Meinungen von Funktionären zum Offenstallbauprogramm
4. März 1961
[Einzel-Information] Nr. 124/61 über die Haltung verantwortlicher Funktionäre des zentralen Staats- und Parteiapparates zum Offenstallbauprogramm
Vorliegende Berichte lassen erkennen, dass unter verantwortlichen Funktionären des zentralen Staats- und Parteiapparates trotz der Ministerratsbeschlüsse vom 5. und 26. 1.19611 keine einheitliche Meinung zum Bau von Offenställen2 besteht und folglich der Basis gegenüber keine klare Orientierung gegeben wird. Diese Unklarheiten kamen in letzter Zeit besonders in einigen zentralen Besprechungen und Tagungen zum Ausdruck.
So fand z. B. am 10.1.1961 im ZK der Partei eine vom Gen. Grüneberg einberufene Beratung über weitere Maßnahmen im Rinderstallbau statt, an der Genosse Prof. Dr. Bartsch, Minister Scholz, Genosse Fichtner, Schollain, Barsge, Gehricke, Dr. Hein und Dr. Schnapperelle u. a. teilnahmen.
Dabei sollen zu den Fragen des Rinderstallbaues bereits die Auffassungen vertreten worden sein, die später im Beschluss des Ministerrates vom 26.1.1961 ihren Niederschlag fanden. Besonders sei dabei neben der Komplettierung der Offenställe die Anwendung anderer Stallformen wie Anbindeställe, Wärmeställe u. a. vertreten worden.
Obwohl auf dieser Tagung bereits weitergehende Maßnahmen beraten wurden, als sie der Ministerratsbeschluss vom 5.1.1961 (nur Komplettierung der Offenställe) vorsah, waren verantwortliche Vertreter des Ministeriums für Landwirtschaft, Erfassung und Forstwirtschaft (MfLEu.F) zu dieser Tagung nicht hinzugezogen worden, was in MfLEu.F Unverständnis hervorrief.
In Verwirklichung der Ergebnisse dieser Beratung und des Ministerratsbeschlusses vom 26.1.1961 ist mit der Projektierung neuer Stalltypen bzw. der Verbesserung alter Stalltypenprojekte nach vorliegenden Hinweisen bereits eine Sondergruppe des Institutes für Typung unter der Leitung von Schollain beschäftigt. Schollain als Leiter dieser Sondergruppe bezeichnet sich der Praxis gegenüber als persönlicher Beauftragter des Genossen Grüneberg. Dadurch entstand an der Basis bereits der Eindruck, dass selbst vom ZK der Partei der Bau von Offenställen nicht mehr vertreten wird.
Außerdem wird in Hinweisen bereits darauf aufmerksam gemacht, dass über Schollain auch im ZK, u. a. dem ehem. verantwortlichen Mitarbeiter für das ländliche Bauwesen, Genosse Kuhlig, bekannt ist, dass er für das Offenstallprojekt Typ »Brandenburg« verantwortlich zeichnet, welches sich in der Praxis nicht bewährte und großen volkswirtschaftlichen Schaden hervorrief. Aufgrund dieser Tatsache sowie seines Versagens als Sektorenleiter für das ländliche Bauwesen im MfLEu.F sind Mitarbeiter des MfLEu.F, des MfS und der DEA der Ansicht, dass von seiner Arbeit als Leiter der genannten Projektierungsgruppe nicht viel zum Nutzen der Entwicklung des ländlichen Bauwesens zu erwarten ist.
In Verwirklichung des Ministerratsbeschlusses vom 5.1.1961 wurde für den 25.1.1961 vom MfLEu.F eine Tagung der Bauplaner der Räte der Bezirke nach Leipzig einberufen. Auf dieser Tagung wurde, da der Inhalt des Ministerratsbeschlusses vom 26.1.1961 den Verantwortlichen noch nicht bekannt war, noch die Orientierung gegeben, die Offenställe richtig zu komplettieren, um mehr Milch zu erzeugen und alle Reserven zu nutzen. Dabei kam es während der Beratung aus den Reihen der Beratungsteilnehmer bereits zu Zwischenrufen wie: »Das ZK macht ja schon ganz was anderes, die projektieren Anbindeställe!« Dabei wurde offensichtlich auf die vorgenannte Besprechung beim Genossen Grüneberg und die mit daraus resultierende Tätigkeit der Projektierungsgruppen Schollain bzw. Lammert Bezug genommen.
