Regierung sei sich klar darüber, dass schnellstens mit der Sowjetunion verhandelt werden müsse. Interessant ist dabei die Feststellung, man könne nicht ultimativ die Vorbedingung stellen, dass erst die Maßnahmen der DDR rückgängig gemacht werden.
Welche Hintergründe diese zzt. auffällig zur Schau getragene »Bereitschaft« der USA zu Verhandlungen mit der Sowjetunion hat, legte – wie intern bekannt wurde – von Brentano auf der gemeinsamen Sitzung des Außenpolitischen und Gesamtdeutschen Ausschusses des Bundestages am 19.8. dar, indem er erklärte, die USA wollten im Rahmen der diplomatischen Aktivität alles tun, um durch Verhandlungen mit der Sowjetunion den Abschluss eines Friedensvertrages mit der DDR hinauszuzögern.
Die Absicht der Westmächte, durch nutzlose und endlose Verhandlungen die Lösung der brennenden Fragen in Deutschland zu verschleppen, wird ebenfalls aus den Worten von Brentanos deutlich, dass zwar der Sowjetunion Verhandlungen angeboten werden sollen, dass man sich aber nicht auf ein festes Programm und eine feste Tagesordnung konzentrieren wolle. Die zur Debatte stehenden Fragen sollten der Reihe nach auf den Verhandlungstisch gelegt und »unverbindlich« erörtert werden. (ähnlich wie bei dem Gespräch zwischen Chruschtschow und Kennedy in Wien)3 Ende August soll auf einer gemeinsamen Sitzung der Viermächte-Arbeitsgruppe und der westlichen Außenminister eine Einigung über diese westliche Verschleppungstaktik erzielt werden.
Die Differenzen zwischen Washington und Bonn wurden in diesem Zusammenhang auch durch die Äußerung Brentanos offensichtlich, dass er persönlich von einem solchen Vorhaben nichts halte. Ferner hätten die Westmächte die Tatsache, dass sich durch die Maßnahmen der DDR der Viermächtestatus in Berlin als ein »bedeutungsloses Dokument« erwies, allzu leicht genommen. Westdeutschland sei in einer heiklen Lage. Die Westmächte würden nur vorsichtig reagieren. Trotz pausenloser Beratungen kam es nicht zu einer Einigung über Gegenmaßnahmen. Wirtschaftliche Sanktionen seien kaum durchführbar, weil der Westen kein Embargo wolle. Die Maßnahmen auf militärischem Gebiet bezeichnete von Brentano als Gesten. Alle Maßnahmen blieben wirkungslos, wenn sie nicht vom gesamten Westen in Angriff genommen würden. Er bedauerte, dass nicht alle NATO-Staaten das »notwendige Verständnis« aufbringen würden.
USA-Vizepräsident Johnson führte am 20.8. mit seiner Begleitung zwei Gespräche mit Brandt. Er überreichte Brandt u. a. das Antwortschreiben Kennedys, das, wie es heißt, nicht veröffentlicht werden soll. (Bekanntlich war das Schreiben Brandts an Kennedy durch eine wahrscheinlich gezielte Indiskretion am 19.8. in die Presse gelangt.)4
Am 21.8.1961, um 4.00 Uhr flog Johnson direkt nach Washington zu einer Besprechung mit Kennedy zurück. Am Nachmittag des 20.8. fuhren Johnsons Begleiter Clay und Bohlen5 für 30 Minuten in das demokratische Berlin. Brandt erklärte am Abend des 20.8. im Rundfunk lakonisch, dass er mit den Gesprächen, die er mit den Vertretern der USA-Regierung führte, zufrieden sei. Von evtl. westlichen Gegenmaßnahmen sagte er kein Wort. Er teilte lediglich mit, dass die Konsultationen zwischen dem Senat und der USA-Regierung fortgesetzt werden sollen.
