Lage nach dem Bau der Berliner Mauer (6)
22. August 1961
Bericht Nr. 475/61 über die Situation aufgrund der Schutzmaßnahmen der DDR
1. Gegnerische Pläne und Aktionen in Westberlin
Die Boykottierung der S-Bahn wurde auch am Morgen des 22.8.1961 fortgesetzt. Dabei trat in Erscheinung, dass sich vor allem DGB-Funktionäre vor die S-Bahnhöfe stellten, um zu versuchen, die Arbeiter vom Benutzen der S-Bahn abzuhalten.
Jugendliche Provokateure traten wiederum an den Bahnhöfen Innsbrucker Platz, Zoo und Wilmersdorf in Erscheinung, während Angehörige der West-BVG vor allem auf den Bahnhöfen Tempelhof, Hermann- und Yorkstr. versuchten, die Westberliner vom Benutzen der S-Bahn abzuhalten.
Über die Alarmübung der britischen Garnison in den Morgenstunden des 22.8.1961 wurde bereits berichtet. Ergänzend wurde bekannt, dass das Stellwerk und der Bahnhof Olympiastadion von englischen und der Eingang des Bahnhofes Tiergarten von amerikanischen Militärangehörigen besetzt wurden. Im Bahnhofsgebäude bzw. vor den Eingängen zu den Bahnhöfen wurden Panzer-Abwehr-Geschütze (PAG) in Stellung gebracht.
Im Zusammenhang mit dem Erscheinen Adenauers in Westberlin wurden von der Stupo im Raum des Abschnittes Mitte besondere Sicherungsmaßnahmen getroffen.1 Am KP 27 in der Chausseestr. erschien in den Vormittagsstunden Brandt persönlich zur Inspektion. Gegen 10.50 Uhr traf die Stupo Maßnahmen zur Absperrung am Potsdamer Platz.
Die Leitung der westdeutschen Trotzkisten ist gegenwärtig bestrebt, in Westberlin eine feste trotzkistische Organisation zu schaffen. Die ideologische Orientierung in dieser Richtung erfolgt durch das Publikationsorgan der Trotzkisten »Die Internationale«.
Zuverlässig wurde bekannt, dass die Möglichkeit besteht, bei den Unterweltkreisen am Bahnhof Zoo und im Flüchtlingslager Marienfelde Westberliner Ausweise zu beschaffen.
In Westberlin wird nach zuverlässigen Hinweisen zzt. ein Programm vorbereitet, wonach Stadtrundfahrten nicht mehr das demokratische Berlin berühren sollen. Zu diesem Zweck werden gegenwärtig alle Prospekte überarbeitet und die Hinweise auf Museen, Kirchen und andere Einrichtungen im demokratischen Berlin herausgenommen. Außerdem wird ein Merkblatt erarbeitet, in dem alle Reisen nach Westberlin neu dargestellt werden. In den offiziellen Hinweisen soll auch auf die S-Bahn als Westberliner Verkehrsmittel nicht mehr aufmerksam gemacht werden, um ihren Boykott auch von dieser Seite zu unterstützen. Um den Touristenverkehr zu beleben, ist beabsichtigt, in Westdeutschland, in der Schweiz und in Österreich eine Plakataktion unter dem Thema »Nach Berlin – gerade jetzt« zu starten. Außerdem gibt es Überlegungen, das bisherige Abzeichen mit dem Brandenburger Tor zu ändern. Geplant ist, das Brandenburger Tor mit Stacheldraht umgeben darzustellen oder ein völlig neues Symbol zu entwerfen.
(Information kann wegen Gefährdung der Quelle nicht öffentlich ausgewertet werden.)
Nach Berichten einer zuverlässigen Quelle sind seit dem 13.8.1961 sämtliche Linien der Flugzeuge der PAA von Westberlin nach Westdeutschland und in umgekehrter Richtung ständig voll besetzt. Es werden noch etwa 700 Flüchtlinge täglich ausgeflogen. Auch Westberliner, die noch vor dem 13.8. mit Pkw oder per Bahn in die Bundesrepublik fuhren, ziehen jetzt vor, ihre Reise im Flugzeug zurückzulegen. Die Westberliner Speditionsfirma Hamacher soll für den Transport nach Westdeutschland einen 50 %igen Aufschlag zu den Preisen vor dem 13.8. verlangen und bereits bis 1962 Bestellungen vorliegen haben.
