Probleme bei der Versorgung der Bevölkerung
31. Oktober 1961
Bericht Nr. 660/61 über einige Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung
Aus der Mehrzahl der Bezirke der DDR wurde uns bekannt, dass seit Anfang Oktober 1961 einzelne Schwierigkeiten im Handel auftreten, die Anlass zu unzufriedenen Diskussionen unter der Bevölkerung sind.1
Diese Schwierigkeiten entstehen durch erhöhte Abkäufe, durch sich daraus ergebende Fehlbestände in den Verkaufsstellen und im Großhandel sowie durch die Nichteinhaltung von Lieferverträgen seitens der Lieferbetriebe oder -bezirke.
In der Hauptsache werden davon die Bezirke Karl-Marx-Stadt, Dresden, Leipzig, Halle, Erfurt und Gera betroffen. Besonders im Bezirk Karl-Marx-Stadt kam es etwa ab 3. Oktober 1961 zu umfangreichen Hamster- und Angsteinkäufen, die sich in der Hauptsache auf die Warenarten Bohnenkaffee, Waschmittel, Gewürze, aber auch auf Grundnahrungsmittel, Textilien, Schuhe, Toilettenartikel und andere Gegenstände erstreckten.
Es wurden Personen festgestellt, die in verschiedenen Verkaufsstellen bis zu 15 Pakete Bohnenkaffe und größere Mengen Waschmittel hamsterten. Bereits am 8. Oktober 1961 waren in einem Teil der Geschäfte im Bezirk Karl-Marx-Stadt, die Bohnenkaffee im Angebot führten, sämtliche Bestände an Kaffee ausverkauft, und mehrere Verkaufsstellen mussten infolge der Käuferschlangen, des erhöhten Andrangs und der unwilligen Diskussionen, die in diesen Kreisen geführt wurden, bereits in den frühen Morgenstunden schließen. Innerhalb einer Woche war im Bezirk Karl-Marx-Stadt die zur Anlieferung in die Verkaufsstellen vorgesehene Menge an Bohnenkaffee verkauft.
Auch nach der jetzigen Übersicht sind diese Hamstereinkäufe, die meistens als »Kettenabkäufe« getarnt wurden, noch nicht vollkommen eingedämmt, und die Tagesumsätze der Verkaufsstellen übertreffen noch die normalen Einnahmen.
Die Ursachen dieser Einkäufe sind im Wesentlichen in Folgendem zu suchen: Die ab 1. Oktober 1961 in Kraft getretene Preiserhöhung für Kurzwaren löste im Allgemeinen bei großen Teilen der Bevölkerung erhebliche Diskussionen aus. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt wurden bereits kurz nach Inkrafttreten der Preiserhöhung unzufriedene Diskussionen geführt, begünstigt durch die im Bezirk erfolgte Durchsetzung der 24-Stunden-Bewegung2 im Großhandel und durch die negativen Diskussionen der Handelsfunktionäre des Bezirkes.
Ähnlich war die Reaktion in den übrigen Bezirken. Die verantwortlichen Staatsfunktionäre aus den Abteilungen Handel und Versorgung bei den Räten der Kreise und der Bezirke äußerten mehrfach Zweifel an der Richtigkeit des Beschlusses. Obwohl sofort die organisatorische Arbeit im Sinne des Beschlusses begonnen und alle Maßnahmen zur reibungslosen Durchführung der Anordnung eingeleitet wurden, wird unter den Staats- und Handelsfunktionären immer noch die Meinung vertreten, dass die Notwendigkeit für diese Entscheidung nicht vorlag und der Zeitpunkt ungünstig gewählt wurde.
Es gelang beispielsweise auch nicht, die 200 Belegschaftsangehörigen der GHG Kurzwaren Dresden von der Richtigkeit der Durchführung der Einzelhandels-Preisveränderung zu überzeugen und sie in eine positive Einflussnahme auf den Einzelhandel und die Bevölkerung einzuschalten. Die GHG Kurzwaren Dresden (Frauenbetrieb) erwies sich vielmehr als Ausgangspunkt der negativen Diskussionen unter der Bevölkerung.
