Meinungen von Wissenschaftlern zur DDR-Planwirtschaft
4. Juli 1961
Einzel-Information Nr. 350/61 über Auffassungen von Wissenschaftlern zu Fragen der Planung der Volkswirtschaft in der DDR
Dem MfS wurden eine Reihe Äußerungen führender Wissenschaftler der DDR bekannt, in denen bestimmte Spekulationen und Ansichten einer prinzipiellen Änderung der Planung der Volkswirtschaft zum Ausdruck kommen.
Prof. Thiessen1 erklärte z. B., dass die gegenwärtigen ökonomischen Schwierigkeiten zwar in einigen Monaten vor allem mithilfe der Sowjetunion überwunden würden, nicht aber die Tatsache, dass das Ansehen von Partei und Regierung dadurch außerordentlich gelitten habe. Thiessen selbst und eine Reihe anderer Professoren, u. a. Prof. Volmer2, Prof. Steenbeck3, Prof. Hertz4, hätten schon vor dem V. Parteitag5 davor gewarnt, konkrete Zahlen über die Entwicklung zu veröffentlichen bzw. bestimmte Etappenziele der ökonomischen Entwicklung zu popularisieren. Aber jener »zählebige Kreis in der Staatlichen Plankommission«, der schon damals die oberste Parteiführung aus Unwissenheit falsch informiert habe, bestünde leider immer noch.6 Durch die gegenwärtige Situation hätten die Kräfte der Akademie der Wissenschaften, die bisher immer gegen eine Planung der Wissenschaft und Volkswirtschaft und erst recht gegen eine straffe Planungsmethodik auftraten, wieder Oberwasser bekommen. Die Institutsleiter an der Akademie der Wissenschaften seien z. B. sehr zufrieden darüber, in Zukunft durch den Forschungsrat angeleitet zu werden.
Die Art und Weise, wie Thiessen das Gespräch führte, ließ für den Gesprächspartner die Schlussfolgerung zu, dass es eine Reihe Wissenschaftler gibt, die es aufgrund verschiedener gegenwärtiger ökonomischer Schwierigkeiten für erforderlich halten, bei der Planung der Volkswirtschaft – und abgeleitet daraus vor allem auch bei der Wissenschaft – die bisherige Form der staatlichen Führung besonders durch die SPK auszuschalten. Dabei sei vor allem an die Methode der schrittweisen Loslösung von der staatlichen Anleitung gedacht. In diesem Zusammenhang entstand bei dem Gesprächspartner auch der Eindruck, dass Thiessen selbst eine Veränderung der Planung und der Kompetenzen auf diesem Gebiet in dem bereits angeführten Sinne vertritt. Dafür spricht nach Ansicht des Gesprächspartners auch Thiessens Stellung zur Max-Planck-Gesellschaft, deren Organisationsform er für die gegenwärtig beste hält. Auch die Vermutungen von Prof. Rompe7, dass von den bisher genannten Professoren bewusst solche Wissenschaftler in den Vordergrund gestellt werden, die in der Vergangenheit »nicht von der Partei eingesetzt« wurden, entspräche u. U. diesen Bemühungen nach Veränderungen.
Auf der gleichen Linie einer prinzipiellen Veränderung in der Planwirtschaft liegen auch uns bekannt gewordene Äußerungen des Leiters des Konstruktionsingenieur-Büros Chemie/Leipzig, Dr. Beyerl vor. Er entwickelte folgende Konzeption: Die gegenwärtige Lage auf wissenschaftlich-technischem Gebiet zeige, dass die Planwirtschaft, d. h. die strenge staatliche Planung, sich nicht bewähre. Den Menschen fehle ein bestimmter Antrieb, der sie zu Höchstleistungen befähige. Die Initiative Einzelner und die Reaktionsfähigkeit unserer Wirtschaft würden durch die Planwirtschaft gehemmt. Daraus sei abzuleiten, dass die Verantwortung für die Leiter größer und ihnen auch gestattet sein müsste, ein bestimmtes Risiko zu tragen. Wie er »scherzhaft« erwähnte, wäre es sinnvoll, die staatlichen Betriebe an Einzelpersonen oder Kollektive zu verpachten. Nach Ansicht des Gesprächspartners hatte diese Bemerkung jedoch einen ernsten Hintergrund, was sich an konkreten Überlegungen Dr. Beyerls bezüglich der Besteuerung solcher Personen oder Kollektive zeigte. Ähnlich lauteten seine Vorschläge für die Landwirtschaft, wobei er davon ausging, dass die Sowjetunion, die eine ausgesprochen sozialistische Landwirtschaft hat, nicht imstande sei, die Volksrepublik China in ausreichendem Maße zu unterstützen. Beyerl stellte die Frage, wieso die kapitalistische Landwirtschaft Kanadas mit etwa der gleichen Bevölkerungszahl wie die DDR in der Lage sei zu exportieren, während die sozialistische Landwirtschaft der Sowjetunion diese Möglichkeit nicht in dem Maße besitzt. Zur Bekräftigung seiner These führte er an, dass vor allem die Westdeutschen aber auch die Ausländer der Ansicht sind, dass China der Bremsklotz für das sozialistische Lager sei.
