Sicherung der DDR-Westgrenze (1)
3. Oktober 1961
1. Einzel-Information Nr. 613/61 über die Durchführung der Maßnahmen zur Festigung der Staatsgrenze West
Bereits vor Beginn der Aktion zur Festigung1 der Staatsgrenze West wurden übereinstimmend verstärkte Diskussionen über bevorstehende Maßnahmen im Grenzgebiet berichtet und eingeschätzt, dass unter einem großen Teil der Grenzbevölkerung eine abwartende Haltung und gespannte Stimmung herrscht.
In mehreren Fällen wurde in diesen Diskussionen auf bevorstehende Umsiedlungen hingewiesen, so z. B. in den Kreisen Schmalkalden, Saalfeld, Eisenach, Bad Salzungen, Plauen und Oelsnitz im Vogtland.
Bürger der Gemeinde Großburschla im Kreis Eisenach sprachen davon, dass der Evakuierungsplan schon fertig sei und die Kraftfahrzeuge bereit stünden. (Vom MfS werden diesbezüglich Ermittlungen geführt.)
Auch in anderen Fällen, wie z. B. in Bad Salzungen, wurden unter Hinweis auf die Bereitstellung von Wohnraum und Kraftfahrzeugen Behauptungen über die zu erwartende Aktion begründet.
Unabhängig von den zahlreich angestellten Vermutungen hat die Bevölkerung in einigen Fällen auch Hinweise über die Aktion durch Verletzung der Geheimhaltungspflicht erhalten. So diskutierten z. B. Angehörige der Bereitschaftspolizei Meiningen in einer HO-Gaststätte öffentlich über die bevorstehenden Maßnahmen. Der Stadtrat Prüfer aus Erfurt erklärte bei der Einweisung der Kraftfahrer, dass bestimmte Personen aus den Grenzkreisen ausgesiedelt und im Landkreis Erfurt untergebracht werden. Das Ministerium für Verkehrswesen teilte dem Kraftverkehr Karl-Marx-Stadt offen mit, dass Lkw für die Umsiedlung aus dem Bezirk Suhl bereitzustellen sind.
In diesem Zusammenhang kursieren unter der Bevölkerung, sowohl der Grenzkreise als auch der -bezirke zahlreiche Gerüchte, so z. B. dass
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mit der Umsiedlung ganzer Ortschaften,
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mit der Räumung des gesamten 5-km-Sperrgebietes,
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mit der Umsiedlung aller unsicheren und vorbestraften Elemente
zu rechnen sei.
Diese Gerüchte wurden auch durch solche Maßnahmen genährt, wie z. B. in Marktgölitz, einem Urlauberort im Kreis Saalfeld, wo die Volkspolizei die Urlauber veranlasste, ihren Urlaub einen Tag früher abzubrechen.
Nach dem Erlass der Ordnung zur Gewährleistung der Sicherheit an der Westgrenze der DDR durch den Minister des Innern, nahmen die feindlichen Stimmungen und Argumentationen, insbesondere in den Grenzkreisen zu, wie z. B.
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Nach den Wahlen lasse man jetzt die Katze aus dem Sack.
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Die Freiheit der Menschen werde immer mehr eingeengt, und man habe die Zeit zur Republikflucht verpasst.
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Die Maßnahmen seien überspitzt und festigten nicht das Vertrauen zur Republik.
Einen breiten Raum nehmen die Diskussionen zur Passierscheinfrage für das Sperrgebiet ein. Durch die strenge Auslegung dieser Ordnung ist es in verschiedenen Kreisen zu Härten gekommen, die sich u. a. in folgenden Beispielen äußern:
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Ablehnung der Ausgabe von Passierscheinen für das im Sperrgebiet liegende Kreiskrankenhaus Sonneberg an Familienangehörige ersten Grades,
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Ausgabe von Passierscheinen an Schüler aus dem Sperrgebiet, die in Schleiz/Gera zur Oberschule gehen, nur über das Wochenende,
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Ablehnung von Passierscheinen an die Bevölkerung für Einkäufe oder Arztbesuche in Nachbarorten (die bereits im Nachbarkreis liegen), auf die die Bevölkerung noch angewiesen ist.