Während seines Gespräches mit den Botschaftern der Westmächte am 14.8.1961 in Bonn musste sich von Brentano – wie jetzt intern bekannt wurde – vom amerikanischen Botschafter Dowling sagen lassen, dass es für die USA schwierig sei, etwas zu tun.6 Die DDR habe ihre Maßnahmen sehr klug eingefädelt sowie die »Rechte« der Alliierten und die Verbindungen zwischen Westdeutschland und Westberlin, aber auch die inneren Verhältnisse in Westberlin nicht angetastet. Von einem Truppeneinsatz gegen die Volksarmee könne gleich gar nicht die Rede sein, weil dies unvermeidlich zum Ernstfall führen müsse. Schließlich stehe hinter der Volksarmee die »Rote Armee«. (Der Hinweis, dass die »Rechte« der Alliierten und die Verbindungen zwischen Westdeutschland und Westberlin nicht angetastet wurden, veranlasste Brandt auf der Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion am 18.8.1961, die Westmächte eines »grundfalschen Standpunktes« zu bezichtigen.)7
Charakteristisch für die Unsicherheit und Ratlosigkeit in Bonner Regierungskreisen ist die Tatsache, dass von Brentano die Mitglieder des Außenpolitischen und Gesamtdeutschen Ausschusses auf der erwähnten Sitzung am 16.8. aufforderte, ihrerseits Vorschläge zu unterbreiten, was die Bundesregierung in einer solchen Lage tun könne. Das führte zu einer regelrechten Bestürzung der Ausschussmitglieder.
Es ist bemerkenswert, dass z. B. Gerstenmaier gegenüber Brandt zugeben musste, dass die Bonner Regierung keinerlei Vorkehrungen für Maßnahmen jener Art, wie sie die Regierung der DDR am 13.8. einleitete, getroffen hatte. In Bonn sei nur über Konsequenzen der Abriegelung Westberlins von seinen Verbindungen nach Westdeutschland beraten worden.
Um die Differenzen zwischen Bonn und den Westmächten, besonders den USA, nach außen hin zu vertuschen, rief Adenauer in seiner Fernsehrede am 19.8. dazu auf, kein Misstrauen gegenüber den USA wegen ihrer Haltung zu den Maßnahmen der DDR aufkommen zu lassen. Es dürfe nicht zu einer Vertrauenskrise kommen.8
Die führenden Vertreter der SPD, wie z. B. Ollenhauer, wiesen darauf hin, dass die Westmächte, besonders die USA und Großbritannien, nicht durch die Bundesrepublik in eine Lage manövriert werden möchten, die für sie gefährlich werden könnte.9 Die britische Regierung neige sehr dazu, sich das »Ärgernis« in Berlin vom Halse zu schaffen. Eine solche Entwicklung sei für die Bundesrepublik äußerst unglücklich und müsse verhindert werden. Ollenhauer vertrat ebenfalls die Auffassung, dass es notwendig sei, Zeit zu gewinnen, indem alle Deutschland betreffenden Fragen bei Verhandlungen mit der Sowjetunion »einheitlich« behandelt werden sollten. Dadurch könne verhindert werden, dass der »Osten« ein Problem nach dem anderen löst und der Westen vor vollendeten Tatsachen steht.
Wehner meinte, die mangelnde Reaktion des Westens sei viel schlimmer als die Maßnahme der DDR selbst. Er beklagte sich darüber, dass die Westmächte die neuen Tatsachen zur Kenntnis nehmen würden. Die Bonner Regierung forderte er auf, sämtliche Geschäftsverbindungen zur DDR einzustellen, den kulturellen Austausch zu unterbinden und die Beteiligung von Firmen an der Leipziger Messe zu untersagen.10
Es ist jedoch festzustellen, dass in Westdeutschland und Westberlin die Forderung beispielsweise nach Kündigung des Abkommens über den innerdeutschen Handel fast verstummt ist. Maßgebliche Westberliner FDP-Funktionäre meinten, vor einer solchen Aktion müsse gewarnt werden. Die Kündigung im Jahre 1960 sei ein Schuss nach hinten gewesen. Lemmers Staatssekretär Thedieck meinte, der Zeitpunkt für wirtschaftliche Gegenmaßnahmen (Boykott gegenüber den sozialistischen Ländern) müsse sehr sorgfältig erwogen werden.
