Meinungen der Bevölkerung zur internationalen Lage
27. Juni 1961
Einzel-Information Nr. 330/61 über die Stimmung der Bevölkerung der DDR zum Memorandum der Sowjetunion zum Deutschlandproblem und damit im Zusammenhang über das Treffen Chruschtschow – Kennedy und die Pressekonferenz mit dem Genossen Walter Ulbricht
Nach vorliegenden Berichten wird von allen Bevölkerungsschichten über das Treffen Chruschtschow – Kennedy im Verhältnis zu ähnlichen Ereignissen nur wenig diskutiert.1 Neben zahlreichen positiven Stimmen war hier die Auffassung weit verbreitet, dass bei diesem Treffen, genau wie bei allen anderen Treffen, doch nichts herauskäme. Erst nach der Veröffentlichung des Memorandums2 nahmen die Diskussionen an Umfang zu. Auch über die Pressekonferenz mit dem Genossen Walter Ulbricht gibt es verhältnismäßig wenig Diskussionen.3
Es ist allgemein festzustellen, dass durch Diskussionen über verschiedene Mängel in der Versorgung die Diskussionen über wichtige politische Probleme zurückgedrängt werden und das Memorandum in der Bevölkerung noch nicht das Echo gefunden hat, wie es entsprechend der Bedeutung notwendig wäre. Öfters wird der Standpunkt vertreten, dass »das ewige Hin und Her in der Deutschlandfrage die Gemüter abstumpft«. Wenig Diskussionen werden vor allem aus der Landbevölkerung bekannt.
Die große überwiegende Mehrheit der bekanntgewordenen Diskussionen hat positiven Charakter und alle Schichten der Bevölkerung, besonders jedoch die Arbeiter, sind daran beteiligt. Das Memorandum wird als das bisher beste Angebot für die friedliche Lösung der deutschen Frage angesehen. Übereinstimmend wird begrüßt, dass die Sowjetunion erneut die Initiative ergreift, um die alle Menschen bewegenden Probleme zu lösen. In zahlreichen Diskussionen wird auch zum Ausdruck gebracht, dass wir keinen Krieg haben wollen, sondern im Frieden leben möchten. Deshalb gäbe es auch 16 Jahre nach Kriegsschluss keine andere Lösung, als sich für den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland bzw. nur mit der DDR einzusetzen, falls die Westmächte und Bonn sich weigern sollten. Im Mittelpunkt steht die Hoffnung, dass nun endlich die Westberlin-Frage gelöst wird, denn die anormale Lage in Westberlin könne nicht länger geduldet werden. In diesem Zusammenhang werden besonders von der Berliner Bevölkerung verschärfte und konkrete Maßnahmen gegen die Grenzgänger4 gefordert, z. B. Bezahlung von Miete, Strom, Gas, Dienstleistungen usw. in Westmark, evtl. auch Einkaufsverbot im demokratischen Berlin. Teilweise wird nicht verstanden, dass die Regierung der DDR in Fragen der Grenzgänger nicht schärfer durchgreift. Der Zeitraum von sechs Monaten wird oft als zu lang empfunden.
Typische positive Argumente sind:
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Die Friedens- und Abrüstungsvorschläge sind durchaus annehmbar für die Westmächte.
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Die SU ist ehrlich bestrebt, die Überreste des Zweiten Weltkrieges zu beseitigen und mit Deutschland einen Friedensvertrag abzuschließen.
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Den Kriegshetzern und Revanchisten in Westdeutschland und Westberlin muss endlich das Handwerk gelegt werden.
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Wir wollen den Frieden und wenn Adenauer nicht bereit ist, soll man den Friedensvertrag eben mit uns abschließen.
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In der Westberlin-Frage werden die USA eine nachgiebige Haltung einnehmen müssen, wenn sie sich vor der ganzen Welt nicht noch mehr entlarven wollen.
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Wenn das Grenzgängerproblem nicht so schnell wie möglich gelöst wird, wandern immer mehr Arbeitskräfte nach Westberlin ab.