Nach den vorliegenden Berichten der Bezirke war die Mehrzahl der Transportfahrzeuge bis 4.00 Uhr in den Bereitstellungsräumen eingetroffen. Der Rest befand sich noch auf dem Weg zu diesen Konzentrierungspunkten, dürfte aber ebenfalls planmäßig eintreffen. Mit Ausnahme des Bezirkes Suhl traten keine wesentlichen Mängel und Schwächen in der Bereitstellung des Transportraumes auf.
Im Bezirk Suhl kam es zu einigen Fehlleitungen. So fehlten z. B. im Kreis Hildburghausen um 3.00 Uhr noch sechs Züge aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt, die offensichtlich nach Meiningen fehlgeleitet wurden. Reservefahrzeuge wurden eingesetzt. Im Kreis Neuhaus kam es zu einer Fehlleitung von Fahrzeugen, die für den Kreis Sonneberg bestimmt waren. Außerdem kamen im Kreis Neuhaus Fahrzeuge zu konzentriert an, wodurch Teile der Bevölkerung frühzeitig aufmerksam wurden.
An der Kreuzung Schwarza–Rohr entstand eine Stockung, da die eingewiesenen Fahrzeuge dem Befehl zunächst nicht folgten. Andere Fahrzeuge wiederum fuhren ohne Befehl den Bereitstellungsraum, Fahrbereitschaft BdVP an. Mängel traten auch in der Form auf, dass verschiedene Lkw ohne Plane und Sitzmöglichkeiten eintrafen, obwohl festgelegt war, dass diese Fahrzeuge Kampfgruppen befördern sollten. Die genannten Mängel im Bezirk Suhl wurden inzwischen behoben.
Im Kreis Salzwedel/Magdeburg gibt es Schwierigkeiten bei der Bereitstellung von Kisten zum Tiertransport.
Unter den eingesetzten Kraftfahrern ist es bisher zu keinen größeren negativen Erscheinungen gekommen. Lediglich im Bezirk Erfurt wurde von einigen Kraftfahrern geäußert, dass sie Befürchtungen haben, dass die betroffenen Personen nicht mit der Umsiedlung einverstanden sein werden und sie persönlich dadurch in Dinge verwickelt würden, mit denen sie nichts zu tun haben wollen.
Organisatorische Schwächen zeigten sich weiterhin in der Form, indem sich einige aus Erfurt und Sömmerda ankommende Verladekräfte im Kreis Worbis nicht registrieren lassen wollten. Im Kreis Gotha wurden während der Alarmierung einige Fahrzeuge ausgewechselt, was dazu führte, dass Kräfte zum Einsatz kamen, die vom MfS nicht mehr überprüft werden konnten.
Nur in dem Fall im Kreis Bitterfeld lehnte ein Kraftfahrer des VEB Kraftverkehrs die Teilnahme am Einsatz konsequent ab. Er wurde daraufhin ausgewechselt. Die Einweisung der Agitationsgruppen ist in allen Bezirken planmäßig erfolgt. Allgemein kann eingeschätzt werden, dass bei den zum Einsatz gelangten Kräften eine gute Einsatzbereitschaft vorhanden ist. Bisher wurden lediglich folgende negativen Beispiele bekannt:
Im Kreis Klötze/Magdeburg musste ein Angehöriger vom Rat des Kreises, der als Packer eingesetzt werden sollte, bereits bei der Einweisung von der Teilnahme an der Aktion ausgeschlossen werden, da er keine Einsatzbereitschaft zeigte und sich dahingehend äußerte, »dass er bereits eine derartige Aktion mitgemacht hätte und deshalb nicht gewillt sei, noch eine 2. mitzumachen«.