Übereinstimmend wird von Bonner und Westberliner führenden Kreisen eingeschätzt, dass durch die Maßnahmen der DDR eine prekäre Lage in der Westberliner Wirtschaft eingetreten ist. Brandt sprach von »ernsten Lücken« und der dringenden Notwendigkeit, Fachkräfte aus Westdeutschland nach Westberlin zu beordern, um die sonst »unvermeidliche Katastrophe« zu verhindern. In Westberlin gebe es keinerlei Arbeitskräftereserven mehr.
Auch der Vizepräsident des handelspolitischen Ausschusses im EWG-Parlament, Dr. Löhr, meinte, in Westberlin werde jede Arbeitskraft gebraucht. Die EWG-Staaten sollten zwar zusätzliche Aufträge nach Westberlin vergeben, es sollten aber auch die 50 000 vorhandenen offenen Arbeitsstellen besetzt werden. Amrehn habe zugesagt, dass das Westberliner Landesarbeitsamt sofort Meldungen von Arbeitskräften aus Westdeutschland entgegennimmt.
Lemmer teilte in diesem Zusammenhang mit, dass sein Ministerium beabsichtige, mit dem Westberliner Senat Maßnahmen zu besprechen, um die West-Ost-Grenzgänger an ihrer Arbeit im demokratischen Berlin zu hindern. Unter diesen Arbeitern seien viele, die lebenswichtige Berufe ausüben. In einem Schreiben an die Dekane der Technischen Universitäten Westberlins vom 15.8. verbot Brandt den Wissenschaftlern Dienst- oder Geschäftsreisen in die DDR.
Der Westberliner Senator Klein11 forderte als Gegenmaßnahme kategorisch das Verbot der SED in Westberlin. Demgegenüber erklärte das Mitglied des Landesvorstandes der Westberliner SPD, Jannicke, Ausschreitungen gegen SED-Büros in Westberlin könnten Rückwirkungen auf die Tätigkeit der SPD im demokratischen Berlin haben. Die SED-Büros dürften nicht mehr Rechte haben, als der SPD im demokratischen Berlin eingeräumt würden.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich nach den Worten Jannickes der Westberliner Landesvorstand der SPD schon jetzt darum bemüht, die Lage zu analysieren, die nach dem Abschluss eines Friedensvertrages mit der DDR für die Westberliner SPD entstehen könnte, um entsprechende Gegenmaßnahmen vorzubereiten.
Hinsichtlich der weiteren Tätigkeit der SPD im demokratischen Berlin gab der Landesvorstand u. a. folgende Linie:12
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Alle Unterlagen der SPD in den Kreisen und Abteilungen – mit Ausnahme der Mitgliedsbücher – sollen sofort vernichtet werden. In den Kreisverbänden dürfe nichts gefunden werden, falls die DDR weitere Maßnahmen ergreift.
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An verschiedenen Stellen der Grenze sollen NPD-Zeitungen eingeschleust werden.
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Die Verbindungen sollen zum Landesvorstand bestehen bleiben. Jede Woche einmal kommt ein Vertreter des Landesvorstandes nach dem demokratischen Berlin, um den Funktionären die Orientierung für ihre Arbeit zu geben. Außerdem sollen gegenseitig Informationen ausgetauscht werden. Danach werden die Funktionäre (ebenfalls wöchentlich einmal) im Kreisbüro zusammengefasst.
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Die Kassierung wird nicht mehr an den Landesvorstand abgerechnet. Die Gelder bleiben zur Verfügung der Kreisvorstände.