Nach weiteren zuverlässigen, jedoch noch nicht bestätigten Berichten soll von Westberlin aus verstärkt Feingold nach dem demokratischen Berlin geschleust werden. Das Gold soll in Goldblechfolien, je Gramm perforiert gehalten sein und sich ähnlich wie Stanniolpapier knittern, rollen und falten lassen und im Krawattenfutter, im Kragen, unter dem Jackenfutter u. a. Verstecken transportiert werden.
Nach Mitteilung einer Sektorenleiterin der Deutschen Akademie der Künste gibt es zzt. größere Schwierigkeiten mit den in Westberlin lebenden Künstlern. Diese seien verzweifelt, da sie in Westberlin häufig in Telefonanrufen bedroht wurden. Es bestehen Befürchtungen, dass zur Spielzeit der Theater die Arbeitsfähigkeit einiger Klangkörper nicht gesichert sein wird.
2. Gegnerische Provokationen und Vorkommnisse im demokratischen Berlin
Zuverlässig wurde bekannt, dass gegenwärtig zahlreiche fingierte Telegramme über Hochzeiten, Sterbefälle u. dgl. verschickt werden, um Bürgern der DDR den ungehinderten Besuch des demokratischen Berlin zu ermöglichen. Derartige Telegramme werden teilweise der VP vorgelegt, um »Genehmigungen« zum Besuch des demokratischen Berlin zu erhalten.
Beim Eintreffen der Wagenkolonne Adenauers am Kontrollpunkt Brunnenstr., gegen 13.30 Uhr, entstand auf der Seite des demokratischen Berlin eine Menschenansammlung von ca. 80 bis 100 Personen, vorwiegend ältere Frauen, von denen einige Adenauer zuwinkten. Erst danach wurde diese Ansammlung von den Sicherungskräften zerstreut und die besonders hervorgetretene [Name 1] festgenommen, die als Initiator beim Zuwinken aufgetreten war und »Freiheit« gerufen hatte. Die Hinweise, dass aus dem Haus Brunnenstraße 148 (demokr. Berlin) Schmährufe gegen die Sicherungskräfte erfolgten, werden gegenwärtig noch überprüft.
3. Grenzdurchbrüche, Desertionen und besondere Vorkommnisse an der Staatsgrenze um Westberlin
Obwohl die Anzahl der Grenzdurchbrüche weiterhin zurückgegangen ist, gelang es dennoch einigen Personen, gewaltsam die Grenze zu durchbrechen.
So wartete z. B. am KP 27 eine namentlich nicht bekannte Person im Hausflur des Hauses Boyenstr. 43 den Zeitpunkt ab, da der Streifenposten sich entfernte, um dann über die errichtete Mauer zu springen.
Aus dem VEB Bergmann-Borsig flüchtete der Schlosser [Name 2] nach Westberlin, als er mit einer Brigade damit beschäftigt war, Drahtzaun an der Mauer zu ziehen.
Am KP 38, Zimmer- Ecke Wilhelmstr., wurde gegen 11.50 Uhr die Grenze durch einen Lkw, der eine Abladegenehmigung besaß und deshalb den KP passiert hatte, gewaltsam überfahren.
Aus dem Haus Bernauer Str. 48 sprang die Ida Siekmann aus dem 3. Stockwerk auf Westberliner Gebiet, wo sie von der Westberliner Feuerwehr abtransportiert werden musste. (Nach westlichen Meldungen ist sie auf dem Transport in ein Krankenhaus verstorben.)
Aus dem Haus Bernauer Str. 7 sprang ein junges Mädchen aus dem 1. Stock auf die Straße, verletzte sich und wurde von der Stupo abtransportiert.
Im Stadtbezirk Treptow verließ der im RAW Treptow beschäftigt gewesene [Name 3] mittels Seil die Wohnung in der Onckenstr. und begab sich nach Westberlin.
In der Chausseestr. wurde ein Kraftfahrer des VEB Schultheiß-Brauerei flüchtig, der mit zu Grenzbefestigungsarbeiten eingesetzt war.