Im Kreis Heiligenstadt hat ein VEAB-Aufkäufer, der zum Einsatz in einer Agitationsgruppe vorgesehen war, die Teilnahme an der Aktion mit der Begründung abgelehnt, »dass es sich bei der Aktion um die Aussiedlung aus dem Sperrgebiet handeln und er dabei nicht mitmachen würde«. Im Bezirk Erfurt konnten drei Kämpfer des 8. Bataillons in Nordhausen sowie Angehörige der Grenztruppen, die in Liers2/Obersachswerfen Kreis Nordhausen an einer Tanzveranstaltung teilgenommen hatten, nicht zum Einsatz gebracht werden, da sie sich zum Zeitpunkt der Alarmierung unter starkem Alkoholeinfluss befanden.
Von den vorgesehenen Gruppenleitern der VP im Bezirk Karl-Marx-Stadt haben sich kurzfristig fünf Angehörige der VP-Schule Zwickau/Planitz krankgemeldet. (Untersuchungen werden geführt)
Am 2.10.1961 ereignete sich von 19.00 bis 20.00 Uhr in der Grenzgemeinde Böseckendorf/Kreis Worbis/Bezirk Erfurt ein schwerer Grenzdurchbruch.3 Es wurden 53 Personen republikflüchtig (15 Männer, 14 Frauen und 24 Kinder aus 14 Familien). Von den Republikflüchtigen wurden ein Tafelwagen und zwei Pferde mitgeführt.
An der Stelle des Grenzdurchbruchs war in der Zeit von 11.30 Uhr bis 20.00 Uhr kein Grenzposten stationiert, obwohl nach den Festlegungen die Stelle durch einen Posten hätte abgesichert sein müssen.
Die Untersuchungen ergaben, dass bereits am 18.8. in einem Situationsbericht der Ortsparteiorganisation und der Nationalen Front Angaben darüber enthalten waren, dass »sämtliche Bauern von Böseckendorf die Koffer gepackt hätten und auf dem Sprung stünden«.
In einer Sitzung des LPG-Vorstandes Böseckendorf wurde dazu Stellung genommen und beschlossen, diesem Gerücht im Auftrage aller Bauern von Böseckendorf entgegenzutreten, da es erfunden sei. Der LPG-Vorsitzende, der gleichzeitig Vorsitzender der DBD und Gemeindevertreter war, wurde jetzt selbst mit republikflüchtig.
Die Untersuchungen ergaben weiter, dass seit dem 29.9.1961 von einem Bürger aus Böseckendorf (ehemals Mitglied der NSDAP, jetzt SED) Diskussionen darüber geführt wurden, dass am 6.10. einige Familien aus Böseckendorf 60 km in das rückwärtige Gebiet transportiert würden. Der Schwiegersohn dieses Bürgers ist Angehöriger der Grenzbereitschaft Böseckendorf. Inwieweit ein Zusammenhang zu dem bereits im August aufgetretenen Gerüchten besteht und welche konkreten Angaben diesen Äußerungen zugrunde lagen, wird zzt. noch geklärt.
Weitere Ermittlungen werden darüber geführt, wer die o. g. Hinweise erhalten hat und welche Sicherungsmaßnahmen von diesen Organen daraufhin eingeleitet wurden.
In der Gemeinde Oberdorla/Kreis Mühlhausen wurde am 2.10.1961 durch das MfS ein zur Aussiedlung vorgesehener LPG-Bauer festgenommen, da er am gleichen Tage mehrere Personen aufgesucht (darunter einen ehemaligen aktiven HJ-Führer und Teilnehmer an den Provokationen am 17.6.1953) und diesen erzählt hat, dass ihm noch Stellen bekannt seien, wo ohne Schwierigkeiten ein Grenzübertritt nach Westdeutschland möglich wäre. Weitere Untersuchungen werden geführt.
Am 2.10.1961, gegen 22.30 Uhr brannte im volkseigenen Gut Neumark/Kreis Reichenbach eine Strohdieme mit ca. 500 bis 600 dt Stroh vollkommen nieder. Die Strohdieme lag direkt an der Hauptstraße von Reichenbach nach Zwickau. Vom MfS wurde eine verdächtige Person festgenommen. Die Untersuchungen werden noch weitergeführt.