Meinungen zum Bau des Atomkraftwerks Rheinsberg
19. Dezember 1961
Bericht Nr. 786/61 über einige Probleme des Verhaltens führender Wissenschaftler der Kommission Kernenergie zum weiteren Aufbau des Atomkraftwerkes I Rheinsberg
Dem MfS wurde bekannt, dass über die Perspektiven des AKW I unter einer Reihe führender Wissenschaftler unterschiedliche, z. T. widerspruchsvolle Auffassungen bestehen. Da mit dem 7.12.1961 dem Vorsitzenden der SPK, Genosse Mewis, ein Memorandum der Kommission Kernenergie1 übergeben wurde, das die unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Kommission umgeht, erachtet es das MfS für erforderlich, zu diesem Problem Stellung zu nehmen.
Nach vorliegenden Hinweisen haben sowjetische Wissenschaftler und Staatsfunktionäre seit etwa 1959 die Kernphysiker der DDR in informellen Gesprächen wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass zumindest aus volkswirtschaftlichen Gründen in der gegenwärtigen Periode größere Vorhaben auf dem Gebiet des Kern-Kraftanlagenbaus unzweckmäßig sind.
Einige Wissenschaftler haben aber offensichtlich die Bedeutung dieser Hinweise nicht in vollem Umfange erkannt, da sie trotz dieser Meinungen von sowjetischer Seite eine Beschleunigung des Forschungs- und Aufbautempos auf dem Gebiet des Kernkraftanlagenbaus für die DDR befürworten.
U. a. wurden durch die Einflussnahme und Haltung von Prof. Rambusch, damaliger Leiter des Amtes für Kernforschung und Kerntechnik, und teilweise von Prof. Dr. Steenbeck2, von der Kommission Kernenergie Empfehlungen gegeben, die zu dem Beschluss des Ministerrates von 10.3.1960 über die Projektierung und den Bau der 2. Ausbaustufe des AKW I führten, obwohl u. a. von den Professoren Barwich3 und Rompe4 Vorbehalte bestanden. Diese unterschiedlichen Auffassungen im wissenschaftlichen Rat zur friedlichen Anwendung der Atomenergie wurden in der Empfehlung nicht erwähnt, sodass der Eindruck entstehen musste, die Stellungnahme gebe eine einheitliche Meinung der Wissenschaftler wider.
In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die Empfehlung zustande kam, obwohl unter den Wissenschaftlern keine klaren Vorstellungen über Aufgabenstellung und Forschungsprogramm für das AKW I bestanden. Desgleichen waren noch keine Vereinbarungen mit der SU über eine gewisse Spezialisierung im Forschungsprogramm zwischen der SU und der DDR getroffen worden. Dennoch ließ es die Kommission Kernenergie zu, dass ohne wissenschaftlich begründete Vorstellungen und Untersuchungen über Umfang, Aufbau und Aufgabenstellung der 2. Ausbaustufe dem Ministerrat die Empfehlung zum weiteren Aufbau des AKW I gegeben wurde.
Obwohl auch durch eine offizielle Erklärung der sowjetischen Seite, wonach die DDR in eigener Verantwortung und aus eigener wirtschaftlicher Kraft alle Haupt-, Hilfs- und Nebenanlagen einschließlich des Reaktorkessels für die 2. Ausbaustufe bauen müsste, teilweise eine Klärung der Perspektive des AKW I erfolgte, sind die unterschiedlichen Meinungen der in der Kommission Kernenergie vertretenden Wissenschaftler auch gegenwärtig noch nicht überwunden.
Am 24.11.1961 tagte die Kommission Kernenergie unter Vorsitz von Prof. Dr. Hertz. Durch das Verhalten der Professoren Dr. Steenbeck und Rambusch, mit einer gewissen Billigung und Unterstützung durch Prof. Dr. Thiessen5, wurde das Ergebnis der Beratung und die Zielstellung des Memorandums an Genosse Mewis in eine Richtung gelenkt, die nicht einmütig gebilligt wurde. Die Nichtteilnahme der Professoren Barwich und Rompe, die sich eng an die Auffassungen sowjetischer Spezialisten anlehnen und eine abweichende Haltung zur Konzeption von Steenbeck und Rambusch beziehen, an der Kommissionssitzung führte erneut zur Annahme einer Empfehlung, die nicht allseitig wissenschaftlich durchdacht ist und die ökonomischen Möglichkeiten völlig unberücksichtigt lässt.
Die Kommission empfahl im Ergebnis ihrer Beratungen:
- 1.
Die im Protokoll Nr. 18 vom 5.11.1961 in Moskau vereinbarten Maßnahmen zur Fertigstellung des AKW I sollten nicht anerkannt und nicht unterzeichnet werden.
- 2.
