Proteste von Schülern der Scholl-Schule (Anklam)
12. Oktober 1961
Einzel-Information Nr. 638/61 über die provokatorischen Vorkommnisse an der »Geschwister-Scholl-Oberschule« in Anklam/Neubrandenburg
In der Zeit vom 18. bis 21.9.1961 kam es in der Klasse 12b der »Geschwister-Scholl-Oberschule« in Anklam zu einer Reihe provokatorischer Vorkommnisse, deren Untersuchung durch das MfS folgenden Sachverhalt ergab:1
Nachdem sich am Montag, 18.9.1961, die 21 Jungen der Klasse 12b bereiterklärten, zur NVA zu gehen, wurden sie deshalb beim Fahnenappell am 18.9.1961 vor allen Schülern lobend erwähnt. Bei diesem Appell sangen die 21 Schüler das Lied »Heut ist ein wunderschöner Tag« nicht mit und richteten bei der Bekanntgabe ihres Entschlusses, zur NVA zu gehen, ihre Blicke demonstrativ auf den Erdboden.
Ebenfalls am 18.9. schrieb der Schüler der Klasse 12b, [Name 1], geboren [Tag, Monat] 1944 aus Neuendorf, Kreis Anklam, Sohn eines LPG-Bauern, folgende konterrevolutionäre Losung auf ein Experimentierbrett im Chemieraum:
»Freiheit! Freiheit! Wir wollen frei sein. Schlagt Eure Führer – auf zur Revolution! Befreit euch oder flüchtet nach drüben! Besorgt Euch Waffen! Schlagt die NVA!«
[Name 1] zeigte diese Losung während des Chemieunterrichts am 23.9.1961 seinen Mitschülern [Name 2] und [Name 3]. Entdeckt wurde sie jedoch erst am 15.9.1961.
Am 20.9.1961 früh erschien – außer einer Schülerin – die gesamte Klasse 12b in schwarzer Oberbekleidung zum Unterricht.
Ferner wurde zu Beginn der vierten Unterrichtsstunde bei Lehrer [Name 4] ein schwarzer Trauerflour zusammen mit einem roten Bonbon von dem Schüler Penzel auf den Lehrertisch gelegt.
Obwohl der politisch feindliche Charakter dieser Provokationen und auch die Organisiertheit dieser Handlungen eindeutig war[en], hat keine der am 20.9. diese Klasse unterrichtenden vier Lehrkräfte, auch nicht die Genossen darunter, ernstlich dagegen Stellung genommen.
Klassenlehrer [Name 5] (SED) sagte lediglich zu Beginn der ersten Unterrichtsstunde: »Na hoffentlich sieht es in Euren Köpfen nicht auch so traurig aus.« Der Lehrer [Name 4] (SED) erklärte später auf Befragen, dass er zwar ein schwarzes Bändchen habe liegen sehen, es aber nicht weiter beachtet und beiseite geschoben habe. Nur ein Lehrer, Kollege [Name 6], fragte vor Beginn der fünften (!) Stunde, was denn eigentlich in der Klasse los sei. Als ihm vom Schüler [Name 7] geantwortet wurde: »Wir tragen unsere Zukunft zu Grabe«, gab er sich mit dieser Antwort offensichtlich zufrieden und erwiderte nichts darauf. (Wie aus späteren Erklärungen verschiedener Jugendlicher hervorgeht, wunderten sie sich auch darüber, dass kein Lehrer Anstoß an ihrer Provokation nahm.)
So kam es auch, dass über diese Vorfälle von den Schulfunktionären der Oberschule nichts an die Partei, an die FDJ und an den Kreisschulrat berichtet wurde.
Auch auf der am 21.9. von der Abteilung Volksbildung des Kreises Anklam in der Oberschule durchgeführten pädagogischen Ratssitzung und auf einer Parteiversammlung der Grundorganisation an der Oberschule, die auf Anregung der Kreisleitung der Partei einberufen wurde, nahmen die Lehrer (außer der Lehrerin [Name 8], SED, die eine klassenmäßige Einschätzung dieser Situation gab) keine parteiliche Haltung ein und bezeichneten diese Provokationen als »Dummjungenstreiche«.
Bei der Befragung der Schüler über die Ursachen ihrer feindlichen Handlungen konnte festgestellt werden, dass sie sich bereits abgesprochen hatten und übereinstimmend aussagten, sie hätten nur zum Ausdruck bringen wollen, dass sie mit dem Unterricht des Lehrers [Name 4] nicht einverstanden wären.
Die vom MfS aufgrund dieser Fakten weitergeführten Untersuchungen brachten den eindeutigen Beweis des organisierten Charakters dieser Provokationen.
So traf sich am Montag, 18.9., eine Gruppe von Schülern in einer abgelegenen Gaststätte in Anklam. Dort wurde hauptsächlich über den Eintritt in die NVA diskutiert und, um ihren Unwillen über den Eintritt kundzutun, festgelegt, dass
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am 20.9. alle Schüler in Trauerkleidung,
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am 21.9. mit Schlips oder Fliege und
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am 22.9. im Trainingsanzug zum Unterricht
zu erscheinen haben.