Die Diskussionen verliefen meistens in der Richtung,
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dass die Zügel nach dem 13. August straffer gezogen würden,
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dass die Bevölkerung das Inkrafttreten des Verteidigungsgesetzes und damit den weiteren Aufbau der Volksarmee bezahlen müsse,3
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dass Preiserhöhungen nicht nur in Westdeutschland, sondern in gleichem Umfang auch in der DDR erfolgen,
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dass Waren aller Art jetzt zurückgehalten würden, da andere Länder ihre Handelsbeziehungen mit der DDR eingeschränkt oder eingestellt hätten,
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dass man auf der einen Seite das Produktionsaufgebot verlange, auf der anderen Seite jedoch Preiserhöhungen vornehme,
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dass Preiserhöhungen nicht »in der Natur« des Sozialismus liegen,
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dass in Moskau während des XXII. Parteitages große Pläne entwickelt würden,4 es jedoch in der DDR bergab ginge u. Ä.
In diesem Zusammenhang wurde das Gerücht verbreitet – besonders im Bezirk Karl-Marx-Stadt –, dass in Kürze weitere Waren im Preis erhöht würden und einige Artikel infolge der Einstellung von Lieferungen aus anderen Ländern Engpassware würden. Im Bezirk Erfurt wurde in Besprechungen der örtlichen Handelsfunktionäre (im Bezirk bis zu den Kreisen und Gemeinden) die Orientierung gegeben, dass die Werbung für den Kauf von Bohnenkaffee einzustellen ist, da die NATO-Länder die Kaffeelieferungen in die DDR boykottieren. Diesem Boykott hätte sich Brasilien als stärkster Kaffeelieferant in die DDR angeschlossen und die Verträge mit uns storniert. Ähnliche Orientierungen wurden in Leipzig und Halle während der Besprechung mit Handelsfunktionären gegeben. Daraufhin wurde in diesen Bezirken die Abgabe des Kaffees in der Hauptsache in Gaststätten und Spezialverkaufsstellen konzentriert.
Durch diese Gerüchte, die meistens von den Verkaufskräften durch Aufmunterung zum Kauf weiterer Waren noch unterstützt wurden, sowie durch die Orientierung der bezirklichen Handelsorgane kam es zu erhöhten Abkäufen in den Geschäften. Die Hamstereinkäufe griffen von Bohnenkaffee auf andere Waren (Lebensmittel und Industriewaren) über.
Die Diskussionen und Hamstereinkäufe, die durch das Inkrafttreten der Preisänderung für Kurzwaren ausgelöst wurden, haben letzten Endes ihren Ursprung in der mangelhaften politischen Vorbereitung dieser Aktion durch die zentralen Stellen. Die Kritik leitender Genossen – besonders aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt – richtet sich vor allem gegen eine nicht rechtzeitige Information des Partei- und Staatsapparates, obwohl diese Aktion seit ca. einem Jahr in organisatorischer Hinsicht vorbereitet wurde. Die Argumentation des Ministeriums für Handel und Versorgung sei nicht stichhaltig genug und enthalte keine fundierte Begründung für den eigentlichen Zweck der Preiserhöhung, obwohl von den leitenden Genossen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt betont wurde, dass sie eine teilweise Veränderung der Relation Kauf- und Warenfonds durch diese Aktion begrüßen würden. Einzelne Preisfestsetzungen (wie z. B. bei Gummierzeugnissen und Nähseide) wurden als zu hoch und als nicht vertretbar eingeschätzt.
Die Korrektur der Einzelhandelsspanne bei elastischen Bändern und Litzen sowie gummielastischen Artikeln zulasten der Verbrauchsabgabe (wirksam ab 23.10.1961) wird von den Handelsfunktionären – besonders im Bezirk Dresden – vielfach als ein Eingeständnis der Mängel, die in dem Beschluss über die Neuregelung der Einzelhandelsspannen bei Kurzwaren enthalten waren, angesehen. In Einzelfällen wurde in den Bezirken seitens der Handelsfunktionäre Bestrafung der für die Anordnung der Preisregulierung Verantwortlichen gefordert.
