Sicherheitslage im Bezirk Suhl
27. September 1961
Bericht Nr. 603/61 über die im Zusammenhang mit den Schutzmaßnahmen aufgetretenen politisch-operativen Schwerpunkte im Bezirk Suhl
I. Territoriale und objektmäßige Schwerpunkte
Grenzkreis Sonneberg mit Stadt Sonneberg
Von insgesamt 55 erfolgten Grenzdurchbrüchen im Bezirk Suhl in der Zeit vom 13.8.1961 bis zum 10.9.1961 entfallen allein auf das Kreisgebiet Sonneberg 23 Grenzdurchbrüche – Sonneberg liegt unmittelbar am 10-m-Grenzstreifen.
Die Hälfte aller Rückkehrer und Erstzuziehenden im gesamten Bezirk sind in der Stadt Sonneberg konzentriert. Besonders starker Einfluss der westlichen Feindpropaganda durch den Empfang von westlichen Fernseh- und Rundfunksendungen.
Außer der Stadt Sonneberg sind weitere neun Gemeinden Schwerpunkte dieser Feindbeeinflussung, deren Argument den Ausgangspunkt negativer und hetzerischer Diskussionen in den einzelnen Gemeinden bilde. Es zeigen sich ernsthafte Erscheinungen von Aufweichungen unter den Bürgermeistern der Landgemeinden, indem 80 % der Bürgermeister abgelehnt haben, wieder zu kandidieren. Als hauptsächlichste Gründe werden vorgeschrittenes Alter und Arbeitsüberlastung angegeben.
VEB »Plasta« – Sonneberg
In diesem Betrieb traten größere Schwankungen und Unklarheiten zutage.
Aufgrund ungenügender Gewerkschaftsarbeit wurde auf die Aktion vom 13.8.1961 überhaupt nicht reagiert. Unklare Vorstellungen innerhalb der Parteileitungen des Betriebes über die Organisierung der politischen Arbeit erzeugte »Kopflosigkeit«. Es macht sich der Einsatz von 15 Genossen durch die SED-Kreisleitung zur Aktivierung der Parteiarbeit notwendig.
VEB »Keramische Werke« – Neuhaus-Schierschnitz
Es bestehen Konzentrationen von Umsiedlern und ehem. NSDAP-Mitgliedern,
ehem. NSDAP-Mitglieder speziell in der Werkleitung bzw. in der kaufmännischen und technischen Abteilung. Es bestehen starke Verbindungen zu Siemens, und es erhalten 84 Personen die sogenannte »Siemens-Rente«.
Im gesamten Betrieb treten laufend Schmierereien auf. Ein Plan des ZK zur Änderung der Kadersituation aus dem Jahre 1956/57 wurde nicht realisiert und die bestehenden Konzentrationen nicht zerschlagen.
Grenzkreis Bad Salzungen
Ebenfalls Schwerpunkt hinsichtlich der Grenzdurchbrüche. Feindtätigkeit in Form von anonymen Drohbriefen, die an verschiedene staatliche Organe bzw. Organisationen – wie VPKA, SED- und FDJ-Kreisleitung – verschickt wurden. Verbreitung von Hetzzetteln in größerem Umfang. Katholisches Rhöngebiet – starker Einfluss der Kirche auf die Bevölkerung.
VEB »Kettenfabrik« – Barchfeld
Es ist ein verstärktes Auftreten von Hakenkreuzschmierereien und Losungen negativer Art im Werk I und II vorhanden. In der Abteilung Materialversorgung besteht eine Konzentration ehem. Mitglieder der NSDAP. Die Abteilung Technologie arbeitet schlecht, wodurch die Initiative der Arbeiter zur Produktionsverbesserung gehemmt wird.
Grenzkreis Hildburghausen
Starker Einfluss westlicher Feindpropaganda, der besonders in einer verstärkten Feindtätigkeit in Form von mündlicher Hetzpropaganda und u. a. im Beschädigen und Abreißen von Wahlplakaten seinen Ausdruck fand.
Grenzkreis Meiningen
Starke Beeinflussung der Bevölkerung durch die westliche Feindpropaganda und Kirche. Auftreten von Feindtätigkeit in stärkerem Maße in Form von mündlicher Hetze und Schmierereien, besonders in den Objekten der Reichsbahn (RAW und BW Meiningen).
Energieversorgung »Süd«
Konzentration ehem. NSDAP-Mitglieder und ehem. Angehöriger des »Siemens-Konzerns« in der Werkleitung, wo Verdacht der Verbindung zu genanntem Konzern besteht. Konzentration ehem. NSDAP-Mitglieder in der Abteilung »Lastverteilung«, wo eine negative Einstellung gegenüber unserem Staat vorhanden ist. Negative Einstellung unter der technischen Intelligenz zu den Maßnahmen vom 13.8.1961.