Die SPD-Mitglieder im demokratischen Berlin wurden aufgefordert, sich möglichst unauffällig zu bewegen. Verschiedentlich, z. B. in Friedrichshain, verlangten SPD-Mitglieder, evtl. Streiks bzw. die »Arbeits-Langsam-Bewegung« zu organisieren.
2. Gegnerische Provokationen und Vorkommnisse
Die Hauptaktivität des Gegners liegt zzt. bei den Stör- und Boykottmaßnahmen gegen die S-Bahn in Westberlin. In zahlreichen Fällen wurden vor allem von randalierenden Westberliner Jugendlichen die S-Bahnhöfe regelrecht belagert, um den Boykott zu erzwingen. Besonders nach der am 19.8.1961 in Westberlin stattgefundenen Hetzkundgebung13 stieg diese Störtätigkeit der jugendlichen Gruppen an. U. a. wurden vom S-Bahnhof Innsbrucker Platz von ca. 100 Jugendlichen die Eingänge verbarrikadiert, Fensterscheiben des Bahnhofs zerstört und Reisende zum Boykott aufgefordert. Auf verschiedenen Bahnhöfen (Wilmersdorf, Innsbrucker Platz, Tempelhofer Ring, Zoo) wurden kleine Westgeldbeträge bis zu 1 DM als Fahrgeld für Bus- oder U-Bahn angeboten, damit auf eine Benutzung der S-Bahn verzichtet wird.
In gleichem Maße anhaltend waren die Zerstörungen von Einrichtungen der S-Bahnzüge. Allein in der Nacht vom 19. zum 20.8. wurden Wagen von insgesamt 18 S-Bahnzügen beschädigt und die Zerstörungen auch am 20.8. fortgesetzt.
Durch die ständigen Randalierungen wurde ein Teil der Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn eingeschüchtert und trägt keine Uniformen mehr. Auf dem Bahnhof Tempelhofer Ring wurde ein Eisenbahner, als er einen Stupo um Unterstützung gegen randalierende Personen bat, von dem Stupo geschlagen.
Es wurden eine Reihe übereinstimmende Äußerungen von Stupos, von jugendlichen Rowdy-Gruppen und Provokateuren und von einem DGB-Funktionär bekannt, dass für Montag, den 21.8. die Stilllegung der S-Bahn in Westberlin geplant sei. Das geht auch aus Hinweisen hervor, wonach der sozialistische Studentenbund und die Falken am 21.8. einen Großeinsatz gegen die S-Bahn planen.
Bei einer vorläufigen Überprüfung der Gesamteinnahmen der Westberliner Bahnhöfe (S-Bahn, Güter- und Fernverkehr) wurde eine stark rückläufige Tendenz festgestellt, die in erster Linie von den geringeren Einnahmen der S-Bahn hervorgerufen wurde und ca. 35 000 DM beträgt.
Die Provokationstätigkeit an den Kontrollstellen ist etwas zurückgegangen, und nur in drei Fällen (Brunnenstraße, Lindenstraße und Zimmerstraße) näherten sich randalierende Jugendliche der Sektorengrenze. Sie wurden zurückgedrängt, und ein Rädelsführer wurde an der Brunnenstraße festgenommen.
Am 20.8. hielten sich von 9.40 bis 10.10 Uhr vier uniformierte Amerikaner mit dem US-Pkw BC 52 in Johannistal, Königsheideweg, auf, überprüften den Königsheideweg auf Panzerspuren und gaben Sprechfunkmeldungen ab.
Zur Forcierung der Hetzkampagne sind eine Reihe Maßnahmen vorgesehen: So soll am 21.8.1961 im Notaufnahmelager Marienfelde vom »Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen« eine großaufgemachte Pressekonferenz mit republikflüchtigen Ärzten aus der Charité stattfinden.14
Peter Herz15 vom RIAS wurde beauftragt, sich vorläufig nur noch mit desertierten VP- und Armee-Angehörigen zu befassen und mit ihnen gezielte Hetzsendungen unter dem Titel »Schießt nicht auf Deutsche« [zu] gestalten, um besonders eine Zersetzung innerhalb der bewaffneten Kräfte in der DDR zu erreichen.