Mit dem Tragen von Schlips und Fliege bzw. Trainingsanzug sollte demonstrativ die »Geschlossenheit des Kollektivs« unterstrichen werden. Auf dieser Zusammenkunft wurde auch festgelegt, diese Provokation erforderlichenfalls nach außen hin nur als gegen den Lehrer [Name 4] gerichtet auszugeben und sie damit zu verniedlichen. Ferner wurde festgelegt, sich in Zukunft öfters in dieser Form zusammenzufinden und ein Kennwort an die Gruppenmitglieder auszugeben.
Wortführer bei dieser Zusammenkunft waren der Penzel, Rainer FDJ-Sekretär der Gruppe, geboren 8.1.1944, Sohn eines Schlossers auf der MTS und [Name 9], geboren [Tag, Monat] 1944, Sohn eines LPG-Bauern.
Penzel war es auch, der während der Zusammenkunft die Internatserzieherin [Name 10] anrief und um Ausgangsverlängerung für die internatsmäßig untergebrachten Schüler bat, wobei er angab, dass sie sich auf einer Geburtstagsfeier befänden. Tatsächlich hatte einer der Schüler Geburtstag, was aber nicht der Anlass der Zusammenkunft war.
Nachdem in Absprache zwischen der Kreisdienststelle des MfS Anklam und der SED-Kreisleitung Anklam eine für den 21.9. mit der Klasse 12b vorgesehene Aussprache seitens des pädagogischen Rates abgesetzt worden war, wurde aufgrund der bisher angeführten ersten Ermittlungsergebnisse des MfS am 21.9., 17.00 Uhr, ein Schülerforum mit den Klassen 12a und 12b einberufen. Neben Vertretern der Kreisleitung der Partei, der FDJ und anderer gesellschaftlicher Organisation war auch der Leiter der Bezirksverwaltung Neubrandenburg des MfS, Oberst Szinda, anwesend, der dort den provokatorischen Charakter dieser Vorkommnisse einschätzte.
Nach der Aufforderung, klare Stellungnahmen zu den Vorkommnissen abzugeben, sprachen die Schüler nur sehr stockend und zum Teil widersprüchlich. Der Schüler [Name 9] z. B., der in Vernehmungen über die Organisation der Provokation Aussagen machte und darüber auf dem Forum sprechen sollte, bestritt seine Aussagen, um – wie er später erklärte – vor dem Kollektiv »nicht als Feigling« zu gelten.
Dieses lügenhafte Verhalten des [Name 9] trug mit dazu bei, dass die Schüler der Klasse 12b nach Beendigung des Forums – auf dem abschließend vom Kreisschulrat bekanntgegeben wurde, dass die gesamte Klasse 12b vom weiteren Oberschulbesuch vorläufig ausgeschlossen ist und wo auch der 2. Sekretär der FDJ-Kreisleitung mitteilte, dass alle an der Provokation beteiligten Schüler aus der FDJ ausgeschlossen sind – einen an den Staatsrat der DDR gerichteten Brief verfassten.
In diesem Brief wird versucht, die Provokation u. a. durch das bereits widerlegte Argument, es habe sich nur um eine Missfallenskundgebung gegen den Lehrer [Name 4] gehandelt, zu bagatellisieren und das Eingreifen des MfS deshalb als unbegründet hinzustellen.
Neben den Schülern [Name 2] und [Name 11] aus der Klasse 12b war an der Abfassung dieses Briefes der FDJ-Sekretär der Oberschule, [Name 12] aus der Klasse 11b führend beteiligt. [Name 12], der bei der gesamten Schülerschaft sehr großen Anklang hat, solidarisierte sich mit der Provokation und versuchte alles zu ihrer Abschwächung.
Vom komm. Direktor Hildebrandt wurde die Absendung dieses Briefes untersagt.
Zur weiteren Auswertung der Provokationen wurden noch folgende Maßnahmen durchgeführt:
Unter Leitung des 1. Sekretärs der Bezirksleitung der SED, Genosse Ewald, wurde am 22.9. mit der Klasse 12b eine erneute Aussprache geführt, in der Genosse Ewald den Schülern erklärte, dass sie am 23.9. den Unterricht wieder aufnehmen könnten, einige jedoch bestraft würden. Gleichfalls befürwortete er, den Beschluss der FDJ-Kreisleitung auf Ausschluss der gesamten Klasse zu revidieren. Aufgrund dieser Hinweise wurde von den Volksbildungsorganen festgelegt, drei Schüler der Oberschule Anklam an andere Oberschulen des Bezirkes strafzuversetzen. Von der FDJ wurde vorgeschlagen, einige Schüler mit einer Verbandsstrafe zu belegen.
Am 22.9.1961 wurden ferner durch die Kreisleitung der Partei Genossen, deren Kinder in der Klasse 12b unterrichtet werden, zu einer Aussprache bestellt.