Vorhandene Gruppierungen negativer Personen in den Abteilungen »Materialversorgung«, »Absatz« und »Anlagenbau«, wobei Einstellungen von SED-Mitgliedern als mündliche Warnung im Umlauf gesetzt werden. Schwerpunkt besonders bei schwierigen Situationen, da die Energie- und Gasversorgung des Bezirkes davon abhängig ist.
Objekte:
Hochschule für Elektrotechnik – Ilmenau
Ist ein ständiger Angriffspunkt der imperialistischen Geheimdienste. Ein beträchtlicher Teil des Lehrkörpers trat mit negativen Diskussionen in Erscheinung. Auftreten stärkerer Schwankungen und Unklarheiten unter den Kreisen der wissenschaftlichen Mitarbeiter. Obwohl innerhalb der Studentenschaft keine offene Feindtätigkeit in Erscheinung trat, sind 49 Studenten ihrer Wahlpflicht nicht nachgekommen.
VEB Ernst-Thälmann-Werk – Suhl
Größter waffenproduzierender Betrieb im Bezirk Suhl. Im Betrieb zeigen sich stärkere Einflüsse feindlicher Propaganda. In verschiedenen Abteilungen, wie Konstruktionsabteilung, Technologie, Pressluft werden vorwiegend Westsendungen diskutiert und bestimmen diese Meinungsbildung. In der Abteilung »Werkzeug- und Maschinenbau« ist ein starker negativer Einfluss unter den Jugendlichen vorhanden, der sich in einer ablehnenden und schwankenden Haltung zum FDJ-Aufgebot zeigte.
VEB »Kranbau« – Schmalkalden
Die vorhandene Schweißerbrigade setzt sich zur Hälfte aus Zuwanderern und Rückkehrern zusammen. Es werden negative Diskussionen geführt und ist eine übernormale Ausschussquote in der Produktion vorhanden.
VEB »Kabelwerk« – Vacha
Eine Konzentration ehem. aktiver Faschisten und ehem. Aktionäre in der Werkleitung vorhanden. Diese Personen entwickeln in der gegenwärtigen Situation keine besondere Aktivität bei der Lösung der fachlichen Aufgaben. In der Abteilung »Gummiverarbeitung« ist eine starke Arbeitszurückhaltung sowie Nichtauslastung der Maschinenkapazität vorhanden.
VEB Röhrenwerk »Anna Seghers« – Neuhaus
Es besteht eine Konzentration von Umsiedlern. In der Werkstatt des Betriebes gibt es laufend negative Diskussionen, die sich gegen die Entwicklung der DDR richten. Es wird besonders gegen eine zweite Schicht und für eine »Fünf-Tage-Woche« Stellung genommen.
Bei der BGL-Wahl wurde gemeinsam gegen die fortschrittlichen Genossen gestimmt.
Eisenerzgrube – Schmiedefeld-Neuhaus
In der Elektrowerkstatt werden zahlreiche negative Diskussionen geführt, die sich gegen die Maßnahmen des 13.8.1961 richten und eine Verherrlichung des Westens zum Inhalt haben. Es ist eine schlechte Arbeitsmoral vorhanden.
II. Bezirksmäßige Probleme, die als Schwerpunkte in Erscheinung treten
Industrie
Im gesamten Bezirk treten in verstärktem Maße die verschiedensten Arten der Feindtätigkeit, wie Schmierereien (überwiegend Hakenkreuze), Verbreitung von Hetzlosungen und Hetzschriften, negative Diskussionen, die sich besonders gegen Partei und Regierung richten, auf. Neben den schon aufgeführten Schwerpunkten traten diese Erscheinungen in 22 weiteren Betrieben des Bezirkes auf. Aufgrund der neuen Lage haben sich diese Erscheinungen verstärkt.
In der Industrie gibt es zurzeit 21,6 Mio. Planschulden, die sich auf 95 Betriebe verteilen.
Davon konzentrieren sich 12 Mio. auf zehn Betriebe.
Die höchsten Planschuldenbetriebe sind:
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VEB »Elektroinstallation« Oberlind mit 2,5 Mio,
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VEB Kammgarnspinnerei Niederschmalkalden mit 2,1 Mio.