Ferner wird im RIAS zzt. daran gearbeitet, die Rede des Genossen Walter Ulbricht zu fälschen und zu verdrehen. Es ist vorgesehen, die damit geplante Hetzsendung dann mittels Lautsprecherwagen überall an den Sektorengrenzen abzuspielen.
Ferner liegen zzt. noch nicht überprüfte Informationen vor, dass in nächster Zeit in Westberlin ein sog. Heimattreffen größten Stils durchgeführt werden soll.
Die Teilnehmer am »Marsch für den Frieden«16 sind wieder geschlossen in Westberlin eingetroffen, offensichtlich, um den nach ihrer Ausweisung aus der DDR als ausgesprochen provokatorisch einzuschätzenden Marsch fortzusetzen.
Die feindlichen Handlungen im demokratischen Berlin und in den Bezirken der DDR werden, wie in der Vergangenheit, durch Anbringen von Hetzlosungen und -Schmierereien, durch Hetze in mündlicher Form, durch anonyme Drohungen gegen fortschrittliche Personen und durch Verbreitung selbstangefertigter Hetzschriften charakterisiert, ohne dass sich im Umfang wesentliche Veränderungen abzeichnen.
Selbstgefertigte Flugblätter wurden in Tangermünde (20 Exemplare »Einigkeit, Russen raus, boykottiert die Wahlen am 17.9.«), in Reichenbach/Karl-Marx-Stadt (6 Exemplare »Arbeiter, keine Sonderschichten für diesen Ausbeuterstaat, Freiheit«) und in Dresden sichergestellt.
Die offene Hetze und die Hetzlosungen richten sich vorwiegend gegen führende Funktionäre von Partei und Regierung und tragen vereinzelt auch faschistischen Charakter.
Wie im letzten Bericht bereits mitgeteilt wurde, haben in Strausberg/Frankfurt/O. vier Jugendliche, Mitglieder des sog. Ted-Herold-Clubs, insgesamt neun Hetzlosungen geschmiert. Wie die Untersuchung gegen diese vier Festgenommenen ergab, steckten sie bereits am 16.8.1961 die Feldscheune der LPG in Strausberg vorsätzlich in Brand. Außerdem planten sie, sowjetische Soldaten zu überfallen, um sich Waffen zu beschaffen und später republikflüchtig zu werden.
Am 19.8.1961 wurde von der Transport-Polizei auf dem Bahnhof Friedrichstraße der Student der TU in Westberlin, [Name 1], wohnhaft Berlin SW 61, [Straße], und die [Name 2, gleicher Nachname] festgenommen. Beide waren im Besitz selbstgeschriebener Hetzbriefe gegen die DDR, die an Bürger Westdeutschlands verschickt werden sollten.
Am 20.8. in den Vormittagsstunden erhielt das Aufklärungslokal der Nationalen Front in Pankow, Kurt-Fischer-Straße 11 zwei und das FDJ-Mitglied [Name 3], [Straße, Nr.] einen anonymen Anruf mit Mord- und anderen Drohungen, wie: »Hier ist die rote Hand, die letzte Stunde hat geschlagen.«
Auf dem Bahnhof Rummelsburg wurden 180 Flugblätter sichergestellt, die vermutlich von der S-Bahn aus geworfen wurden. Es handelt sich um Flugblätter einer angeblich »dänischen Kampagne gegen Atomwaffen«. Ein geöffnetes Paket mit ca. 1 000 gleichartigen Flugblättern wurde in unmittelbarer Nähe des Ostbahnhofes gefunden. Auch hier waren sie offensichtlich aus der S-Bahn geworfen worden. (1 Exemplar dieser Flugblätter befindet sich in der Anlage.)