Bei den Hamstereinkäufen an Bohnenkaffee ist noch folgender Umstand zu berücksichtigen: Bisher wurden die den Bezirken zustehenden Mengen Kaffee quartalsweise vom Ministerium für Handel und Versorgung zugewiesen. Ab IV. Quartal 1961 wurden die Mengen Kaffee jedoch monatlich zugeteilt, wobei eine Änderung in der Zuweisung zulasten der Monate Oktober/November, aber zugunsten des Dezembers erfolgte. Durch diese Regelung erhielten sämtliche Bezirke eine Kürzung der Kaffeemenge im Oktober auferlegt, was in den bezirklichen Handelsorganen die Reaktion auslöste, eine dekadenmäßige Bindung an die Verkaufsstellen vorzunehmen. Diese Regelung galt auch für verschiedene Lebensmittel. Die Maßnahme wirkte sich in der jetzigen Lage in allen Bezirken ungünstig aus, und die Argumente der Verkaufskräfte »dass der Kaffee knapp werde und bereits Kürzungen eingetreten seien«, trugen ebenfalls mit zum verstärkten Abkauf bei. Jetzt, nach Bekanntgabe der Liefermenge für das gesamte IV. Quartal 1961, stellten die Bezirke fest, dass die Zuteilungen an Kaffee höher liegen als im IV. Quartal 1960 und der Bedarf der Bevölkerung ohne Weiteres gedeckt werden kann. (Im Bezirk Erfurt z. B. ist die Lieferung an Bohnenkaffee um 50 t höher als im IV. Quartal 1960.)
In den Bezirken ergibt sich mit dem jetzigen Stand folgende Lage: Die unzufriedenen Diskussionen über die Preiserhöhung bei Kurzwaren halten weiterhin an, auch unter Handelsfunktionären der Bezirke und Kreise. Die Gerüchte über noch folgende Preiserhöhungen sind weiterhin im Umlauf. Dabei werden vor allem solche Artikel wie Elektrowaren, Schuhe, Baumwollerzeugnisse sowie Grundnahrungsmittel (Mehl, Zucker usw.) genannt.
Der Abkauf von Bohnenkaffee, der im Bezirk Karl-Marx-Stadt das größte Ausmaß erreichte, hat sich infolge des reichlichen Angebotes normalisiert. (Der Bezirk Karl-Marx-Stadt erhielt eine zusätzliche Aufstockung von 60 t Bohnenkaffee.)
Auch in den Landgemeinden ist der Abkauf sämtlicher Waren im Wesentlichen normal, wobei aber eingeschätzt werden muss, dass die Einkäufe der Landbevölkerung meistens in den Städten erfolgen.
In den Verkaufsstellen der Städte und in den Warenhäusern beträgt die Steigerung des Umsatzes noch immer 30 bis 40 % (besonders in den Bezirken Karl-Marx-Stadt und Dresden sowie Erfurt), wobei in der Hauptsache qualitativ hochwertige Erzeugnisse in Textilien und Industriewaren gekauft werden. Bei Pelzwaren ist noch eine Umsatzsteigerung von ca. 100 % im Gegensatz zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres zu verzeichnen.
In den Kreisstädten Aue sowie in Schneeberg/Karl-Marx-Stadt betrug die Umsatzsteigerung bei Konfektion, Meterware und Schuhen am 20.10.1961 noch bis zu 200 % gegenüber dem normalen Verkauf.
Die Versorgung mit Waschmitteln ist in allen Bezirken sehr angespannt, zumal die Lieferungen seitens der Herstellerfirmen unkontinuierlich eintreffen und bereits mehrmals gekürzt wurden.
