Sicherheitslage im Bezirk Erfurt
29. September 1961
Bericht Nr. 592/61 über die im Zusammenhang mit den Schutzmaßnahmen der Regierung der DDR aufgetretenen politisch-operativen Schwerpunkte im Bezirk Erfurt
I. Territoriale und objektmäßige Schwerpunkte
Im Bezirk Erfurt sind folgende Kreise und Objekte als Schwerpunkte in Erscheinung getreten:
Der Kreis Eisenach durch:
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schriftliche Hetze in Form des Anschmierens von Losungen und des Verbreitens selbst gefertigter Hetzschriften (Inhalt gegen Partei und Regierung gerichtet),
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mündliche Hetze (U. a. wurde eine Gruppe von 3 Personen inhaftiert, die aktive Hetze und Beihilfe zum Menschenhandel betrieb.),
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verstärkter Einfluss des Westfernsehens,
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die meisten Grenzdurchbrüche und Desertionen nach dem 13.8.1961,
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Diversionshandlungen im VEB Kraftverkehr Eisenach,
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durch Insassen des katholischen Katechetenseminars (Wahlbezirk 19 Eisenach) 38 Nichtwähler, acht Gegenstimmen,
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Ablehnung von Wahlvorschlägen der bürgerlich-demokratischen Parteien,
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schleppende Wahlvorbereitung und Einsicht in die Wählerlisten,
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mangelhafte Einsatzbereitschaft der Mitarbeiter des Staatsapparates,
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Konzentration ehem. aktiver Nazis in der Abteilung Finanzen beim Rat des Kreises sowie von Rückkehrern und Erstzuziehenden im VEB Kraftverkehr,
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besonders aber auch durch das AWE Eisenach, wo durch ständige Materialschwierigkeiten und Planänderungen starke Zweifel an der Perspektive auftreten, größere Unzufriedenheit unter der Belegschaft und Intelligenz besteht, mangelnde Mitarbeit in den Kampfgruppen sowie Ablehnung des Beitritts der Jugendlichen zur NVA in Erscheinung tritt und Hetze und Schmierereien auftraten.
Der Kreis Erfurt-Stadt durch:
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schriftliche Hetze in Form des Anschmierens von Losungen und des Verbreitens selbst gefertigter Hetzschriften,
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verstärkte mündliche Hetze,
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Diversionshandlungen im VEB Kraftverkehr Erfurt,
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164 Nichtwähler und 14 Gegenstimmen in den Wahlbezirken 53 und 54 in Erfurt durch katholischen Bischofssitz und das katholische Priesterseminar,
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größere Rowdygruppen unter Jugendlichen,
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Ablehnung des Dienstes in der NVA durch Studenten der med. Akademie (6. Studienjahr).
Der Kreis Weimar durch:
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schriftliche Hetze in Form des Anschmierens von Losungen und des Verbreitens selbst gefertigter Hetzschriften,
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mündliche Hetze,
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konzentrierte Ablehnung des Dienstes in der NVA,1 besonders im Feingerätewerk (Jungingenieure),
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Konzentration ehem. Nazis in den Museen,
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Konzentration von »Zeugen Jehovas« in Gutendorf – 28 Nichtwähler und fünf Gegenstimmen,2
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Forderung der bürgerlich-demokratischen Parteien nach Erhöhung der Anzahl ihrer Kandidaten für die Wahl.
Der Kreis Apolda durch:
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Verbreitung schriftlicher Hetze in Form von Losungen und selbst gefertigten Hetzschriften,
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Konzentrierungen negativer Kräfte in den halbstaatlichen Betrieben – Zurückweichen der Gewerkschaft – schwache Verankerung der Partei in diesen Betrieben,
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starke Passivität der bürgerlich-demokratischen Parteien.
Der Kreis Gotha durch:
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die Existenz einer bewaffneten Gruppe mit revanchistischer Zielsetzung (liquidiert) und Konzentration aus der Partei ausgeschlossener Elemente in Winterstein,
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Hetzschmierereien und Konzentration von Rückkehrern und Erstzuziehenden im VEB Waltershausen,
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negatives und provozierendes Auftreten der Pfarrer des Kreises,
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die Existenz größerer Rowdygruppen in Gotha.
Der Kreis Arnstadt durch:
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die Existenz einer staatsfeindlichen Gruppe mit revanchistischer Zielsetzung in Stadtilm (liquidiert),
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organisiertes Westfernsehen in Gräfenroda,
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die Existenz einer Gruppe »Zeugen Jehovas« in Gräfenroda – elf Nichtwähler,
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Konzentration ehem. aktiver Nazis im Fernmeldewerk Arnstadt,
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die Existenz von Rowdygruppen in Arnstadt.