3. Grenzdurchbrüche, Desertionen und Vorkommnisse
Obwohl das Sicherungssystem ständig ausgebaut und die Möglichkeiten des illegalen Verlassens der DDR weiter eingeschränkt werden, kam es in der Berichtszeit noch immer zu Grenzdurchbrüchen in Richtung Westberlin. Insgesamt wurden sieben Grenzdurchbrüche mit zehn Personen und fünf versuchte Grenzdurchbrüche bekannt. Bemerkenswert ist dabei, dass vereinzelt Bewohner von Grenzgrundstücken durch die Fenster ihrer Wohnungen flüchtig werden.
Z. B. begaben sich am 20.8., gegen 10.50 Uhr zwei Personen am KP 22 Brunnen-/Bernauer Straße durch die Fenster ihrer Wohnung nach Westberlin. Am KP 19, Bernauer-/Wolliner Straße wurde am 20.8., gegen 11.00 Uhr ein Ehepaar durch die Wohnungsfenster flüchtig.
Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Spree, wo in der Nacht zum 20.8. auf Höhe des VEB RAW Treptow und im Osthafen je eine Person aufgebracht und festgenommen werden konnte.
Am 20.8., gegen 22.45 Uhr versuchten mehrere Personen gemeinsam den KP 49 zu überschreiten. Als sie durch die Posten daran gehindert wurden, flüchteten sie. Bei der Suchaktion konnten drei Personen gestellt und festgenommen werden. Es handelt sich um [Name 4], [Name 5] und [Name 6]. Sämtliche wohnhaft Berlin C 2, [Straße, Nr.].
Der Gegner setzte auch in der Berichtszeit seine Bemühungen fort, unsere Sicherungskräfte zu beeinflussen und zur Desertion zu verleiten.
So fuhr am 19.8., gegen 21.00 Uhr im Abschnitt Dippel/GB Blankenfelde ein Lautsprecherwagen unmittelbar an die Grenze. Die Angehörigen der NVA und der Kampfgruppen wurden aufgerufen, »die Waffen niederzulegen, Befehle zu verweigern und nicht zu schießen«.
Am 20.8.1961, gegen 7.25 Uhr warfen Stupos an der Grenze Ackerstraße unseren Posten Zigaretten zu und forderten sie auf, nach Westberlin zu kommen.
Im Verlaufe des 20.8.1961 desertierten vier Angehörige der Sicherungskräfte nach Westberlin. Im Einzelnen handelt es sich dabei um: Wm. [Name 7], 9. Bereitschaft, Wm. [Name 8], 9. Bereitschaft, beide desertierten gemeinsam am 20.8., gegen 0.15 Uhr in Treptow, Onckenstraße, KP 62–63. Wm. [Name 9], 4. Kompanie, 4. Bereitschaft desertierte am 20.8., gegen 1.00 Uhr im Bereich der Grenzbereitschaft Blankenfelde. Der Kämpfer Gedike, Günther (stellv. Leiter der Abteilung Organisation im Parteivorstand der DBD) desertierte am 20.8., gegen 9.45 Uhr am KP Zimmer-/Wilhelmstraße. (Die Ursachen der Desertionen sind noch nicht bekannt, die Untersuchungen dauern an.)
Seit dem 20.8.1961, 0.00 Uhr, waren die Wm. [Name 10] und [Name 11] sowie [Name 12] von der 2. Kompanie, 1. Abteilung, Stützpunkt 1 (Bereitschaft Baasdorf) überfällig. Alle drei hatten in einem Lokal den Entschluss gefasst, gemeinsam zu desertieren. Gegen 7.00 Uhr wurden die drei Genannten am KP 1 (Schildow) in Zivilkleidung festgenommen. (Über die Ursachen und das Untersuchungsergebnis liegen noch keine Informationen vor.)
In den Morgenstunden des 20.8.1961 wurde der [Name 13], wohnhaft Wollwitz/Brandenburg republikflüchtig. [Name 13] fuhr als Heizer auf dem Militärtransport 6301 nach Westberlin und sprang dort von der fahrenden Lok ab.