Weitere Betriebe mit Planschulden sind:
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VEB »Stern-Radio« Sonneberg,
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VEB TKF Zella-Mehlis,
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Schwierigkeiten, die jedoch schon vor dem 13.8.1961 bestanden, liegen in ungesundem Verhältnis zwischen der Steigerung der Arbeitsproduktivität und des Arbeitslohnes.
Es gibt 40 bis 50 wichtige Betriebe, wo der Durchschnittslohn schneller anstieg, als die Arbeitsproduktivität.
Die Erfüllung der Normen ist sehr verschieden,
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nicht ausreichende Kapazität der Zulieferbetriebe,
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Materialschwierigkeiten und Arbeitskräftemangel,
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Nachlässigkeit vonseiten der Betriebsleitungen, die besonders darin zum Ausdruck kommt, dass bei Umdispositionen nicht rechtzeitig Materialverträge abgeschlossen werden,
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Maßnahmen zum Plan der neuen Technik werden nicht zu Ende geführt, sodass eine Reihe von Investitionen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität nicht zur Entfaltung kommen,
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Verbesserungsvorschläge werden nur schleppend ausgeführt und die vorhandenen Kapazitäten nicht voll ausgelastet.
Die Frage der Störfreimachung ist zum größten Teil noch ein ideologisches Problem. Es laufen eine Reihe von Maßnahmen zur Störfreimachung. Es zeigt sich jedoch, dass vonseiten der meisten Betriebe, trotz dieser Maßnahmen, ein umfangreicher Schriftverkehr mit dem DIA sowie dem Wirtschaftsrat geführt wird, um in Zukunft auch weiterhin Material aus Westdeutschland zu erhalten. Dies deutet darauf hin, dass die verantwortlichen Leiter bzw. Stellen nicht vollkommen von der Notwendigkeit überzeugt sind, was eine generelle Erscheinung im Bezirk ist.
Schwerpunktobjekte auf dem Gebiet der Störfreimachung sind:
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Kettenfabrik – Barchfeld,
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VEB Simson – Suhl,
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VEB EIO – Sonneberg,
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VEB Röhrenwerk – Neuhaus.
Bauwesen
Große Schwierigkeiten liegen auf dem Gebiet des Bauwesens. Die ganze Baukapazität wurde insofern zersplittert, da im Bezirk gleichzeitig auf 450 Baustellen die Arbeit begonnen wurde. Das hatte zur Folge, dass die Maschinenparks im Bauwesen im Vergleich zu den Bezirken Dresden und Karl-Marx-Stadt nur zu 50 % ausgelastet sind, wobei zum größten Teil Geräte nur zu 25 % ausgelastet werden.
Die Ursachen sind beim Wirtschaftsrat und bei den Kreisplankommissionen zu suchen. Ein großer Teil der Bauten wurde ohne Ausführungsprojekte begonnen; es wird blind gearbeitet. Es gibt Ratsvorsitzende, die erklären: »Fangt erst einmal an, dann werden wir auch schneller fertig.«
Landwirtschaft:
Es gibt noch eine Reihe von LPG, wo die genossenschaftliche Arbeit schwach ist und Zersetzungserscheinungen vorhanden sind, so u. a. in den LPG Leitenhausen – Kreis Hildburghausen, Marisfeld–Kreis Suhl.
In den Kreisen Sonneberg und Hildburghausen bestehen unter der Landbevölkerung starke Gerüchte über eine Auflösung der LPG und Einstellung der genossenschaftlichen Arbeit im Herbst dieses Jahres.
Im Heldburger Gebiet, Kreis Hildburghausen, sind Gerüchte verbreitet, dass nach Abschluss eines Friedensvertrages dieses Gebiet an Westdeutschland eingegliedert werden soll. Nach Bekanntgabe der erfolgten Aktion in Berlin kursierte in vielen Gemeinden das Gerücht über eine Evakuierung aus dem Sperrgebiet.
Jugend
Mit Aufnahme der verstärkten Werbung in die NVA machte sich bei einer größeren Zahl Jugendlicher in allen Kreisen eine ablehnende Haltung bemerkbar.1
Als Schwerpunkt traten hier besonders in Erscheinung:
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VEB »Ernst-Thälmann-Werk« – Suhl,
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VEB »Mercedes Werk« – Zella-Mehlis.
In der Abteilung »Werkzeugbau«, Lehrlingsabteilung, im VEB »Mercedes Werk«, wurde vonseiten der Ausbilder auf die Jugendlichen nur schwach eingewirkt. Es zeigten sich stärkere Ablehnungen gegen den Eintritt in die NVA.