Der Kreis Nordhausen durch:
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verstärkte mündliche Hetze,
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Grenzdurchbrüche, besonders in Klettenberg,
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Diversionshandlungen und Konzentrationen von Rückkehrern und Erstzuziehenden im VEB Kraftverkehr Nordhausen,
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14 Nichtwähler in Bielen – Gruppe der »Zeugen Jehovas«.
Objektmäßige Schwerpunkte zeigten sich
im Kaliwerk Sondershausen durch:
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Hetzschmierereien,
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kleinere Diversionshandlungen in den Schächten,
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Konzentration ehem. aktiver Nazis.
in der Gemeinde Kleinfahner/Erfurt-Land durch:
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schlechte genossenschaftliche Arbeit,
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negative Meinungen reicher Obstbauern,
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sechs Nichtwähler, zwei Gegenstimmen bei der Wahl.
Im Reichsbahndirektionsbereich Erfurt in den Objekten Weimar, Meiningen (RAW), Erfurt, Gotha, Arnstadt, Weißenfels, Naumburg, Saalfeld, Vacha und Bad Salzungen durch:
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Anschmieren von Hetzlosungen und faschistischen Schmierereien,
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Diversionshandlungen an Signal- und Sicherungseinrichtungen,
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wieder zunehmende Unfälle und Wagenentgleisungen nach dem 23.8.1961,
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Rückstände in der Verladung und Gestellung von Waggons,
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mangelhafte Leitungs- und Erziehungsarbeit in den RAW,
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Verlegung von Teilstrecken im Grenzgebiet.
II. Bezirksmäßige Probleme, die als Schwerpunkte in Erscheinung traten
Die mangelhafte Planerfüllung in den Z-Betrieben ist vor allem auf folgende subjektive Ursachen mit zurückzuführen:
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ungenügende Durchsetzung sozialistischer Leitungsmethoden,
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formale Durchführung des sozialistischen Wettbewerbs,
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unzureichende Erläuterung der Perspektiven der Betriebe vor den Beschäftigten,
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unrationelle Kooperationsbeziehungen,
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Schwerpunkte dieser Art sind die VEB EVA Erfurt, AWE Eisenach, Büromaschinenwerk Sömmerda, Stahlbau Gispersleben und Petkus Wutha.
Die Störfreimachung der bezirks- und kreisgeleiteten Betriebe wurde etwa zu einem Drittel erst erfüllt.
Als grundsätzliche Mängel zeigten sich:
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unzureichende Unterstützung durch die VVB (vor allem die VVB Büromaschinen),
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Übertragung dieser Aufgabe in den Kreisplankommissionen an Mitarbeiter, die dieser Aufgabe nicht gewachsen und mit anderen Funktionen belastet sind,
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unbefriedigende Einbeziehung der ständigen Kommissionen und Aktivs in diese Aufgabe,
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Unterschätzung durch Industriezweige (Bauwesen) und Werkleitungen (IKA Sondershausen).
Die Rückstände in der Ablieferung pflanzlicher Produkte durch die LPG – besonders des Typ I – haben im Wesentlichen folgende Ursachen:
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inkonsequente Orientierung durch den Staatsapparat (Abt. Landwirtschaft) in der Frage der Hochwasserschäden und einer möglichen Herabsetzung des Ablieferungssolls,
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spekulative Erwägungen,
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unbegründete Dramatisierung der Futterversorgung für das Vieh,
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Forderungen nach Kürzung des Planes und des Abgabesolls bis um 50 % (Planerfüllung bis Anfang September etwa bei 44,5 %).
Ein weiteres Problem ist die Vernachlässigung der Entwicklung der Viehbestände durch ernsthaftes Zurückbleiben in der Sauen- und Färsenbedeckung. Begründet ebenfalls mit Futterschwierigkeiten und mangelhafter Arbeit der VEAB bei der Abnahme von vertragsgebundenen Nachwuchstieren.
Zunahme des Versands anonymer Hetz- und Drohbriefe im Bezirk Erfurt
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an führende Funktionäre des Partei- und Staatsapparates in der DDR und SU,
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über Deckadressen an den RIAS und an BBC,
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über Deckadressen in Westdeutschland zur Weiterleitung an die Bonner Regierung und die Regierungen der Westmächte.
Verstärkte Grenzdurchbrüche von der DDR nach Westdeutschland in der Mehrzahl von Personen aus dem Sperrgebiet.