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Wenn die Grenzgänger alle Dienstleistungen, Miete, Strom usw. mit Westgeld bezahlen müssen, werden sie sich überlegen, ob sie weiter in Westberlin arbeiten.
Neben diesen positiven Argumenten gibt es einige Unklarheiten, die beweisen, dass es noch nicht gelungen ist, Klarheit in den Fragen des Friedensvertrages und der freien Stadt Westberlin unter breiten Bevölkerungskreisen zu schaffen. Andererseits lassen die Unklarheiten erkennen, dass teilweise die Veröffentlichungen über die Pressekonferenz mit dem Genossen Walter Ulbricht und auch das Memorandum selbst nur oberflächlich studiert wurden. Dafür sind folgende Argumente bezeichnend:
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Der Friedensvertrag verewige die Spaltung Deutschlands, weil dadurch die zwei Teile Deutschlands als zwei Staaten anerkannt würden.
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Warum nicht Gesamt-Berlin als Freie Stadt?
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Was geschieht mit den jetzigen Sektorengrenzen, wenn nur mit der DDR ein Friedensvertrag abgeschlossen wird?
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Wie sollen die Luftwege kontrolliert werden?
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Wenn die Westberlin-Frage gelöst wird, verschlechtere sich die Versorgung bei uns noch mehr.
Neben solchen und ähnlichen Unklarheiten kommt in einer beträchtlichen Anzahl von Diskussionen Pessimismus und eine gewisse Unsicherheit zum Ausdruck. Typisch ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass auch ein großer Teil an sich positiver Stimmen solche Einschränkungen (Unglaube an Verwirklichung) macht, aber meist unter gleichzeitiger Betonung der Richtigkeit und Notwendigkeit der sowjetischen Vorschläge. Die pessimistischen Meinungen haben ihren Ursprung in der bisherigen ablehnenden Haltung der Westmächte zu den bereits in der Vergangenheit wiederholt überreichten Noten und Erklärungen der SU und der DDR, die auf ähnlicher Basis beruhten.5 Die Bedeutung der im Memorandum enthaltenen Feststellung »unaufschiebbar« wird in den meisten Fällen nicht völlig erkannt und eingeschätzt. Verbreitet ist die Auffassung, dass die Westmächte und auch Westdeutschland sich nicht auf diese Vorschläge einlassen und – falls es zum Abschluss eines Friedensvertrages nur mit der DDR kommt – die Situation nicht zum Frieden, sondern zum Krieg führe. Die Gefahr des Ausbruchs eines Krieges wird besonders im Zusammenhang mit der Lösung der Westberlin-Frage abgeleitet, und hauptsächlich von bürgerlichen Kreisen und von Frauen wird einer gewissen Angst davor Ausdruck gegeben.
Pessimismus und Unsicherheit verratende Argumente sind hauptsächlich:
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Westdeutschland wird nicht auf den Vorschlag eines Friedensvertrages eingehen.
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Es käme nie zu Verhandlungen zwischen beiden deutschen Staaten, denn bisher seien schon unzählige Angebote der DDR durch Bonn abgelehnt.
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Der Westen macht doch was er will.
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Im Jahre 1961 kommen der Abschluss eines Friedensvertrages und die Regelung der Westberlin-Frage sowieso nicht zustande.
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Die Klärung des Westberlin-Problems vergrößert die Kriegsgefahr.
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Lohnt es sich überhaupt, einen Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen, wenn dadurch die Gefahr eines Krieges vergrößert wird.