Dr. Beyerl begeisterte sich in diesem Gespräch an der Wirtschaftspolitik Erhards (Kartellgesetzgebung, Beweglichkeit der westdeutschen Wirtschaft) und vertrat die Ansicht, dass Erhard aus »unserer Schwäche« richtige Schlussfolgerungen für Westdeutschland gezogen habe. In Beyerls Bereich dagegen ergeben sich laufend Materialschwierigkeiten, über die er sehr verbittert sei. Die Stimmung seiner Mitarbeiter wäre ähnlich schlecht, und immer würde ihm wieder die Frage gestellt: »Gibt es ein Chemieprogramm8 oder nicht?« Die ständigen Planverschiebungen und das Nichtzustandekommen von Projekten würde den Mitarbeitern die Perspektive nehmen, und er habe dadurch keine konkrete Argumentation u. a. auch bei R-Fluchtanzeichen seiner Mitarbeiter. Diese Äußerungen machte Dr. Beyerl nach dem Besuch der ACHEMA9 und den damit verbundenen Gesprächen mit westdeutschen Konzernvertretern. Nach Darstellung Dr. Beyerls habe selbst ein verantwortlicher Funktionär der SPK (womit nur der Genosse Singer, stellv. Leiter der Abteilung Chemie gemeint sein kann) nach den Möglichkeiten des Überholens befragt, erklärt: »Wenn wir bei der nächsten ACHEMA 1964 noch die Fersen der anderen sehen, können wir von Glück reden.«
Diese Äußerung ist auch insofern aufschlussreich, weil dem MfS eine Reihe weiterer Hinweise (siehe auch Bericht Nr. 329/61) über die mangelhafte Tätigkeit der SPK bekanntgeworden sind und die meisten der vorstehend angeführten Personen auch diese Mängel in der SPK mehr oder weniger zum Anlass ihrer Überlegungen machten. Über einige der prinzipiellen Schwächen informierte der stellv. Leiter des Bereiches Maschinenbau der SPK, Genosse Schomburg, das MfS, weil er der Meinung war, allein nichts Wesentliches verändern zu können.
Nach Äußerungen Schomburgs sei eine wesentliche Seite der ursprünglich vorgesehenen Aufgaben der SPK, die Leitung der Volkswirtschaft, fast völlig vernachlässigt worden. Die Mehrzahl der verantwortlichen Leiter und Mitarbeiter führen nur noch Planungsarbeiten durch, erfüllen aber nicht ihre Aufgaben als Leiter der Industriezweige. Hinzu kommt noch ein wenig operativer Arbeitsstil, der von der früheren Plankommission praktisch übernommen wurde und sich heute auch auf die Industrieabteilungen ausgebreitet hat. Man könne die SPK als eine »Beschlussmaschine« bezeichnen; denn es werden in einem derartigen Umfang Beschlüsse gefasst, dass niemand mehr in der Lage ist, diese konkret unter Kontrolle zu halten. Eine weitere Schwäche sei, dass umfangreiche Beschlussvorlagen äußerst kurzfristig, manchmal nur Stunden vor den Leitungssitzungen, an die Teilnehmer zur Vorbereitung gegeben werden und von diesen dann praktisch nur formal zugestimmt wird, ohne das Problem wirklich durchdacht zu haben. Wichtige Beschlussvorlagen, die ernsthafte Schwierigkeiten zum Inhalt haben und eine Entscheidung der Leitung der SPK erfordern, werden in der Regel mehrmals zurückgegeben und überarbeitet, bis sie den Vorstellungen der Leitung entsprechen. Grundsätzlich bestehe auch seitens der Leitung der SPK die Tendenz, Probleme – auch wenn sie auf bestimmte Schwerpunkte hinweisen – nur dann zu behandeln, wenn entsprechende Vorschläge für ihre Lösung vorhanden sind. Aber selbst dann würden sie in der Praxis nicht immer realisiert und blieben nur Lösungen auf dem Papier.
Kritiken an diesem Arbeitsstil werden zurückgewiesen, und die Mehrzahl aller Mitarbeiter traut sich deshalb nicht, offen seine Meinung zu sagen.