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VEB »Simson Werk« – Suhl
In der Abteilung »Werkzeugbau«, im VEB »Simson Werk«, war von den Jugendlichen nur der FDJ-Sekretär bereit, der NVA beizutreten.
Weitere Schwerpunkte traten auf im Kreis Sonneberg.
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VEB »Plasta«,
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VEB »EIO« – Neuhaus-Schierschnitz,
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und VEB »TIW« – Rauenstein,
wo der überwiegende Teil der Jugendlichen eine ablehnende Haltung gegenüber dem Aufgebot der FDJ einnahm.
In der Gemeinde Geisa, Kreis Bad Salzungen, lehnten in einer Jugendversammlung von 25 Jugendlichen 18 Jugendliche den Eintritt in die NVA grundsätzlich ab.
Den größten Schwerpunkt innerhalb des Bezirkes bildet der Kreis Schmalkalden.
Hier kam es bei den Werbemethoden zu Überspitzungen und provokatorischem Auftreten vonseiten der Jugendlichen.
Kirche
Obwohl die Tätigkeit der Kirche im Bezirk Suhl kein zu unterschätzendes Problem darstellt, ist lediglich von fünf evangelischen Pfarrern bekannt, dass diese eine negative Stellungnahme zu den Maßnahmen der Regierung vom 13.8.1961 bezogen haben.
Einen Schwerpunkt bildet das katholische Rhöngebiet, wo vonseiten der Pfarrer ein besonders starker Einfluss auf die Bevölkerung ausgeübt wird.
Einen Schwerpunkt bilden zurzeit in Suhl sechs katholische Kapläne, die sich zu einer Diözese zusammengeschlossen haben und sich das Ziel stellen, die Aufweichung der DDR von innen heraus, mittels einer zersetzenden Tätigkeit unter der christlichen Bevölkerung, zu organisieren.
III. Politisch-ideologische Schwerpunkte
Im Zusammenhang mit der Durchführung der Maßnahmen der Regierung der DDR vom 13.8.1961 und im weiteren Verlauf der neuen Lage, traten unter den verschiedenen Bevölkerungsschichten eine Reihe von negativen Diskussionen und Meinungen auf, die besonders den Einfluss des Westfernsehens und der westlichen Rundfunksendungen erkennen ließen.
Besonders unter den Frauen in den kleinbürgerlichen Kreisen, der Intelligenz und der Landbevölkerung gab es zu Beginn Befürchtungen, dass durch die erfolgten Maßnahmen ein neuer Krieg ausbrechen könnte.
Folgende Hauptargumente traten in den Diskussionen in Erscheinung:
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Die Maßnahmen sind die Ursache für die weitere Verschärfung der internationalen Lage.
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Durch die Maßnahmen hätte die DDR die Spaltung vertieft.
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Es sei eine Schande, dass man Deutsche nicht zu Deutschen lässt.
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Die vielen Republikfluchten hätten ihre Ursache hauptsächlich in den schlechten Lebensbedingungen der DDR und in der »fehlenden« Freiheit.
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Unsere Regierung müsse die Befehle der SU durchführen.
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Die Maßnahmen seien undemokratisch und unvereinbar mit der friedlichen Koexistenz.
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Warum führt man in der DDR keine »Freien Wahlen« durch.
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Die DDR sei daran schuld, wenn es zum Krieg kommt.
Unter den Kreisen der Jugendlichen wurde mit folgenden Argumenten diskutiert:
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Solange der Eintritt in die bewaffneten Organe freiwillig ist, kommt es nicht infrage.
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Wenn wir eine Armee brauchen, dann soll man die Wehrpflicht einführen, dass alle gehen müssen und nicht nur die »Dummen«.
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Die Werbemethoden wären schon Zwang und hätten mit »Freiheit« nichts mehr zu tun.
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Wer soll die Arbeit in den Betrieben machen, wenn alle FDJ’ler zur NVA gehen.
Erscheinungen dieser negativen Diskussionen zeigten sich besonders unter den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Hochschule für Elektrotechnik Ilmenau.
Hier traten folgende Argumente auf:
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Es gab ernste Besorgnis, da mit scharfen Gegenmaßnahmen der Westmächte gerechnet wurde, was zu einer Zuspitzung der Lage geführt hätte.
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Die Maßnahmen stellen eine Verletzung internationaler Abkommen dar, und die Verantwortung für mögliche Komplikationen trägt die DDR.
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Es seien weitere Maßnahmen seitens Westdeutschlands und der DDR zu erwarten.
Verschiedentlich steigerten sich diese Diskussionen bis zu einer negativen und feindlichen Stellungnahme gegenüber unserer Arbeiter-und-Bauern-Macht.