Hierzu einige typische Beispiele:
Im Pädagogischen Rat der Gemeinde Altenhaben/Stralsund/Rostock sind die Lehrer der Meinung: »Das sozialistische Lager wird mit dem Memorandum wohl wenig Erfolg haben. Die Frage Westberlin sollte schon vor 2½ Jahren geklärt werden und führte zu keinem Erfolg. Jetzt werden die Westmächte kaum auf das Memorandum eingehen und somit wird wiederum kein Ergebnis erzielt.«
Im VEB Stern-Radio Rochlitz wird von den Kolleginnen am Juwelband die Meinung vertreten: »Was nützt es, wenn die östlichen Staaten einen Friedensvertrag abschließen, die Westmächte machen sowieso nicht mit. Jeder beharrt auf seinen Standpunkt, und die Westmächte werden Westberlin nicht aufgeben. In der Endkonsequenz kann es noch zum Krieg kommen.«
Ein Arbeiter vom Fernmeldeamt Annaberg erklärte: »Es sind schon viele Noten und Memoranden ausgetauscht worden. Es hat sich aber bisher noch nichts geändert. Auch nach diesem Memorandum wird sich nichts ändern.«
Feindliche Stimmen sind bisher nur wenig bekanntgeworden. Sie lassen deutlich den Feindeinfluss, besonders des Westrundfunks und -fernsehens erkennen und zielen darauf ab, die Bedeutung des Memorandums zu mindern. Eine Reihe dieser Stimmen haben sinngemäß das Argument gemeinsam: »Sie sollten lieber dafür sorgen, dass in der DDR die Versorgung klappt. In Westberlin gibt es alles zu kaufen.« In anderen Fällen beinhalten sie Hetze gegen die Sowjetunion bzw. verteidigen die ablehnende Haltung der Westmächte. Vereinzelt werden »freie Wahlen« gefordert.
Im Einzelnen sind uns folgende negative Argumente bekanntgeworden:
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Glaubt ihr vielleicht, der Westen will auch eine »Kolonie der Russen« werden und alles das aufgeben, was sie gebaut haben? Die lassen es darauf ankommen und wenn es zum Krieg kommt. Die DDR wird nach dem Friedensvertrag sowieso eine »russische Kolonie«. (Kollege [des] VEB Halbzeugwerk Auerhammer Kreis Aue/Karl-Marx-Stadt.)
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Was wollen wir denn überhaupt mit Westberlin, die Versorgung klappt jetzt schon nicht bei uns, und was soll dann werden. (Gemeinde Friedersdorf, Kreis Königs Wusterhausen)
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Die Dringlichkeit des Abschlusses eines Friedensvertrages ist nur ein Propagandaakt der SU mit dem Ziel, Westberlin in das Gebiet der DDR einzuverleiben. (Kreis Oranienburg)
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Schon wieder so ein Wisch mehr. Chruschtschow glaubt doch selber nicht was er schreibt. Ulbricht plappert alles treu und brav nach. Ihr Ziel ist doch nur, den Kommunismus auf der ganzen Welt zu verbreiten. (Arbeiter im VEB MZ Zschopau/Karl-Marx-Stadt.)
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Die Sektorengrenzen von Berlin werden zu Staatsgrenzen erklärt, und die Personen, die die DDR verlassen wollen, müssen dies schnellstens tun. (Musiker des Orchesters Reichenbach)
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Von einer Freien Stadt könne man erst sprechen, wenn alle staatlichen Verwaltungen und Ministerien, auch von unserer Seite, Berlin räumen müssten und so ganz Berlin zur Freien Stadt würde. (in einigen PGH des Kreises Apolda/Erfurt)
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Wen interessiert die Westberlin-Frage. Die leben dort besser als wir. Bei uns gibt es nichts zu kaufen. Es wird nicht mehr lange dauern, dann macht die DDR Pleite. (Vorsitzender LPG in Wichersdorf Kreis Glauchau)
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Man soll in beiden deutschen Staaten »freie Wahlen« durchführen. Danach könnten sich dann die beiden deutschen Regierungen zusammensetzen. (Kollege von der Fa. Griembach in Freiberg, Buchhalter Görlitz)
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Die Westmächte könnten schon wegen der Oder-Neiße-Grenze mit den Vorschlägen der SU nicht einverstanden sein. (Kreis Greifswald/Rostock)
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Es wäre doch am einfachsten, Sachsen und Thüringen wieder an die Amis abzugeben, sodass der Osten dann Berlin wieder bekommt. (3 Kollegen [des] VEB ELMO Kreis Plauen)
Alle diese Argumente sind aber im Wesentlichsten als Einzelerscheinungen zu werten.