Proteste im LEW Hennigsdorf (2)
3. Juni 1961
2. Einzel-Information Nr. 280/61 über Provokationen in Hennigsdorf
Ergänzend zu unserer Information Nr. 272/61 vom 2.6.1961 werden noch folgende vom MfS festgestellte Einzelheiten mitgeteilt:
Die Versorgungslage1 in Hennigsdorf weist schon seit einiger Zeit verschiedene, zum Teil erhebliche Mängel auf, die meist örtlichen Charakter haben und durch falsche Dispositionen von Verkaufsstellen und örtlichen Organen entstanden. Z. B. fehlte es Mitte Mai 1961 an Zucker, Brot und Streichhölzern. Fleisch und Gemüse gab es nur unregelmäßig und in nicht ausreichendem Sortiment. Besonders negativ wirkten sich jedoch die Schwierigkeiten in der Butterversorgung aus. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass das Gebiet Hennigsdorf im Pro-Kopf-Verbrauch an Butter an erster Stelle im Kreis Oranienburg stand. Der im Gebiet Hennigsdorf im 1. Quartal 1961 vorhandene Pro-Kopf-Verbrauch von 1,2 kg Butter pro Monat wurde auf Anweisung des Rates des Bezirkes auf 950 g herabgesetzt. Dadurch forderten fast alle Verkaufsstellen in Hennigsdorf zusätzliche Buttermengen vom Rat des Kreises an, was vom Abteilungsleiter für Handel und Versorgung abgelehnt wurde, mit der Begründung, Hennigsdorf hätte ständig Extraforderungen. Auch der Sekretär für Wirtschaft der SED-Kreisleitung lehnte eine zusätzliche Lieferung ab.
Auf Anweisung des Rates des Kreises wurden ab Mittwoch, dem 31.5.1961 in verschiedenen Gemeinden des Kreises Oranienburg, u. a. auch in Hennigsdorf, Bons ausgegeben, die zum Butterkauf berechtigen. Die Einwohner wurden durch Aushänge und Schaufensterbeschriftungen aufgefordert, sich unter Vorlage des Hausbuches wahlbezirksweise diese Bons beim Einwohneramt abzuholen. Durch die Tatsache, dass festgelegt wurde, die Einführung dieser Bons nicht agitatorisch vorzubereiten, sondern nur bei bestimmten Fragen entsprechende Auskünfte zu geben, führten diese Maßnahmen zu erheblichen Diskussionen und Unzufriedenheiten unter der Bevölkerung. Sie wurden noch dadurch verstärkt, dass während dieser Aktion eine weitere Ausgabe von Bons durch den Rat des Bezirkes untersagt wurde und die Bevölkerung dadurch ernste Nachteile für sich befürchtete, sodass es zu Angsteinkäufen in Hennigsdorf kam. Insgesamt wurde diese Maßnahme in den Diskussionen als Wiedereinführung der Rationierung bezeichnet. Besonders stark waren die negativen Diskussionen in fast allen Abteilungen des LEW und in mehreren Abteilungen des Stahl- und Walzwerkes, besonders dort, wo schwere körperliche Arbeit (Gießgrube, Schrottplatz, Mechanische Werkstatt) verrichtet wird. In zahlreichen Fällen nahm man diese Versorgungsschwierigkeiten zum Anlass von Diskussionen gegen die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft,2 auf die man die Schwierigkeiten zurückzuführen versuchte. Die Parteiorganisationen in beiden Betrieben standen diesen Diskussionen fast völlig passiv gegenüber. Es gab sogar einen Teil Genossen, die selbst negativ mitdiskutierten. Vor allem wurde kritisiert, dass die Bevölkerung über die vorgesehene Verteilung von Butter nicht richtig aufgeklärt wurde und so Gerüchtemachern der Boden nicht entzogen werden konnte.
Um die Situation schnell zu verändern, wurde am 3.6.1961 ca. 1 t Butter zusätzlich an die Verkaufsstellen im Raum Hennigsdorf geliefert. Gleichzeitig wird das Verkaufspersonal entsprechend aufgeklärt, um die Bevölkerung positiv beeinflussen zu können.
Um den Engpass in der Brotversorgung zu überwinden (durch Fehlen von 13 Arbeitskräften in der Konsumbäckerei Velten besteht eine tägliche Fehlmenge von ca. 1 000 Broten) wurde veranlasst, dass ebenfalls ab 3.6.1961 täglich 1 000 Brote aus Pasewalk in den Kreis Oranienburg geliefert werden.
Zur Provokation in der Abteilung »Technische Vorbereitung und Kontrolle« des LEW Hennigsdorf (Resolution und Unterschriftensammlung) werden noch folgende Einzelheiten mitgeteilt.3 Es gab in dieser Abteilung keinen wesentlichen politischen Einfluss weder von der Parteiorganisation noch von der Gewerkschaft. Obwohl bekannt war, dass in der gesamten Abteilung kein Mitglied der SED vorhanden ist, dass bereits am 17.6.1953 diese Abteilung Ausgangspunkt der Provokationen im LEW war und dass auch späterhin verschiedene feindliche und provokatorische Auffassungen dort vertreten wurden, orientierte die Betriebsparteiorganisation und die BGL nicht auf diese Abteilung mit der Begründung, dass dort keine regelrechten Produktionsaufgaben zu lösen sind. (Die Abteilung besteht aus 45 Personen, davon 17 Ingenieure, 5 Techniker sowie technische Zeichner, Pauser und Vorbereiter.)
Ein Teil der in der provokatorischen Resolution enthaltenen Argumente und Forderungen wurde bereits 1960 nach der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft vertreten. Ebenfalls traten solche Diskussionen auf, wie: »Die Russen sind auch Imperialisten; denn sie haben Polen verschiedene Gebiete abgenommen«, »Wie lange haben wir noch Ruhe, bis an der Ostgrenze genau das passiert, wie an der Westgrenze«. Von einigen Kollegen wurden besonders die VR Polen und Jugoslawien verherrlicht. Fernsehprogramme des westdeutschen Fernsehens wurden beschafft, abgezogen und in der Abteilung verbreitet.
Über den Initiator der provokatorischen Resolution, Newrzella, wurde noch ermittelt, dass er bereits 1960 provokatorische Redewendungen gegen die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft gebrauchte und Andeutungen über seine evtl. Republikflucht machte. N. wurde bei der Unterschriftensammlung aktiv von dem Konstrukteur Heinz Dehler4, der bereits seit 1934 im Betrieb tätig ist, unterstützt. Außer Abteilungsleiter Schreiber und Kollegen [Name], hatten alle anwesenden Kollegen der Abteilung ihre Unterschrift gegeben.