Obwohl es in den Diskussionen der Praktiker während dieser Tagung zwar äußerst kritische Hinweise zum Offenstall gab, wurde der Ministerratsbeschluss vom 5.1.1961 über die Komplettierung der Offenställe jedoch als richtig anerkannt.
Auch auf der stattgefundenen Tagung der DAL zum Offenstall am 26.1.1961 in Leipzig wurde von einer Reihe von Praktikern positiv zum Offenstall gesprochen. Gleichzeitig gab es jedoch auch hier zahlreiche gegenteilige Auffassungen, die aber nach vorliegenden Einschätzungen meist subjektive Ursachen zur Grundlage hatten.
Aufgrund dieser gegenteiligen Meinungen wurde in der Mittagspause mit Staatsfunktionären und Mitarbeitern der Bezirksleitungen der Partei eine gesonderte Beratung durchgeführt, an der von zentraler Seite u. a. die Mitarbeiter des ZK Genossen Graf und Kiessler und vom MfLEu.F die Genossen Dewitz und Seemann teilnahmen. Im Verlaufe dieser Aussprache wurde aus dem Kreis dieser Funktionäre u. a. die Frage gestellt, ob die Meinung der Praktiker, die positiv zum Offenstall sprachen, die Auffassung aller Genossenschaftsbauern sei. In der sich daraus entwickelnden Diskussion wurde von einem Teil anwesender Vertreter der Bezirke, u. a. vom Bauplaner des Rates des Bezirkes Gera, Krause, offen erklärt, dass diese Fragestellung klarstelle, wo es Unklarheiten über den Offenstall gebe. Damit war unverkennbar der zentrale Staats- und Parteiapparat gemeint.
Da auch in der weiteren Diskussion der Genosse Kiessler zur Frage des Zumauerns der Offenställe nicht klar Stellung nahm, entstand unter den Teilnehmern allgemeine Verwirrung und eine Reihe von Bauplanern äußerte die Absicht, nach Hause zu fahren, da »ja nun alles klar« wäre.
Eine ähnliche Zusammenkunft fand am zweiten Beratungstage in der Mittagspause statt. Dabei waren gegenüber dem Vortage noch die Mitarbeiter des ZK Genosse Prof. Dr. Bartsch, Gutjahr und Karbinsky anwesend. Auf dieser Beratung wurde der Beschluss des Ministerrates vom 26.1.1961 verlesen und erläutert. Diesen Beschluss hatte der Genosse Kiessler über den Rat des Bezirkes durch Fernschreiber besorgen lassen. Die Erläuterungen dazu gab der Genosse Dewitz vom MfLEu.F. Nach Meinung der Vertreter aus den Bezirken hatte Genosse Dewitz über diesen Beschluss selbst noch keine Klarheit, zumal er zur Bauplanertagung nur von der Komplettierung der vorhandenen Offenställe entsprechend dem Beschluss vom 5.1.1961 gesprochen hatte. Dass es auch bei anderen Mitarbeitern des MfLEu.F noch Unklarheiten zu diesem Problem gibt, schließen Mitarbeiter des bezirklichen Staatsapparates u. a. auch aus der Tatsache, dass der Architekt für ländliches Bauwesen im MfLEu.F, Korkus, im Anschluss daran um folgende Auskunft bat:
»Im Namen aller Anwesenden möchte ich die Frage stellen, was soll denn nun gebaut werden? Offenställe oder Anbindeställe?«
Den Berichten nach haben die Genossen Kiessler, Graf und Gutjahr daraufhin Korkus zur Antwort gegeben, die Entscheidung darüber liege bei den Genossenschaftsbauern. Ziel müssten jedoch höchste Milchergebnisse sein.
