Reaktion der DDR-Intelligenz auf den Mauerbau
24. August 1961
Bericht Nr. 478/61 über die Reaktion der Angehörigen der Intelligenz auf die Schutzmaßnahmen der Regierung der DDR
Dem MfS liegen eine Vielzahl von Stimmen aus Kreisen der Intelligenz vor, die folgende Gesamteinschätzung zulassen:
Es gibt eine große Anzahl von Angehörigen der Intelligenz, die von Anfang an sehr offen und klar die Maßnahmen der Regierung begrüßen und sie teilweise auch ihren Mitarbeitern begründen. Verschiedene leitend tätige Angehörige der Intelligenz erklärten, dafür sorgen zu wollen, dass in ihrem Arbeitsbereich alles reibungslos verläuft und evtl. negative Diskussionen zurückgedrängt werden. Als Argumente werden von diesen Personenkreisen meist angeführt,
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dass die DDR durch die Politik Westdeutschlands, besonders durch die Ausnutzung Westberlins als Frontstadt, zu diesem Schritt gezwungen wurde,
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dass dem von Bonn inszenierten Menschenhandel ein Riegel vorgeschoben werden musste,
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dass die DDR von ihrer Souveränität Gebrauch gemacht habe,
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dass die Schließung der Grenzen zwar für manche persönlich unangenehm, aber notwendig gewesen sei.
So wurden hauptsächlich aus Kreisen der Intelligenz eine Reihe Telegramme an den Vizepräsidenten der USA, Johnson, nach Westberlin gesandt. In diesen Telegrammen wurde Johnson aufgefordert, sich für Verhandlungen zum Abschluss eines Friedensvertrages einzusetzen, damit der Kriegsherd Westberlin beseitigt wird.
Elf Diplom-Ingenieure und Ingenieure des VEB FSW/Freital begrüßten die Maßnahmen der Regierung und verpflichteten sich, mit allen Walzwerkern über die schändlichen Machenschaften der Kopfjäger und Menschenhändler zu sprechen.
Das Kollektiv der Jungingenieure vom VEB Möbelindustrie Oelsa/Freital will sich anlässlich der Maßnahmen der Regierung der DDR verstärkt dafür einsetzen, ihre Produktion von westdeutschen Importen unabhängig zu machen.
An der Technischen Hochschule Dresden nahmen Professoren und Dozenten trotz ihres Urlaubes an Versammlungen in der TH über die Maßnahmen der Regierung teil und bezogen dort eine positive Stellung.
Der Ingenieur [Name 1] vom Institut für Mess- und Prüftechnik der Forschungsgemeinschaft der Deutschen Akademie der Wissenschaften erklärte sich mit den Maßnahmen einverstanden und stellte sich freiwillig für den Schutz seiner Arbeitsstelle zur Verfügung.
Prof. Dr. Gummel1 vom medizinisch-biologischen Forschungszentrum der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin-Buch (Poliklinik) stellte sich auf einer Versammlung hinter die Maßnahmen der Regierung und erklärte vor den Mitarbeitern, dass man in politischen Fragen zwar verschiedene Ansichten haben könne, in der Frage Westberlin man jedoch diesen Zustand nicht auf die Dauer bestehen lassen konnte.
Der Leiter des Instituts für Gerätebau der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Prof. Dr. Jancke, begrüßte ebenfalls – wenn auch mit einigen Unklarheiten – die Maßnahmen der Regierung und erklärte, alle in seinem Institut etwa in persönlichen Gesprächen auftretenden negativen Ansichten und Unklarheiten zu beseitigen.
Der parteilose Abteilungsleiter im physikalisch-technischen Institut, Dr. Pätz, begrüßte die Maßnahmen voll inhaltlich, besonders dass endlich der Republikflucht ein entscheidender Riegel vorgeschoben wurde. Für solche Maßnahmen »heiligt der Zweck die Mittel«.
Die charakteristischste Reaktion der meisten Angehörigen der Intelligenz – im Wesentlichen unabhängig, ob technische, wissenschaftliche oder medizinische Intelligenz – war jedoch eine seit Bekanntwerden der Maßnahmen festzustellende abwartende Haltung.