In dieser Aussprache wurde von einigen Genossen Eltern eine labile Haltung eingenommen, u. a. auch vom Genossen [Name 13], der selbst Lehrer an der Berufsschule in Anklam ist. Seine Frau hat sehr enge Bindungen zum Pastor Weigele, und es ist aufschlussreich, dass am 24.9. die Provokation der Klasse 12b vom Superintendenten Duwe während des Gottesdienstes erwähnt wurde. Er predigte, dass »der Herr ihr Richter sein wird«. In einer Aussprache mit Duwe durch den Ratsvorsitzenden und den 1. Stellvertreter erklärte Duwe, dass er als kirchlicher Würdenträger stets für milde Strafe betet, auch wenn es sich um einen Mörder handele.
Am 26.9. fand in allen Grundorganisationen der FDJ an der Oberschule eine Versammlung statt, der sich eine Gesamtschüler- und Lehrer-Versammlung anschloss. An dieser Versammlung nahmen Vertreter der Bezirksleitung der Partei und FDJ, der Leiter der Bezirksversammlung des MfS und Vertreter der Partei, des Staatsapparates und der gesellschaftlichen Organisationen des Kreises Anklam teil.
Oberst Szinda gab auf dieser Versammlung die Gründe der Festnahme des Schülers [Name 1], der die bereits erwähnte Hetzlosung schmierte, bekannt und forderte zwei Schüler der Klasse 11a, die in einer Gaststätte gegen die an der Schule Untersuchungen führenden Vertreter der Partei und Sicherheitsorgane hetzten, zur Stellungnahme auf.
Als die beiden Schüler eine Stellungnahme verweigerten, wurden sie aus der FDJ ausgeschlossen und durch die anwesende Ordnungsgruppe der FDJ aus der Versammlung gewiesen.
Vom Büro der Bezirksleitung der SED wurde Bezirksschulrat Genosse Schröder am 27.9. mit der Durchführung der erforderlichen Maßnahmen zur Veränderung der Situation an der Oberschule Anklam beauftragt.
Am 28.9. gab Genosse Schröder auf einem Fahnenappell der gesamten Schülerschaft folgende Beschlüsse des pädagogischen Rates bekannt:
- 1.
Außer fünf Schülern ist die gesamte Klasse 12b vom weiteren Besuch aller Oberschulen der DDR ausgeschlossen (später wurden noch weitere drei Schüler ausgeschlossen).
- 2.
Der Schüler [Name 12] wird von der Oberschule Anklam an eine andere Schule im Bezirk Neubrandenburg versetzt.
- 3.
Der Schüler [Name 14] aus der Klasse 11a wird vom weiteren Unterricht an allen Oberschulen der DDR ausgeschlossen.
Diese Maßnahmen hinterließen bei allen Schülern der Oberschule größte Wirkung.
Ferner wurden durch die Abt. Volksbildung alle Eltern, deren Kinder zur Oberschule gehen, zur Elternaussprache – getrennt mit den Eltern der Klasse 12b und mit den übrigen Klassen – geladen. In der ersteren schwieg der größte Teil der Eltern. Lediglich der Genosse [Name 15], LPG-Bauer, gab eine positive Stellungnahme ab. In der Elternversammlung der übrigen Klassen wurden vom Chefarzt des Kreiskrankenhauses, Dr. Wiesner, und von der Frau des Zahnarztes Dr. [Name 16] positive Stellungnahmen abgegeben.
Auf der Parteiversammlung mit den Genossen Lehrern der Oberschule am 29.9. wurde der Beschluss der Partei mitgeteilt, dass die Lehrer Genosse [Name 5], seine Frau (parteilos), Genosse [Name 17], Genosse [Name 4] und komm. Direktor Hildebrandt (NDPD) fristlos entlassen sind und die Lehrer Genossin [Name 18], Kollege Dr. [Name 19], Kollege [Name 6] und Kollege [Name 20] an eine andere Stadtschule versetzt werden.
Die entsprechenden neuen Kader für die »Geschwister-Scholl-Oberschule« wurden im Bezirksmaßstab ausgewählt und erhielten bereits ihre Versetzung. Die Maßnahmen wurden an allen Schulen des Bezirkes und durch den Genossen Ewald während der Stadtparteiaktivtagung am 28.9. in Anklam ausgewertet. Insgesamt sind die Maßnahmen zum überwiegenden Teil in den Betrieben des Kreises Anklam von den Werktätigen begrüßt worden.
Vom MfS wurden die im Bericht erwähnten Pensel, Rainer, [Name 9], [Name 1] festgenommen. [Name 1] erklärte in seiner Vernehmung, dass er die konterrevolutionäre Losung ebenfalls als Protest gegen den Eintritt in die NVA geschmiert habe.
Im Verlaufe der weiteren Untersuchungen wurde noch festgestellt, dass der Schüler [Name 21] aus der Klasse 12b der Oberschule am 25.8.1961 zusammen mit zwei anderen Jugendlichen Kontakt zu Angehörigen der amerikanischen Militärverbindungsmission aufnahm und sich längere Zeit in englisch mit diesen unterhielt. Die MVM-Angehörigen hielten sich in der HO-Gaststätte »Bahnhofshotel« in Anklam auf. Für eine Verbindung dieser Zusammenkunft mit den Provokationen konnte noch keine Bestätigung erbracht werden.