In der Nähe des S-Bahnhofes Wilhelmsruh wurden drei Personen des Vermessungsamtes, die dort mit Vermessungsarbeiten beschäftigt waren, flüchtig. Sie wurden auf westlicher Seite von einem Wagen des Westzolls aufgenommen.
Durch die Sicherheitsorgane konnten nach der bisherigen Übersicht im Berichtszeitraum acht Grenzdurchbrüche vereitelt werden, an denen insgesamt 17 Personen teilnehmen wollten. Die Festnahme dieser Personen erfolgte. Die Versuche, gewaltsam die Grenze zu durchbrechen, sollten an den nachgenannten Punkten erfolgen:
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KP Bornholmer Str., in Berlin-Niederschönhausen,
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am Invalidenfriedhof an der Scharnhorststr.,
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an der Eberswalder- Ecke Schwedter Str.,
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an der Spree (in Höhe des RAW Treptow),
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an der Schwedter-Brücke, an der Grenze Treptower-Park–Sonnenallee und
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an der Betriebsmauer des VEB Signal- und Sicherungstechnik.
Im Berichtszeitraum wurden insgesamt zwei Desertionen gemeldet: Uwm. [Name 4] und Uwm. [Name 5] vom Pionierzug der 4. Abteilung der 1. Brigade der Bereitschaftspolizei. Beide desertierten während des Aufstellens von Zäunen bei der Kleingartenanlage Grüneck am KP 73 (Spätbrücke), ohne dass der anwesende Hauptmann Messlich die Flucht verhindern konnte. Ermittlungen werden noch geführt.
Seitens des Gegners wurde am 22.8.1961 die Beeinflussung der Sicherungskräfte und die Aufforderung zur Desertion verstärkt.
So wurden am KP 22 in der Bernauerstr. gegen 17.00 Uhr von westlicher Seite Leitern an die Mauer gelehnt, Zigaretten herübergeworfen und Angehörige der bewaffneten Kräfte zur Fahnenflucht aufgefordert. Zur gleichen Zeit zeigte sich auf westlicher Seite in einem Fenster eine unbekleidete Frau.
Im Abschnitt Klein-Machnow Ost und West, am ehemaligen KP Dippel, im Bereich der Grenzbereitschaft Blankenfelde, erschien am 22.8.1961, in der Zeit von 21.00 bis 22.00 Uhr, auf westlicher Seite ein Lautsprecherwagen und verbreitete folgende Meldung: »Sonderstudio 4. Soldaten, Unteroffiziere und Generale der Zone und Ostberliner, lasst Euch nicht zu Lumpen machen. Schießt nicht auf Eure Brüder. Der Stacheldraht wird so schnell als möglich wieder entfernt. Paris stimmt zu, französische Truppen kommen nach Berlin. Adenauer wurde heute stürmisch begrüßt.« In ähnlicher Form wurde ein Lautsprecherwagen in der Zeit von 21.15 bis 21.30 Uhr am KP Wollankstraße tätig.
An der Wi[ener]2 Brücke erschien am 22.8.1961, gegen 14.00 Uhr ein dunkelgrauer Volkswagen, dem die beiden Deserteure [Name 6] und [Name 7] in Zivil entstiegen, um den diensttuenden Unterwachtmeister [Name 8] von der II. Kompanie der 9. Bereitschaft zuzuwinken.
Beispiele dieser und ähnlicher Art wurden noch mehr bekannt.
Die in den Spätnachmittagsstunden des 21.6.1961 begonnene organisierte Aufklärung unseres Grenzsicherungssystems wurde auch am 22.8.1961 fortgesetzt. Die Aufklärung im unmittelbaren Grenzgebiet und auch in der Tiefe erfolgt vor allem durch englische, amerikanische und französische Militärpersonen. Objekte der Aufklärung waren: Pionieranlagen, Lage der Unterkünfte der Sicherungs- und Reserveeinheiten, Postenstellungen und Dienstdurchführung der Posten in den Objekten der 1. Abteilung der MPS, des Pionier-Btl., Kampfgruppenunterkünfte Wallnerstr., Friedrichstr., Sebastianstr., Alte Jacobstr., Potsdamerplatz, Brandenburger Tor und Bornholmer Str.