Obwohl in der Folgezeit in immer stärkerem Maße konkrete Stellungnahmen besonders positiver aber in nicht zu unterschätzendem Maße auch negativer Art bekannt wurden, muss diese Zurückhaltung und das Abwarten auch zzt. noch als weit verbreitet eingeschätzt werden.
Diese anfängliche Zurückhaltung dürfte zu einem großen Teil auf die in diesen Kreisen herrschende Resignation darüber zurückzuführen sein, dass sie keine »Rückzugsmöglichkeiten« in Form von Republikfluchten mehr sehen. Bei einem Teil sind offensichtlich auch stille Spekulationen auf evtl. Gegenmaßnahmen Anlass gewesen, sich vorerst nicht zu äußern. Vereinzelt wurde selbst auf direktes Ansprechen hin abgelehnt, eine Stellungnahme abzugeben. Z. B. wird im VEB Kombinat Böhlen eingeschätzt, dass ca. 80 % der Beschäftigten der Ingenieurtechnischen Zentrale zu den Maßnahmen der Regierung schweigen und nicht aus sich herausgehen. Ähnlich ist es auch in vielen anderen Betrieben, wenn auch nicht mit diesem hohen Prozentsatz. Im VEB Straßen-, Gleis- und Tiefbau Leipzig nehmen besonders die parteilosen Ingenieure und die Jungingenieure keine Stellung zu den Maßnahmen, obwohl sie teilweise dazu aufgefordert wurden.
Auch die bei einem großen Teil der negativen Äußerungen übereinstimmend angeführten Argumente lassen neben der direkten Ablehnung eine weit verbreitete Unsicherheit unter den Kreisen der Intelligenz erkennen, wobei oft deutlich die westliche Orientierung und der Einfluss der feindlichen Hetze zu spüren ist.
So sind die am häufigsten verbreiteten Argumente:
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Die Maßnahmen der Regierung der DDR schränkten ihre »persönliche Freiheit« ein.
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Jetzt habe die Partei und Regierung die Angehörigen der Intelligenz in absolute Abhängigkeit gebracht.
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Es sei mit einem verschärften besonders gegen die Intelligenz gerichteten Kurs zu rechnen.
(finanzielle und materielle Einschränkungen, Angleichung an andere sozialistische Länder, Unterbindung der Kontakte nach Westdeutschland und Westberlin usw.)
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Die Maßnahmen würden sich in erster Linie gegen die Bevölkerung der DDR richten, um die Republikflucht zu verhindern. Sie seien deshalb ungerechtfertigt, weil
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die Argumentation des Menschenhandels nicht zutreffend sei,
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Abwerbungen nur Einzelbeispiele seien,
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die Ursachen der Republikflucht in Wirklichkeit im Nichteinverständnis mit der Politik in der DDR lägen, besonders in den Schwierigkeiten auf dem Gebiete der Versorgung.
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Die Argumentation, mit diesen Maßnahmen der Tätigkeit der feindlichen Geheimdienste und Agentenzentralen in Westberlin entgegenzuwirken, sei nicht zutreffend,
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weil nach wie vor Westberliner Bürger das demokratische Berlin betreten dürfen,
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während dies Bürgern der DDR und des demokratischen Berlins nicht mehr möglich sei.
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Besonders dieser letzte Gesichtspunkt wird von der Mehrheit der Angehörigen der Intelligenz zum fast ausschließlichen Maßstab einer Einschätzung der Maßnahmen der Regierung der DDR gemacht und vor allem davon die »Einschränkung der persönlichen Freiheit« abgeleitet.
In diesem Zusammenhang wird immer wieder die Frage aufgeworfen, inwieweit es jetzt noch möglich sei, zu wissenschaftlichen Tagungen und Kongressen, zu Urlaubs- und Besuchsreisen nach Westdeutschland und Westberlin zu fahren. Hauptsächlich von den im demokratischen Berlin und in den Randgebieten wohnenden Angehörigen der Intelligenz wird dies auch auf die Einkaufsmöglichkeiten in Westberlin ausgedehnt.
Ebenso stößt die Empfehlung, vorübergehend die Reisen auch ins demokratische Berlin einzustellen, auf Unverständnis.