Ausarbeitung eines Memorandums an den Vorsitzenden der SPK, Minister Mewis, für die Verhandlungen mit sowjetischen Vertretern Mitte Dezember 1961. Über das zuständige Staatsorgan soll dabei eine Änderung der Verträge zum AKW I mit der SU erreicht werden. (Dieses Memorandum wurde von Prof. Rambusch nach der Kommissionssitzung erarbeitet und gibt nur die vorherrschenden Meinungen wieder.)
- 3.
Fertigstellung des AKW I, 1. Ausbaustufe, als Versuchsanlage, ohne es in die Energieversorgung der DDR mit einzubeziehen.
- 4.
Die Kommission beschloss, die 2. Ausbaustufe des AKW I abzusetzen und die »Grundgedanken« dieser Ausbaustufe evtl. für eine spätere Veränderung der 1. Ausbaustufe zu verwenden.
Zu den im Memorandum genannten Empfehlungen liegen noch folgende Hinweise vor:
Während des Sitzungsverlaufes am 24.11.1961 argumentierten Steenbeck und Rambusch, unterstützt von Thiessen, zu den Fragen der Perspektive der Elektroenergiegewinnung aus Kernbrennstoffen allein auf der Grundlage ihrer theoretischen Erkenntnisse und Vorstellungen. Vonseiten verschiedener Wissenschaftler wird aber darauf hingewiesen, dass die theoretische Konzeption nicht den ökonomischen Bedingungen der DDR entspricht sowie verfahrenstechnische und technologische Probleme überhaupt unberücksichtigt lässt. Aus diesen Gründen sind die von der Kommission getroffenen Festlegungen als unreal einzuschätzen, da sie nicht von der tatsächlichen Situation ausgehen und keine exakt wissenschaftliche und ökonomische Grundlage besitzen.
Nach dem Entschluss der Kommission, die 2. Ausbaustufe aus volkswirtschaftlichen Überlegungen abzusetzen, empfahlen Steenbeck und Rambusch zunächst, Möglichkeiten zur Veränderung der technischen Konzeption der 1. Ausbaustufe zu prüfen. (Einbau einer Materialschleuse, usw.) Diese Veränderungen hätten das Ziel, »verbesserte Bedingungen für ein umfassendes Forschungs- und Experimentierprogramm zu schaffen, um auf großtechnischer Basis an der Lösung von Problemen zur wirtschaftlichsten Energiegewinnung aus Kernbrennstoffen arbeiten zu können«. Beide Wissenschaftler besitzen jedoch zzt. noch kein wissenschaftlich begründetes Forschungs- und Experimentierprogramm, sodass die Forderung nach Änderung der technischen Konzeption, d. h. auch die Forderung nach Vertragsänderung mit der SU, nur eine Verzögerung der Fertigstellung des AKW I bedeuten würde.
Außerdem steht diesen Forderungen entgegen, dass der erreichte Stand der Bausubstanz in Rheinsberg keine umfassenden Änderungen zulässt und die Fertigstellung der technischen Ausrüstungsgegenstände in der SU ein Stadium erreicht haben soll, an dem die geforderten Veränderungen nur unter größerem materiellen Aufwand vorgenommen werden könnten.
Die vorliegenden Hinweise besagen weiter, dass mit den gewünschten Vertragsänderungen bei den Verhandlungen mit der SU die Forderung nach Übergabe der theoretischen Berechnungsunterlagen an die Wissenschaftler der DDR durchgesetzt werden soll. Mit dieser Absicht verbinden Steenbeck und Rambusch wahrscheinlich das Ziel, dem unter ihrer Leitung stehenden EPKA über einen längeren Zeitraum Perspektive und Existenzberechtigung zu sichern. Der VEB EPKA soll nach Beendigung der Projektierungsarbeiten für die 1. Ausbaustufe die »Nachrechnungen« des AKW I in größerem Umfang vornehmen.
Die Forderungen nach Übergabe der theoretischen Berechnungsunterlagen und »Nachrechung« des AKW I werden mit der Notwendigkeit begründet, dass die deutschen Wissenschaftler das AKW I »verstehen müssen«, um es erfolgreich betreiben zu können. Eine Nachrechnung im Sinne von Steenbeck und Rambusch würde jedoch bedeuten, den bestehenden Tempoverlust beim Aufbau des AKW I noch zu vergrößern. Noch unverständlicher und verwirrender ist ihr Verhalten zu den sowjetischen Garantieverpflichtungen für die technischen Anlagen des AKW I.
Obwohl die sowjetischen Vertragspartner die Leistungsfähigkeit des Reaktors und aller anderen Anlagenteile garantieren, wurden von Steenbeck und Rambusch Vorbehalte über den Wert dieser Garantieverpflichtungen geäußert, die offensichtlich als Vorwand anzusehen sind, um die Forderung nach Vertragsänderung und Übergabe der Berechnungsunterlagen zu bekräftigen.