Am 20.8.1961, gegen 4.00 Uhr machte der VP-Hauptwachtmeister [Name 14] (Fahrbereitschaft der HVDVP) im Verlaufe eines Streites um eine Frau von der Schusswaffe Gebrauch und verletzte einen Bürger, sodass dieser ins Krankenhaus Pankow eingeliefert werden musste. (Bearbeitung erfolgt durch die HVDVP)
Am 20.8.1961, gegen 18.15 Uhr brach in der LPG »Völkerfreundschaft« der Gemeinde Henningen/Salzwedel/Magdeburg ein Großbrand aus. Es brannten ein Rinderstall, eine Scheune und ein Neubauwohnhaus. Das Vieh konnte gerettet werden. Der Schaden wird auf ca. 250 000 DM geschätzt.
Aufgrund schlechter Wasserverhältnisse musste eine 3 km lange Schlauchleitung gelegt werden. Sieben Feuerwehren befinden sich am Brandort. (Ursachen sind noch nicht bekannt, die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen.)
4. Stimmung und Reaktion der Bevölkerung
Die Maßnahmen unserer Regierung werden nach wie vor von der überwiegenden Mehrheit aller Bevölkerungsschichten positiv aufgenommen.
Die Verbundenheit zum Arbeiter-und-Bauern-Staat kommt immer wieder in erhöhten Produktionstaten, Produktionsverpflichtungen und dem Beitritt in die SED zum Ausdruck.
Auf negative Argumente wird immer offensiver reagiert und feindliche Elemente stärker zurückgedrängt.
Über die Rede des Genossen Walter Ulbricht liegen bisher nur wenige Diskussionen vor. Diese sind ausschließlich positiv. Von einigen Bezirken wird eingeschätzt, dass die Ausführungen des Genossen Ulbricht in vielen Fragen Klarheit geschaffen haben, was im Rückgang der negativen und unklaren Diskussionen spürbar ist.
Übereinstimmend wird erklärt, dass der Genosse Ulbricht die Lage offen und konkret eingeschätzt und eine klare Antwort auf alle Fragen gegeben hat.
Die Reaktion der Jugendlichen auf den Kampfauftrag der FDJ muss auch weiterhin als unterschiedlich eingeschätzt werden.
Es gibt zahlreiche positive Stellungnahmen und auch gute Ergebnisse in der Werbung für die Nationale Volksarmee.17 (im Bezirk Halle 2 000 Jugendliche, Bezirk Karl-Marx-Stadt 1 600 Jugendliche, Bezirk Frankfurt/O. 1 090 Jugendliche)
Im Zusammenhang mit dem Kampfauftrag erhöhte sich auch die Aktivität vieler FDJ-Leitungen. So liegen z. B. viele Verpflichtungen von Jugendbrigaden aus Industrie- und Landwirtschaft zur Erfüllung und Übererfüllung der Produktionspläne vor.
Ein beträchtlicher Teil der Jugendlichen verhält sich jedoch passiv oder steht dem Kampfauftrag direkt ablehnend gegenüber.
Verschiedentlich erklärten sich Jugendliche zwar für den Dienst in der NVA bereit, als sie jedoch die schriftliche Erklärung beim Kreiskommando abgeben sollten, waren nur wenige bereit, wirklich den Dienst bei der NVA anzutreten. (VEB Herd- und Ofenbau, Mühlhausen/Erfurt)
Verbreitet ist unter den Jugendlichen das Argument, dass sie erst dann zur Armee gehen, wenn die Wehrpflicht eingeführt wird. Häufig wird auch geäußert, ein Friedensstaat brauche keine Waffen und darum auch keine so große Armee, oder, wir schießen im Ernstfall nicht auf unsere Brüder.