Diese Fragen nimmt ferner ein großer Teil der abwartenden Personen zum Anlass seiner Haltung und will erst Klarheit haben, wie die zukünftige Verfahrensweise bei Genehmigungen von Reisen nach Westdeutschland und Westberlin aussehen wird.
Mit negativen Argumenten wird ferner oft der Einsatz von Panzern, Wasserwerfern, die Errichtung von Betonsperren und Stacheldraht bedacht, der für falsch und gegen die Bevölkerung der DDR gerichtet angesehen wird. Selbst wenn man diese Maßnahmen als gegen Westdeutschland und Westberlin gerichtet einschätzt, wären sie doch trotzdem Ausdruck einer »unangebrachten Politik der Stärke« und erhöhten die unmittelbare Kriegsgefahr.
Von einer Reihe Ärzten wird offen zum Ausdruck gebracht, dass sie nur aus Rücksicht auf ihre Patienten in der DDR geblieben sind und bleiben, nicht etwa, weil sie mit den Maßnahmen der Regierung der DDR einverstanden sind.
Aus der Vielzahl der Beispiele sollen nur einige typische und besonders krasse angeführt werden:
Der Leiter des Instituts für anorganische Chemie der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Prof. Thilo, äußerte sich über die Maßnahmen in empörter Weise wie folgt: Er sei zwar mit einer Unterbindung der R-Fluchten einverstanden, lehne aber die »demonstrierte Politik der Stärke als Methode« ab. Ein Staat, der es nötig habe, seine Menschen mit Stacheldraht und Panzern in den Grenzen zu halten, sei eine fragwürdige Erscheinung. Ursachen der R-Flucht seien nicht die Abwerber, sondern die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die den Menschen in der Republik den Glauben an ihre Perspektive des Wohlstandes genommen hätten. Er verwahre sich energisch gegen die derzeitige Propaganda und verlange, dass man Mut zur Wahrheit habe. »Man sollte nicht annehmen, dass die Menschen nicht selbst denken.«
Von den im Physikalischen Institut der Humboldt-Universität beschäftigten Angehörigen der Intelligenz wurde bisher noch keine zustimmende Äußerung zu den Maßnahmen bekannt, obwohl ständig darüber diskutiert wird und die Arbeitsmoral schon unter diesen Auseinandersetzungen gelitten hat. U. a. wurden folgende Ansichten vertreten: die Panzer seien nicht gegen die Westberliner Rowdys sondern vornehmlich gegen die eigene Bevölkerung aufgefahren, damit sie nicht gegen die Schließung der Grenzen protestieren könne; die Grenzschließung wäre nicht so schlimm, wenn die DDR-Wirtschaft eine normale Versorgung sichern könne. Dies werde aber niemals der Fall sein; es sei herzlos, sich über die privaten Schwierigkeiten, die sich vor allem für die Berliner ergeben, mit einem einzigen Satz hinwegzusetzen.
Eine Reihe wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hochschule für Elektrotechnik Ilmenau schätzt die Maßnahmen der Regierung der DDR wie folgt ein:
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Die Maßnahmen stellten eine Verletzung internationaler Abkommen dar, und die Verantwortung für mögliche Komplikationen liege bei der DDR.
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Hauptgrund für die Maßnahmen sei gewesen, den ständig zunehmenden Republikfluchten Einhalt zu gebieten. Dieses Problem wäre jedoch besser durch die wirtschaftliche Einholung Westdeutschlands zu lösen gewesen.
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Das angebliche Ziel, die Agententätigkeit von Westberlin aus einzudämmen, würde nicht erreicht, weil Westberliner Bürger weiterhin in das demokratische Berlin kommen könnten.
In fast allen Betrieben im Bezirk Halle (ohne dass sich bestimmte Schwerpunkte zeigen) erklären Angehörige der technischen Intelligenz, dass der Menschenhandel nur deshalb so stark propagiert werde, weil wir keine anderen Argumente zur Rechtfertigung der Maßnahmen fänden. In erster Linie würden wirtschaftliche Unzulänglichkeiten die Menschen zu Verrätern an der DDR machen. In Leuna wurde von zwei Angehörigen der Intelligenz die Auflösung des Komitees gegen Menschenhandel gefordert.
