Sicherheitslage im Bezirk Schwerin
28. September 1961
Bericht Nr. 590/61 über die im Zusammenhang mit den Schutzmaßnahmen der DDR aufgetretenen politisch-operativen Schwerpunkte im Bezirk Schwerin
In Auswirkung der Maßnahmen der Regierung der DDR vom 13.8.1961 kristallisierten sich im Bezirk Schwerin folgende Schwerpunkte heraus:
I. Territoriale und objektmäßige Schwerpunkte
Kreis Sternberg
Im Kreisgebiet erfolgten mehrere Brandstiftungen an landwirtschaftlichen Gebäuden sowie ein Diversionsakt durch Anbringung eines Hindernisses an einer Reichsbahnstrecke, wodurch ein Leerzug entgleiste und die Lok mit drei Wagen eine Böschung hinabstürzte. Dabei entstanden zum Teil beträchtliche Schäden, im Falle einer Brandstiftung 156 TDM. Weiterhin wurde eine Untergrundgruppe von sieben Personen aus einer LPG ausgehoben, die insbesondere staatsgefährdende Propaganda und Hetze gegen die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft und gegen die Oder-Neiße-Friedensgrenze betrieb. Als Kopf der Gruppe trat ein Mörder hervor, der bei Kriegsende seine Frau und vier Kinder bestialisch umbrachte und dieses Verbrechen der Sowjetarmee zuschob. Er tarnte sich durch Mitgliedschaft in unserer Partei und ein gewisses fortschrittliches Auftreten.
Kreis Güstrow
Die Feindtätigkeit äußerte sich insbesondere durch Brandstiftungen, staatsgefährdende Propaganda und Hetze und Staatsverleumdung in größerem Umfang. So wurden beispielsweise durch einen selbstständigen Gastwirt Flugblätter selbst hergestellt und verteilt.
Kreis Hagenow
Die Feindtätigkeit im Kreisgebiet äußerte sich in Form von staatsgefährdender Propaganda und Hetze, Staatsverleumdung und Provokationen gegen die SED, wobei der Parteisekretär in der Gemeinde Stintenburger Hütte tätlich angegriffen und verletzt wurde, weiterhin in der Verbreitung westlicher Fernseh- und Rundfunksendungen.
Kreis Ludwigslust
Auch hier trat besonders Feindtätigkeit in Form von staatsgefährdender Propaganda und Hetze, Staatsverleumdung und als Auswirkung des Einflusses des westlichen Fernsehens und Rundfunks, eine massive Ablehnung des Eintritts in die NVA durch Jugendliche auf. Hier häuften sich die Fälle, wo Jugendliche schriftliche Erklärungen abgaben, erst nach Einführung der Wehrpflicht zur NVA zu gehen.
II. Bezirksmäßige Probleme, die als Schwerpunkte in Erscheinung treten
Landwirtschaft
In der Landwirtschaft bilden noch immer die zahlreichen Viehverendungen einen Schwerpunkt. Nach den bisherigen Feststellungen liegt die Ursache neben einigen Fällen direkter Feindtätigkeit in der mangelhaften Arbeit des Staatsapparates, der mit administrativen Mitteln versucht, die Viehverendungen zu bekämpfen und nicht erkennt, dass dieses eine Frage der politischen Erziehung der Viehpflegerbrigaden ist.
Es erfolgt keine genügende analytische Arbeit und keine Auswertung der vom MfS zur Verfügung gestellten Materialien über festgestellte Missstände auf diesem Gebiet. Bei Schweinefleisch liegt die Planerfüllung nur bei 91 %. Ursache ist der im Vorjahr nicht erreichte Viehbestand und die daraus resultierende Nichterfüllung der Sauenbedeckung. Trotzdem konnte in diesem Jahr der Viehbestand laut Plan erreicht werden. In der Getreideablieferung war bis zum 1.9.1961 erst ein Stand von 41,2 % erreicht. Dabei haben besonders die LPG Typ I und die VEG einen großen Rückstand. Die Hauptursache liegt hierbei in der ungenügenden Organisierung des Nachtdrusches. Gegenüber den genannten Missständen gibt es seitens des Staatsapparates Erscheinungen einer »neutralen« Haltung. Es wird ein ungenügender Kampf gegen alle Missstände in der Planerfüllung geführt, wodurch auch die Parteiorgane in ihrem Kampf behindert werden.