Der Umsatz bei Zucker, Mehl, Reis, Haferflocken und Lebensmittelkonserven ist seit Anfang Oktober angestiegen und erreichte bisher in den Bezirken noch nicht wieder die normale Tagesmenge. In den Bezirken Gera und Erfurt machen sich Lücken im Angebot bei Zündhölzern und Stärkemitteln bemerkbar. Die Sicherheitsbestände im Bezirk Erfurt sind fast verbraucht.
Unzufriedenheit herrscht in allen Bezirken über das mangelhafte Angebot an Gewürzen – besonders in den Landgemeinden – und an Glühbirnen.
Durch die von der Partei und vom Staatsapparat eingeleiteten Maßnahmen wurden mehrere Personen der Hamsterei überführt. Bei Hausdurchsuchungen wurden z. B. im Bezirk Karl-Marx-Stadt größere Mengen Lebensmittel und andere Waren gefunden und beschlagnahmt. Einige Personen mussten festgenommen werden. Die Strafverfahren werden jeweils in der Kreis- und Bezirkspresse ausgewertet.
Im Zusammenhang mit den Hamstereinkäufen erfolgte besonders in den Bezirken Karl-Marx-Stadt und Erfurt eine erhöhte Geldabhebung von den Sparkassen.
Ungünstig auf die Handelslage wirkt sich in der Mehrzahl der Bezirke der Rückstand in der Kartoffeleinkellerungsaktion aus. Einen breiten Umfang nimmt das Argument ein, dass in diesem Jahr nur 1 Ztr. pro Person zur Einkellerung freigegeben würde. Im Bezirk Erfurt wird dieses Argument noch verstärkt durch die Maßnahme des Handels, wonach zzt. Handelsfunktionäre und Angestellte des örtlichen Staatsapparates die Haushalte aufsuchen mit dem Ziel, die Kartoffelmengen aus der eigenen Ernte – Garten oder individueller Ackerbesitz – zu erfassen und die Bevölkerung zur Rückgabe eines Teils der Kartoffelkarten oder zur zusätzlichen Lieferung von Kartoffeln aus der individuellen Ernte zu veranlassen. Aus einer im Bezirk Erfurt erarbeiteten Einschätzung geht hervor, dass im Bezirk ca. 50 000 t Kartoffeln zur Winterversorgung fehlen.
Im Bezirk Halle (Kreis Aschersleben) wurde in den Gemüseverkaufsstellen von den Verkaufskräften mehrfach die Orientierung gegeben, dass die Haushalte die benötigten Einkellerungskartoffeln selbst bei den LPG lesen sollen, was dazu führte, dass sich vor den Verkaufsstellen große Käuferschlangen – hauptsächlich Rentner – beim Eintreffen von Einkellerungskartoffeln bildeten.
Ähnliche Argumente sind im Bezirk Karl-Marx-Stadt im Umlauf.
In einzelnen Kreisen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt wurde eine vorläufige Auslieferung von einem Ztr. Kartoffeln pro Person festgelegt. In diesem Bezirk besteht eine Differenz zwischen Bedarfsforderungen und Warenbereitstellungsplan von ca. 13 000 t Kartoffeln, die als Fehlmenge gerechnet werden müssen. Laufende Veränderungen des Liefer- und Empfangsplanes seitens des Ministeriums für Landwirtschaft, Erfassung und Forstwirtschaft erschwerten die Erarbeitung einer realen Übersicht über benötigte Kartoffelmengen und schafften in der Vergangenheit Verwirrung in den Kreisen. Auf der anderen Seite hatte sich der Bezirk Karl-Marx-Stadt im Gegensatz zur Festlegung des Ministeriums für Landwirtschaft, Erfassung und Forstwirtschaft, zusätzliche Kartoffelmengen aus dem Bezirk Schwerin zu beziehen, darauf orientiert, Kartoffeln aus dem Bezirk Cottbus zu erhalten, was durch zentrale Anweisung rückgängig gemacht werden musste. In einigen Kreisen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt musste den Wünschen der Bevölkerung auf Umtausch der Einkellerungskartoffeln entsprochen werden, da die gelieferten Mengen eine mangelhafte Qualität aufwiesen.