Der parteilose Ingenieur [Name 2], der Dipl.-Ing. [Name 3] und der Ingenieur [Name 4], alle im Institut für Mess- und Prüftechnik (DAW) beschäftigt, erklärten übereinstimmend, dass sie die Maßnahmen als Einengung ihrer persönlichen Freiheit betrachten, besonders weil sie nicht mehr nach Westberlin gehen können.
Prof. Dr. Scheinost, Werkdirektor und Chefkonstrukteur des VEB Entwicklungsbau Pirna, beantragte einen Dauerpassierschein für Westberlin, sonst würde er seine Arbeit nicht fortsetzen. Ähnliche Erpressungsversuche traten öfters, auch in Kreisen der medizinischen Intelligenz auf.
Dr. [Name 5] vom Kinderkrankenhaus Rangsdorf bezeichnete die Regierung als Strolche, die Panzer auffahren ließen und Stacheldraht zogen, um den Staat zu retten. Er hätte schon lange die DDR verlassen, wenn ihm die Kinder nicht so leid täten. Am 17.9. würde er nicht zur Wahl gehen.
Dr. [Name 6] aus Torgau erklärte offen, dass es ihm in der Westzone besser gefällt als in der DDR. Wenn er noch hier bleibt, so geschehe das nur aus Rücksicht auf seine Patienten.
Alle Ärzte der Inneren Abteilung des Bezirkskrankenhauses Dessau-Alten bezogen folgende gemeinsame Stellung: »Wir müssen zusammenhalten und uns keine Blöße geben, was auch die nächste Zeit bringen möge.«
Die Assistenzärzte [Name 7] und [Name 8] vom Bezirksrankenhaus St. Georg Leipzig äußerten, dass man sich als Gefangener betrachten müsste. Man sollte alle krankschreiben, damit es in der DDR gleich zusammenbricht.
In vielen Fällen waren solche Äußerungen mit Hetze gegen Partei und Regierung verbunden.
Außer diesen die negative Haltung charakterisierenden Argumenten und Beispielen gibt es noch eine Reihe weiterer Erscheinungen und Stimmen, die aber nicht diesen Umfang annehmen und zum Teil auch nur vereinzelt auftraten. Z. B. erklärten vereinzelt Angehörige der Intelligenz ihren Austritt aus der SED durch Abgabe des Parteidokumentes, weil sie mit den Maßnahmen nicht einverstanden waren, wie der Oberarzt des Kreiskrankenhauses Sebnitz und ein Arzthelfer im Krankenhaus Johann-Georgen-Stadt.
Aus dem Krankenhaus Berlin-Buch gibt es Hinweise, dass einige Berliner Ärzte auf die Ausgabe der Passierscheine zum Betreten Westberlins warten, um dadurch eine Möglichkeit zur Republikflucht zu erhalten. In diesem Zusammenhang muss auch auf die unmittelbar in den ersten Tagen nach Inkrafttreten der Maßnahmen erfolgten R-Fluchten von 19 Ärzten aus der Charité und elf weiteren Ärzten aus dem Berliner Gesundheitswesen hingewiesen werden.
Die Reaktion der im demokratischen Berlin beschäftigten Westberliner Angehörigen der Intelligenz nahm insgesamt gesehen keinen negativen Charakter an.
Die meisten dieser Personen erklärten sich bereit, weiterhin in der DDR bzw. im demokratischen Berlin zu arbeiten und erschienen größtenteils auch auf ihren Arbeitsstellen.
Eine Bereitschaft zur Übersiedlung in die DDR bzw. das demokratische Berlin war jedoch nur in einigen Ausnahmefällen festzustellen.
Übereinstimmend erklären jedoch diese Kreise, dass sie im Falle bestimmter Repressalien seitens Westberliner Dienststellen oder Personen (Geldumtausch, Rufmord usw.) ihr Arbeitsverhältnis bei uns aufgeben werden bzw. erwartet ein Teil von ihnen dann eine stärkere Unterstützung durch die DDR.