Jugend
Die Reaktion der Jugend auf den Kampfaufruf der FDJ zum verstärkten Eintritt in die NVA zeigt folgendes Bild:1 Ein großer Teil der Jugend lässt eine abwartende Haltung erkennen und erklärte sich erst nach einiger Zeit zum Eintritt in die NVA bereit, nachdem seitens der FDJ- und Parteifunktionäre eine aktive Aufklärungsarbeit geleistet worden war. Eine ablehnende Haltung zum Eintritt in die NVA ist besonders unter der Landjugend vorhanden. Oft wird dieses mit dem Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft begründet.
Es kann eingeschätzt werden, dass hier der Einfluss der politisch-ideologischen Diversion durch Westfernsehen und -rundfunk in stärkerem Maße wirksam geworden ist.
In Aussprachen mit Jugendlichen treten immer wieder folgende Argumente auf, die auf eine feindliche Beeinflussung schließen lassen:
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freiwillig nicht zur NVA, wenn Wehrpflicht kommt, dann ja,
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man will keine Waffe in die Hand nehmen,
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man könnte im Ernstfall nicht auf die Brüder und Schwestern schießen,
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berufliche Entwicklung steht im Vordergrund,
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Verlust der Freiheit durch Eintritt in die NVA,
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christliche Jugendliche schieben ihren Glauben in den Vordergrund.
Grenzdurchbrüche
Seit dem 13.8.1961 erfolgten im Bezirk eine Anzahl Grenzdurchbrüche in Richtung Westzone. Als Schwerpunkt erwies sich dabei der gesamte Elbeabschnitt, da dort die meisten Grenzdurchbrüche erfolgten. Speziell zeichnet sich dabei der Raum Lenzen–Dömitz im Kreis Ludwigslust sowie an der Landgrenze die Orte Zweedorf und Testorf ab. Im gleichen Zeitraum wurden im Sperrgebiet bzw. in unmittelbarer Nähe des Sperrgebietes eine größere Anzahl Personen festgenommen, bei denen nachgewiesen wurde, dass sie die DDR illegal verlassen wollten. Auch von diesen Personen wurden die meisten an der Elbe festgenommen.
III. Politisch-ideologische Schwerpunkte
Nach dem 13.8.1961 konnte festgestellt werden, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung aller Schichten die neu entstandene Situation nicht sofort verstand. Obwohl die Partei und der Staatsapparat im Allgemeinen konsequent die Durchsetzung der gegebenen Weisungen organisierten, reagierten eine Reihe von Parteiorganisationen der Betriebe zu langsam und zu ungenügend auf die neuen Ereignisse.
Unklare Auffassungen und negative Diskussionen wurden nicht offensiv genug zurückgedrängt. Die negativen und schwankenden Kräfte orientierten sich sofort auf die westlichen Rundfunk- und Fernsehstationen. Die hetzerischen und verleumderischen Argumente dieser Feindsender spiegelten sich in den Diskussionen wider. Dadurch wurde nicht zuletzt eine Reihe von Gerüchten in Umlauf gesetzt, die nach einigen Tagen zu Hamstereinkäufen führten.
In den ersten Tagen war weiterhin zu verzeichnen, dass die feindlichen bzw. negativen und schwankenden Elemente auf die »Gegenmaßnahmen des Westens« warteten. Aufgrund dessen kamen viele Bürger auch nicht mit ihrer wahren Meinung heraus. Erst nach mehreren Tagen als die erhofften »Gegenmaßnahmen des Westens« nicht eintrafen, äußerten sich diese Kräfte zumeist im negativen Sinne. Es machte sich bei ihnen eine gewisse Enttäuschung dahingehend bemerkbar, weil der Westen sie ihrer Meinung nach »im Stich gelassen« hat.