Unklarheiten gibt es unter vielen Jugendlichen über den Charakter unserer Volksarmee. Oft wird unsere Volksarmee mit der Bundeswehr gleichgesetzt.
Um ein gutes Werbeergebnis zu erzielen, wird zum Teil durch die FDJ-Funktionäre auf die Jugendlichen ein gewisser Druck ausgeübt.
So z. B. lehnte ein Jugendlicher im VEB Bau Greifswald/Rostock es ab, zur Volksarmee zu gehen. Der FDJ-Sekretär verständigte daraufhin die Abteilung K des VPKA und verlangte, dass dieser Jugendliche festgenommen wird.
Eine weitere Überspitzung wurde aus dem VEB Kartografischer Dienst und dem VEB Vermessungsdienst Halle bekannt. In diesen beiden Betrieben erschienen am 18.8.1961 Instrukteure der Kreisleitung/West und erteilten den FDJ-Leitungen die Anweisung, einen Umlauf herauszugeben, dass ab sofort jedes FDJ-Mitglied bis auf Abruf das Blauhemd zu tragen habe. Jugendliche, die dem Beschluss nicht Folge leisten, sollten als Provokateure behandelt werden.
Unter den Kreisen der Intelligenz mehren sich die positiven Stimmen weiter. U. a. wurde bekannt, dass hauptsächlich aus Kreisen der Intelligenz eine Reihe Telegramme an den Vizepräsidenten der USA, Johnson, in Westberlin gesandt wurden. In diesen Telegrammen wird von Johnson gefordert, sich für Verhandlungen zum Abschluss eines Friedensvertrages einzusetzen, damit der Kriegsherd Westberlin beseitigt wird.
Insgesamt sind die abwartenden und zurückhaltenden Diskussionen jedoch immer noch vorherrschend. Allgemein wird ein »verschärfter Kurs« gegen die Intelligenz erwartet.
Prof. Dr. Rompe18 warnte vor einer Tendenz der Intelligenzfeindlichkeit, die an verschiedenen Stellen zum Ausdruck kommt. Z. B. würden Arbeiter an den Instituten deutlich zum Ausdruck bringen, dass die vorrangige Stellung der Intelligenz ihr Ende habe, man von ihr jetzt Arbeit und eine vernünftige und anständige Einstellung zur DDR verlange.
Die Grenzgänger melden sich nach wie vor nur zögernd zur Registrierung.19 Der überwiegende Teil der Grenzgänger wendet sich sofort an die Betriebe, lehnte jedoch eine sofortige Arbeitsaufnahme mit dem Hinweis ab, erst Urlaub nehmen zu wollen.
Eine besondere Konzentration von Grenzgängern besteht in Falkensee im Bezirk Potsdam. Dort wohnen in einer sog. Siemenssiedlung ca. 1 000 Grenzgänger.
Es gibt Anzeichen, dass geschlossene Baubrigaden (ehem. Grenzgänger) in landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaften arbeiten wollen. Die Transporte zur Verstärkung der amerikanischen Truppen in Westberlin, die über die Autobahn in Richtung Westberlin führten, wurden durch die Bevölkerung kaum beachtet. Nur in einzelnen Fällen wurden die Amerikaner von Personen durch Zuwinken begrüßt.
Am 19.8.1961 wurden im demokratischen Berlin und auch in den Bezirken der Republik, besonders auf den Postämtern, hohe Geldbeträge eingezahlt. Viele Sparkonten wurden neu eingerichtet.
So wurden im demokratischen Berlin 15 243 000 DM auf den Postämtern eingezahlt, während die Einzahlungen an normalen Sonnabenden bisher ca. 1,8 Mio. DM betragen.
Im Bahnpostamt Dresden/Neustadt wurden am 19.8.1961 mehr Spareinlagen eingezahlt als im ganzen vergangenen Jahr.
Diese erhöhten Einzahlungen sind im Zusammenhang mit den RIAS-Mitteilungen über einen angeblichen Geldumtausch in der DDR zu sehen.