Im Zusammenhang damit hat der Genosse Graf betont, dass mit der Beseitigung der Unklarheiten über das Offenstallbauprogramm wohl im MfLEu.F begonnen werden müsste.
Dass aber auch von Mitarbeitern des ZK keine klare Stellungnahme zum Offenstall abgegeben wird, beweist ein Artikel des Genossen Prof. Dr. Bartsch vom 3.2.1961, in der »Neuen Deutschen Bauernzeitung«. In diesem Artikel wird der Offenstall überhaupt nicht erwähnt und mit der Forderung nach sauberen, hellen, trockenen und gut gelüfteten Ställen mit viel Bewegung und frischer Luft nach Meinung von Experten den Anbindeställen der Vorzug gegeben, während zu den Ministerratsbeschlüssen vom 5. und 26.1.1961 in diesem Artikel nicht klärend Stellung genommen wird.
Auch der stellv. Minister für Bauwesen hat bereits in Gesprächen dem stellv. Minister für Landwirtschaft gegenüber dem Bau von Anbindeställen des Typs LA 175 vertreten.
Außerdem werden nach vorliegenden Hinweisen im Ministerium für Bauwesen auch schon große Warmställe projektiert.
Daraus dürfte mit ersichtlich sein, dass in den zentralen Organen über die weiteren Aufgaben und Maßnahmen im Offenstallprogramm noch keine Klarheit besteht. Es wäre jedoch notwendig, eine baldige Klärung herbeizuführen, um weitere negative Auswirkungen auf die praktische Durchführung der genannten Ministerratsbeschlüsse und die Weiterführung des Stallbauprogramms weitgehend zu verhindern.
Anlage zur Information Nr. 124/61
Zu den in der Einzel-Information Nr. 124/61 dargelegten Problemen wurden intern noch folgende Hinweise bekannt:
Bei der Übergabe der Grundkonzeption zur Vorbereitung und Entwicklung neuer Technologien und Projekte am 18.1.1961 durch den Genossen Dewitz vom MfLEu.F an den verantwortlichen Mitarbeiter für ländliches Bauwesen im ZK Genosse Bottin, wurden diesem auch eine Reihe neuer Projekte für große Anbindeställe aus der ČSSR vorgelegt. Dabei äußerte Genosse Bottin dem Genossen Dewitz gegenüber, das seien die richtigen Ställe. Er hätte früher in Pommern gearbeitet, da hätte es in den großen Junkerbetrieben auch nur solche großen Anbindeställe gegeben.
Am 24.1.1961, gegen 18.00 Uhr wurde der Genosse Dewitz vom Genossen Kiessler angerufen und gefragt, was für eine Linie des MfLEu.F bei der Tagung der Bauplaner der Räte der Bezirke am 25.1.1961 in Leipzig vertreten will und was Genosse Dewitz beabsichtigt dort zu sagen. Genosse Kiessler stellte dem Genossen Dewitz in dem Gespräch eine Reihe Fragen hinsichtlich des Offenstalles, die darauf schließen lassen, dass er kein überzeugter Anhänger des Offenstalles ist. Im Verlaufe des Gespräches machte er dem Genossen Dewitz gegenüber den Vorschlag, die Tagung am nächsten Tage in Leipzig nicht durchzuführen, sondern abzusetzen, erklärte aber gleichzeitig, Genosse Dewitz könne sich dabei nicht auf seinen Anruf berufen, das wäre so als wenn sie nicht miteinander gesprochen hätten. Dabei betonte er, er wolle dem Genossen Dewitz nur helfen. Der Tenor in seinen Ausführungen lag dabei in den Worten, die Genossenschaftsbauern bestimmen. Genosse Kiessler fragte den Genossen Dewitz u. a. auch, was die Genossenschaftsbauern machen, die keinen Offenstall haben wollen. Als er abschließend nochmals empfahl, die Tagung abzusetzen und Genosse Dewitz ihm erklärte, das sei unmöglich, weil die meisten Bauplaner schon angereist seien, verwies Genosse Kiessler darauf, wenn ein paar Bauplaner nicht anwesend wären, hätte Genosse Dewitz doch einen Grund, die Beratung ausfallen zu lassen.