Unter einem großen Teil der medizinischen Intelligenz ist noch immer eine abwartende Haltung gegenüber den getroffenen Maßnahmen festzustellen. Viele Ärzte und Angehörige des mittleren medizinischen Personals besuchten Versammlungen über diese Probleme nicht oder nahmen nur vereinzelt dazu Stellung. Auch in persönlichen Gesprächen versuchten sie, ihre wahre Meinung zu verbergen.
Teilweise wird offen eine ablehnende Haltung zu den Maßnahmen unserer Regierung eingenommen. Unter dem genannten Personenkreis traten hierbei folgende Hauptargumente auf:
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Wird es aufgrund der durchgeführten Maßnahmen zu einem Krieg kommen?
- –
Durch die eingeleiteten Maßnahmen würde die internationale Lage verschärft werden.
- –
Mit Abschluss des Friedensvertrages nur mit der DDR würde der Lebensstandard der medizinischen Intelligenz abgebaut.
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Die Maßnahmen würden sich gegen die Bevölkerung der DDR und Westberlins richten.
Einflussreiche Ärzte der Stadt Schwerin brachten zum Ausdruck, dass sie zwar im Allgemeinen die Maßnahmen der Regierung begrüßen, jedoch den Eindruck des Misstrauens der Partei gegenüber den Ärzten hätten. Begründet wird dieses mit der Nichtgenehmigung aller dienstlichen und privaten Fahrten nach Westdeutschland. Andere Stimmen aus der Ärzteschaft bringen zum Ausdruck, dass der Friedensvertrag bald abgeschlossen werden sollte, damit die Beschränkungen des Reiseverkehrs wieder gelockert werden.
Es ist festzustellen, dass die politisch-ideologische Diversion besonders stark unter der Landbevölkerung wirkt. Ein Ausdruck dessen ist das Ansteigen der Delikte der staatsgefährdenden Propaganda und Hetze sowie der staatsgefährdenden Gewaltakte und des Widerstandes gegen die Staatsgewalt.
Nach dem 13.8.1961 traten verbreitet wieder die alten Argumente auf, dass die Bauern angeblich nicht freiwillig der LPG beigetreten sind, sondern dazu gezwungen worden seien. Bei einigen Genossenschaftsbauern ist das Argument vorherrschend, dass man sich am besten überhaupt nicht mit Politik beschäftigen soll, denn diese würde schon immer »von denen da oben« gemacht, und so sei es auch jetzt noch.
Der Einfluss des Westsfernsehens war auch bei der Landbevölkerung sehr ausgeprägt, insbesondere in den Grenzkreisen Gadebusch, Hagenow und Ludwigslust. Die Antennenaktion2 löste eine umfangreiche Diskussion unter der Bevölkerung aus. Hauptargumente waren hierbei:
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Man muss sich nach zwei Seiten orientieren, um die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
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In der Verfassung der DDR ist die Rede- und Pressefreiheit gewährleistet, deshalb kann man auch das Westfernsehen nicht verbieten.
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Man würde sich nur Sport- und Unterhaltungssendungen ansehen.
In den Kreisen des gewerblichen Mittelstandes ist eine starke Zurückhaltung in politischen Meinungen festzustellen. Die Notwendigkeit des Abschlusses eines Friedensvertrages wird wohl eingesehen, aber da dieser voraussichtlich nur mit der DDR abgeschlossen wird, würde die Lösung des Deutschlandproblems nicht endgültig erfolgen. Die Vorbereitung des Friedensvertrages sei Sache der Großmächte. Zu den Sicherungsmaßnahmen vom 13.8.1961 herrscht unter diesen Schichten die Meinung vor, dass es der DDR darum ging, den Republikfluchten Einhalt zu gebieten.
Unter den privaten Handwerkern besteht verbreitet die Ansicht, dass jetzt – nach Schließung der Grenzen – ein Druck zum Eintritt in PGH auf sie ausgeübt werden wird.
Unter den Arbeitern der Deutschen Reichsbahn sind [ist] eine Reihe negativer Stimmungen vorhanden, die zum Ausdruck bringen, dass die Eisenbahner durch die getroffenen Maßnahmen in ihrer Freiheit eingeschränkt worden sind, da sie jetzt nicht mehr nach Westdeutschland und Westberlin fahren können.