Meinungen zum KPdSU-Parteitag (1)
27. Oktober 1961
Einzel-Information Nr. 673/61 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR auf den XXII. Parteitag der KPdSU
Über den XXII. Parteitag liegen zahlreiche Stellungnahmen aus allen Bevölkerungskreisen vor,1 wenn diese Reaktionen insgesamt gesehen auch noch nicht im Mittelpunkt aller Diskussionen stehen.
Während sich örtlich und von den einzelnen Bevölkerungsschichten her grundsätzliche Unterschiede lediglich in einer nicht so umfangreichen Reaktion in den ländlichen Gebieten und in der noch immer teilweisen Zurückhaltung von Angehörigen der Intelligenz zeigen, sind die einzelnen Argumente übereinstimmend und in der Mehrzahl positiv. Die Diskussionen haben dabei hauptsächlich
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die politische Bedeutung des XXII. Parteitages der KPdSU und des Programms,
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die ökonomische Seite des Programms,
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die Erklärung zum Friedensvertrag
zum Inhalt, wobei jedoch die Diskussionen über den Abschluss eines Friedensvertrages alle anderen bei Weitem überwiegen und auch zu den meisten Unklarheiten führen.
Während das Programm zum Aufbau des Kommunismus und der XXII. Parteitag überhaupt insgesamt richtig eingeschätzt werden und in den einzelnen Stellungnahmen vor allem auf
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die große internationale Bedeutung sowohl politisch als auch ökonomisch,
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die Bedeutung für die Erhaltung des Weltfriedens besonders durch die eindeutig dokumentierte auch militärische Stärke der Sowjetunion,
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die positive Auswirkung besonders für die Länder des sozialistischen Lagers und die internationale Arbeiterklasse und die Entwicklung in der DDR
hingewiesen wird und ablehnende Haltungen hierzu ausgesprochene Einzelerscheinungen sind, zeigen sich bei den Diskussionen über die ökonomischen Aufgaben, die im Programm gestellt und auch begrüßt werden, häufig gewisse Zweifel über die Realisierbarkeit dieser Maßnahmen.
Diese Zweifel werden oft damit zu begründen versucht, dass in der DDR mit der ökonomischen Hauptaufgabe auch zu weit gegangen worden sei und sie dann nicht erfüllt werden konnte.
Auf dieser Linie bewegen sich auch die Diskussionen, in denen verschiedene Versorgungsschwierigkeiten in der DDR zum Anlass von Zweifeln genommen bzw. zur Begründung eines Desinteresses angeführt werden, z. B.: Uns interessiert in erster Linie, dass bei uns die Versorgung klappt (Verteuerung von Kurzwaren, örtliche Versorgungsschwierigkeiten u. a. mit Kartoffeln) [und] Man müsse abwarten, es wird immer viel geredet und versprochen, aber die Wirklichkeit sehe dann ganz anders aus.
Am meisten diskutiert wurde die Erklärung des Genossen Chruschtschow, dass bei Verhandlungsbereitschaft der Westmächte der Termin für den Abschluss eines Friedensvertrages nicht die entscheidende Rolle spiele.2 Zwar gab es auch hier eine Vielzahl positiver Stellungnahmen, in denen diese Erklärung begrüßt wurde, weil sie den Friedenswillen und die ständige Verhandlungsbereitschaft der Sowjetunion zeige, aber die Unklarheiten und das Nichtverstehen der Äußerung des Genossen Chruschtschow, bei ernster Verhandlungsbereitschaft der Westmächte den Termin nicht als primär zu betrachten, sind allgemeinen Charakters und stärker als die zu anderen sich aus dem XXII. Parteitag ergebenden Probleme. Das geht auch aus der Vielzahl der dabei benutzten Argumente hervor, die übereinstimmend in allen Bevölkerungskreisen und in allen Bezirken auftraten. Selbst Mitglieder und Funktionäre der SED äußerten ihre Ratlosigkeit. Die Fragestellung wie soll jetzt argumentiert werden, ist für sie typisch.
Die Analysierung der einzelnen Argumente lässt folgende Hauptrichtungen erkennen und zeigt deutlich die Auswirkungen des gegnerischen Einflusses und in verschiedenen Fällen eine direkte Identität mit den feindlichen Einschätzungen und Argumenten:
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Einerseits sei die Erklärung zum Friedensvertrag ein Zurückweichen und als Schwäche der Sowjetunion zu werten und
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andererseits zeige sie die Überlegenheit der Westmächte, ihre Stärke und den Erfolg ihrer Verzögerungspolitik.
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Es bestünden Missverständnisse und Differenzen zwischen den Parteiführungen der Sowjetunion und der DDR, und die forcierte Agitation über den Abschluss eines Friedensvertrages 1961 sei voreilig gewesen.
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Die Sowjetunion sei gar nicht an einem schnellen Abschluss des Friedensvertrages interessiert, und mit der Bevölkerung der DDR macht man, was man will.
Aus der Vielzahl der in diesem und ähnlichem Sinne bekanntgewordenen Stimmen und Argumente soll nur auf einige der wesentlichsten hingewiesen werden, wobei typisch ist, dass die Mehrzahl aller sich dazu äußernden Personen von einer Verzögerung des Abschlusses eines Friedensvertrages als einer bereits mehr oder weniger feststehenden Tatsache ausgehen:
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Diese erneute Verzögerung sei völlig unverständlich.
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Erst striktes Ultimatum, jetzt Verlängerung auf unbestimmte Zeit.
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Die Westmächte haben uns lange genug an der Nase herumgeführt, deshalb wäre ein schneller Abschluss richtiger.
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Der Aufschub bedeute eine Stärkung der Militaristen.
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Chruschtschow habe einen »Rückzieher« gemacht.
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Der »Rückzug« Chruschtschows sei auf die konsequente Haltung der Westmächte zurückzuführen,
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sei ein Zeichen der Überlegenheit und Stärke der Westmächte.
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Dem Westen seien damit wieder Zugeständnisse gemacht worden, die sie in ihrer Verzögerungspolitik bestärkten.
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In Moskau habe man sich überlegt, dass ein Friedensvertrag die Spaltung Deutschlands vertiefe und in der Endkonsequenz zu einem Krieg führe.
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Die Sowjetunion sei an einem schnellen Abschluss nicht interessiert.
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Die Ausführungen Chruschtschows seien gegen Walter Ulbricht gerichtet, der vor allem noch in diesem Jahr den Friedensvertrag haben wollte und die gesamte Agitation darauf eingestellt habe.
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Unsere starke Agitation und Orientierung auf Abschluss noch im Jahre 1961 beruhe sicher auf einem Missverständnis beider Parteiführungen.
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Die gesamte Agitation in Richtung Friedensvertrag sei zu stark gewesen und zeige, dass man sich nicht immer auf bestimmte Termine festlegen sollte.
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Mit unserer gesamten Agitation haben wir uns lächerlich gemacht.
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Man will uns nur hinhalten.
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Bis zum Abschluss eines Friedensvertrages werden noch einige Jahre vergehen.
Diese u. ä. Argumente und Diskussionen zu dem Komplex Friedensvertrag treten zwar häufig auf, stellen jedoch in ihrer Gesamtheit und im Verhältnis zu den vielen positiven Äußerungen nicht die Mehrheit aller Reaktionen überhaupt dar.
Mielke [Unterschrift, gestrichen]