Auf dem Reichsbahngelände wurde die Aufklärungstätigkeit vor allem in den Bereichen Köllnische Heide, Humboldthain, Schnittstelle Kohlhasenbrücke, Grenze am Landwehrkanal sowie Schwedter-/Eberswalderstr. festgestellt.
An der Oberbaumbrücke wurden die Telefonkabel der Bereitschaftspolizei und der Trapo durch unbekannte Täter zerschnitten.
4. Politisch-moralischer Zustand in den Einheiten der Sicherungskräfte
In der 3. Komp. der BP in Berlin-Rahnsdorf, in der es bisher zu zwei Desertionen kam, wurde in Aussprachen von den VP-Angehörigen zum Ausdruck gebracht, dass zwischen dem Kompanieführer und den Genossen Wachtmeistern kein richtiges Vertrauensverhältnis bestehe. Der Kompanieführer versuche alle Fragen durch verstärkten »Druck« durchzusetzen; aus diesem Grunde würden sie für ihren Kompanieführer nur »Hass empfinden«.
Innerhalb der Kampfgruppenhundertschaft der […]3 Friedrichshain, die sich aus drei Betrieben zusammensetzt und in einer Schule in der Helsingforser Str. untergebracht ist, gibt es ernsthafte Unzufriedenheiten aufgrund der Urlaubsregelung. Die Hundertschaft verfügt über drei Urlaubsscheine. Die Verteilung erfolge jedoch nicht gerecht, sodass verschiedene Kämpfer schon drei- bis viermal Urlaub gehabt hatten, andere dagegen erst einmal bzw. überhaupt noch nicht. Außerdem gibt es Unzufriedenheit über den neuen Kommandeur dieser Hundertschaft, da er vorwiegend ältere Genossen zur Wache einteilen und während des Einsatzes häufig Skat spielen soll.
Aus der Kampfgruppe des MAI im Roten Rathaus wird bekannt, dass das jetzige Herumsitzen, Kartenspiel usw. keine Befriedigung mehr gebe und sich deshalb Unlust breitmache. Von den Kämpfern wird vorgeschlagen, sie an die Arbeitsplätze gehen zu lassen, um dort in voller Einsatzbereitschaft zu arbeiten, zumal es jetzt so sei, dass die am Arbeitsplatz verbliebenen Mitarbeiter bei auftretenden Fragen zur Konsultation in den Stützpunkt der Kampfgruppe kommen müssten.
5. Besondere Vorkommnisse
Am 21.8.1961 versuchten auf dem Bahnhof Hamburg-Baumtor ca. 20 bis 35 Personen den Express 168 Berlin–Hamburg-Altona zu betreten. Die Personen waren sehr zerlumpt angezogen und machten einen unsauberen Eindruck. Unter diesen befanden sich zwei männliche und zwei weibliche Personen in Uniform der Transportpolizei. Sie hatten die Aufgabe, die 20 bis 30 Personen zu kontrollieren und zu befragen. Diese Szenen sollten für den Hetzfilm »Zwei unter Millionen« aufgenommen werden.
Als das Zugpersonal der DDR feststellte, dass es zu propagandistischen Zwecken ausgenutzt werden wollte, brachte es den Zug vorzeitig zum Halten, sodass die Filmaufnahmen nicht wie vorbereitet durchgeführt werden konnten. Von der Leitung des MfV ist beabsichtigt wegen dieser Provokation bei der Bundesbahn offiziellen Protest einzulegen und eine entsprechende Presseveröffentlichung zu bringen.
Wie weiter bekannt wurde, sind die Maßnahmen zur Unterbindung der Teilnahme an der Leipziger Herbstmesse in Westdeutschland weiter verstärkt worden. Auf den größeren Bahnhöfen in Westdeutschland werden die Bekanntmachungen und Fahrpläne für die Leipziger Herbstmesse und den Messeverkehr nicht ausgehängt.
Die Fahrkartenausgaben der Bundesbahn sollen angewiesen worden sein, keine Messeausweise bzw. Fahrkarten für den Besuch der Leipziger Herbstmesse zu verkaufen. Der von der Bundesbahn zu fahrende Messesonderzug Hamburg–Leipzig wurde bereits von der Bundesbahn abgesagt, da keine Bedürfnisse hierfür vorliegen.