Schwerpunktkreise und Orte im Zeitraum 13.8. bis 20.9.1961
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Eisenach, 34 Durchbrüche mit 71 Personen, davon 66 aus dem 500-m- und 5-km-Sperrgebiet – Schwerpunktorte Großburschla, Gerstungen, Neustadt und Lauchröden,
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Heiligenstadt, 15 Durchbrüche mit 29 Personen davon 24 aus dem Sperrgebiet – Schwerpunktorte Siemenroda, Wahlhusen, Freienhagen und Kirchgandern, sowie Klettenberg/Nordhausen und Berlingerode/Worbis,
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weiterhin: 450 Festnahmen bzw. Aussiedlungen von Personen, die sich unberechtigt im Grenzgebiet aufhielten – Schwerpunktkreise Eisenach, Nordhausen und Mühlhausen,
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Grenzbevölkerung gibt wenig Hinweise auf Republikfluchtverdächtige aus ihren Orten,
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keine offene Atmosphäre in den Grenzgemeinden aus Furcht vor Aussiedlung,
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abwartende Haltung bekannter negativer Konzentrationen und Gruppen.
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Halbstaatliche Betriebe als Konzentrationspunkte negativer und feindlicher Erscheinungen und Personengruppen durch:
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Konzentrationen bereits vorbestrafter Personen,
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Zuwanderungen von Arbeitskräften, mit denen Auseinandersetzungen in VEB erfolgten und die daraufhin abwanderten,
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Abhören und Erörtern von Reden westlicher Politiker durch die Belegschaften,
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Zurückweichen der Gewerkschaft vor Auseinandersetzungen,
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schwache Parteiorganisationen, Schwerpunkt Kreis Apolda.
III. Politisch-ideologische Schwerpunkte
Der überwiegende Teil der Bevölkerung des Bezirkes Erfurt stimmte den Maßnahmen vom 13.8.1961 offen zu. Trotzdem traten, beeinflusst durch die Westsender, allgemein unter allen Bevölkerungsschichten folgende negative und zweifelnde Argumente in Erscheinung:
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Diese Maßnahmen bedeuten Bruch des Potsdamer Abkommens, verschärfen die politische Lage, führen zur Vertiefung der Spaltung Deutschlands und möglicherweise zum Krieg.
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Die Maßnahmen sind ein Zeichen der Schwäche der Regierung der DDR, schränken die persönliche Freiheit ein und verwandeln die DDR in ein KZ, in dem man mit der Bevölkerung machen kann, was man will.
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Durch diese Maßnahmen wird sich infolge westlicher Wirtschaftsblockade die wirtschaftliche Lage in der DDR verschlechtern.
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Befürchtungen hinsichtlich schärferer Maßnahmen bei der Durchsetzung der Normen und der Aufhebung von Vergünstigungen für die Intelligenz; stärkere Eingriffe in die Existenz des Mittelstandes.
Verstärkt wurden und werden von Angehörigen des Mittelstandes Meinungen vertreten, dass die auf dem 13. Plenum des ZK3 gegebene Orientierung bezüglich der Perspektive des Mittelstandes wieder rückgängig gemacht und dem Handwerk gegenüber eine neue Politik durchgeführt würde mit dem Ziel, die Handwerker in die PGH zu zwingen.
Genährt und begünstigt werden diese Meinungen durch sektiererische Maßnahmen des Staatsapparates, wie z. B. Versuche, ehem. Handwerksbetriebe und Werkstätten republikflüchtiger Besitzer für andere Zwecke zu verwenden, besonders in den Kreisen Gotha, Mühlhausen, Sondershausen, Nordhausen und Eisenach.
Bei den Angehörigen der medizinischen und pädagogischen Intelligenz ist in letzter Zeit ein Stimmungsumschwung zum Negativen in Form abfälliger Äußerungen und mangelndem Vertrauen zur Politik der Regierung festzustellen.
Besonders stark sind hier die Diskussionen, dass jetzt alle gewährten Vergünstigungen rückgängig gemacht würden.
Innerhalb der bürgerlich-demokratischen Parteien trat neben starker Passivität in Erscheinung, dass in Vorbereitung auf die Wahlen zahlreiche ihrer Kandidaten abgelehnt werden mussten. Andererseits wurden, zum Teil durch Mitglieder der Kreisvorstände unterstützt, ungerechtfertigte Erhöhungen der Anzahl ihrer Kandidaten gefordert.
Schwerpunktkreise: Eisenach, Sömmerda, Worbis, Weimar, Heiligenstadt und Erfurt-Land.
Unter der Jugend zeigten sich im Zusammenhang mit dem Kampfaufruf des Zentralrates der FDJ Erscheinungen des passiven Verhaltens ganzer FDJ-Gruppen sowie offenes negatives und aggressives Auftreten gegen die Werbung zur NVA, vor allem bei Angehörigen der jungen Intelligenz und bei Studenten.