Diese Vorhaben von Steenbeck und Rambusch hat bei den sowjetischen Vertragspartnern den Eindruck eines gewissen Misstrauens in Bezug auf die wissenschaftlich-technische Arbeit der SU am AKW I und die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet mit der DDR hinterlassen. Auch während der Aussprache in der Kommission Kernenergie am 24.11.1961 wurden von einigen Wissenschaftlern, besonders wieder von Steenbeck und teilweise von Thiessen, Meinungen geäußert, die ein bestimmtes Misstrauen in die Fähigkeiten und in die Zuverlässigkeit der sowjetischen Wissenschaft zum Ausdruck brachten (Unglaube an die Exaktheit der theoretischen Berechnungsunterlagen der SU). Weiterhin wurde das Verhalten und die Verfahrensweise der SU gegenüber den Wissenschaftlern der DDR mit einigen Zügen neokolonialistischer Politik imperialistischer Länder verglichen (sinngemäß: wir wollen nicht wie Ghanaer6 behandelt werden, die etwa in Schweden einen Generator kaufen, um ihn laufen zu lassen, sondern wir wollen Anlagen bekommen, die wir verstehen).
Diese Äußerungen stehen in offenem Widerspruch zu den wirklichen Vereinbarungen mit der SU, die den Wissenschaftlern bekannt sind. Im Protokoll Nr. 18 erklären sich z. B. die sowjetischen Vertragspartner bereit, deutsche Spezialisten in der SU bei der Ausarbeitung aller Bedienungs- und Sicherheitsvorschriften mit einzubeziehen.
Das Ziel der »Nachrechnungen« ist ebenso fragwürdig, da das »Verstehen« der Anlage des AKW I ohne klare Vorstellungen und Festlegungen über die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit der SU hinsichtlich der zweckmäßigsten Ausnutzung und Erprobung erfolgen soll.
Zu den bereits genannten Absichten, im AKW I »Bedingungen für ein umfassendes Forschungs- und Experimentierprogramm« zu schaffen, wird von einer Reihe von Wissenschaftlern erklärt, dass für ein reales Forschungsprogramm der DDR die technischen Anlagen im Zentralinstitut für Kernphysik Rossendorf/Dresden und die vorgesehenen Anlagen des VEB AKW I Rheinsberg ausreichend seien. Aus diesen Gründen wäre eine Vertragsänderung mit der SU ebenfalls abzulehnen.
In diesem Zusammenhang ist noch bemerkenswert, dass auch im Vertrag mit der SU das AKW I als Versuchskraftwerk geplant ist. Die Entscheidung der Kommission, das AKW I als Versuchskraftwerk zu betrachten, hat daher offensichtlich die Bedeutung, die Grundlage für den Aufbau umfassender Forschungs- und Experimentieranlagen im AKW I zu schaffen, praktisch also ein 2. Zentralinstitut einzurichten.
Aus den vorliegenden Materialien kann nicht eindeutig eingeschätzt werden, welche Motive bei Steenbeck und Rambusch zu derartigen, unrealen Forderungen führten. Über die volkswirtschaftlichen und finanziellen Konsequenzen dieser Forderungen dürften aber kaum Unklarheiten bestehen.
Insgesamt ist einzuschätzen, dass sich aus den im Bericht angeführten Problemen
- 1.
der offenen Fragen über die Zusammenarbeit mit der SU,
- 2.
der offenen Fragen in der Auslegung der Aufgabenstellung des AKW I, 1. Ausbaustufe und
- 3.
der stark subjektivistischen Auffassungen einzelner Spezialisten
erhebliche materielle Mehraufwendungen und Verzögerungen bei der Fertigstellung und Inbetriebnahme des AKW I Rheinsberg ergeben können.
Zur Sicherung der planmäßigen Weiterführung der Arbeiten am AKW I wäre es erforderlich, durch die SPK die Vereinbarungen des Protokolls Nr. 18 unbedingt zu bestätigen, in nächster Zeit mit der SU das Programm der Erprobung und Ausnutzung des AKW I endgültig festzulegen und eine weitgehende Abstimmung über die Forschungs- und Entwicklungsrichtungen auf dem Gebiet der Kernphysik zwischen den sowjetischen und deutschen Institutionen herbeizuführen. Auf dieser Grundlage müssten die vorhandenen Unklarheiten bei den Spezialisten der DDR dann endgültig beseitigt werden, um eine reale Grundlage für die Weiterführung der Forschungsarbeiten zu schaffen.
Weiterhin sollte in Betracht gezogen werden, auf einer erneuten Tagung der Kommission Kernenergie unter Einbeziehung von Wirtschafts- und Staatsfunktionären die offenen Fragen zu behandeln und reale, wissenschaftlich begründete Empfehlungen für die Verhandlungen mit der SU zu erarbeiten.
In der Kommission Kernenergie könnte außerdem die Zweckmäßigkeit des Weiterbestehens der VEB EPKA geprüft und eine Empfehlung über die zukünftige Nutzung der dort vorhandenen Kapazitäten erarbeitet werden.
Mielke [Unterschrift]