Sicherung der DDR-Westgrenze (3)
3. Oktober 1961
3. [Einzel-Information] Nr. 616/61 über die Durchführung der Maßnahmen zur Festigung der Staatsgrenze West
Nach den vorliegenden Informationen ist einzuschätzen, dass in der Berichtsperiode die Aktion im Allgemeinen ohne größere Schwierigkeiten entsprechend den Festlegungen weiter durchgeführt wurde.1
Nach den bisherigen Berichten brachte ein großer Teil der vom Umzug betroffenen Personen in der Öffentlichkeit den Maßnahmen Verständnis entgegen. Häufig wurde von ihnen nach den Gesprächen mit den Agitationsgruppen geäußert, dass sie die Begründung für die Maßnahmen einsehen. Andere zeigten sich mit der Begründung nicht einverstanden, kamen aber trotzdem der Aufforderung zum Umzug ohne Weiteres nach.
In mehreren Fällen erklärten Umzügler, dass sie froh seien, aus dem Grenzgebiet herauszukommen. Nähere Verwandte von betroffenen Personen äußerten den Wunsch, ebenfalls mit umziehen zu können. Einzelne Pfarrer brachten zum Ausdruck, dass sie sich für Ruhe und Ordnung in ihren Gemeinden einsetzen wollen.
Aus der übrigen Bevölkerung liegen zahlreiche Stimmen vor, in denen die Maßnahmen befürwortet werden und zum Ausdruck kommt, es sei richtig, bestimmte Unsicherheitsfaktoren an der Staatsgrenze zu beseitigen. Viele Bürger zeigten sich über die exakte Durchführung der Maßnahmen erstaunt.
Sowohl aus dem Kreis der vom Umzug betroffenen Personen als auch aus der übrigen Bevölkerung liegen einzelne Hinweise vor, nach denen nicht immer die richtigen Personen aus den Grenzorten entfernt worden seien und andere gegnerische und unsichere Elemente in den Orten verbleiben könnten. Derartige Hinweise gibt es u. a. aus Eicha, Eisfeld und Streufdorf, Kreis Hildburghausen; Jagdshof und Rotheul, Kreis Sonneberg (Bezirk Suhl); Großzöbern, Kreis Plauen (Bezirk Karl-Marx-Stadt ).
Zum Teil ist unter der Bevölkerung der Grenzkreise eine abwartende Haltung zu verzeichnen. Es herrscht noch Unklarheit darüber, ob noch weitere Maßnahmen folgen, ob noch weitere Personen umziehen müssen und ob nicht das gesamte Grenzgebiet geräumt wird.
Einzelne Personen, die mit einem Umzug gerechnet hatten, aber von den Maßnahmen nicht betroffen wurden, brachten zum Ausdruck, dass sie das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigen wollen.
Negative Äußerungen wurden auch nach den jüngsten Berichten nur in Einzelfällen bekannt. Dabei zeigten sich folgende Tendenzen:
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In verschiedenen Fällen verweigerten Personen den Umzug und drohten mit Selbstmord (Blankenburg, Pottiga, Titschendorf und Lichtenbrunn, Kreis Lobenstein, weiterhin aus einigen Gemeinden der Kreise Schleiz und Saalfeld im Bezirk Gera).
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In Eisfeld, Kreis Hildburghausen brachte eine betroffene Person zum Ausdruck, sich und ihre Angehörigen aufhängen zu wollen.
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In Motzlar, Kreis Bad Salzungen, Bezirk Suhl erklärte ein Bürger, man könne ihn und seine Angehörigen nur tot aus dem Hause tragen.
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In der Gemeinde Paulungen, Kreis Mühlhausen, Bezirk Erfurt versuchte ein Bürger, sich die Pulsader aufzuschneiden, was durch Sicherungskräfte verhindert werden konnte.
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In Frössen, Kreis Schleiz, Bezirk Gera konnte ein weiterer Selbstmordversuch verhindert werden.
Vereinzelt wurden erneut Fälle der Vortäuschung von Krankheit bekannt, um dem Umzug zu entgehen. In einzelnen Fällen erlitten Ehefrauen von den für den Umzug vorgesehenen Personen Herzanfälle und mussten sich in ärztliche Behandlung begeben. Ein Arzt aus Vacha, Bezirk Suhl erklärte in einem dieser Fälle, eine ihm zugeführte Patientin werde den erlittenen Schock nicht überleben.
Negative Argumente wurden nur vereinzelt bekannt, jedoch offen geäußert. Folgende Argumente traten vor allem auf:
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Die Politik der DDR sei unmenschlich, da sie keine Rücksicht auf die Familien nehme.
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Die Republikflüchtigen hätten gut daran getan, nach Westdeutschland zu gehen. Sie seien dort wenigstens »frei«, wenn sie auch alles verloren hätten.
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die Umsiedlung von 1945 sei bis heute noch nicht vergessen und man fange schon wieder an, Menschen gewaltsam aus ihrer Heimat zu vertreiben.
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Die Maßnahmen seien zu scharf und eine Schikane gegenüber den betroffenen Personen.
Teilweise sind diese Argumente mit Drohungen gegen die für die Maßnahmen Verantwortlichen und die Regierung der DDR verbunden.
In zunehmendem Maße wurden in der Berichtsperiode Gerüchte bekannt, dass aufgrund der festgestellten Fahrzeugbewegungen an der Grenze in Westdeutschland Truppen konzentriert würden und deshalb Truppen der DDR Stellung bezögen, dass es bald Krieg gebe, dass in Berlin »etwas los« sei.
Die Fälle, wo für den Umzug vorgesehene Personen Widerstand zu leisten versuchten, bleiben weiterhin Einzelbeispiele. In der Berichtszeit wurden derartige Vorkommnisse aus Leutenberg/Saalfeld/Gera, Sünna/Bad Salzungen/Suhl, Obertriebe/Oelsnitz/Karl-Marx-Stadt, Lassan/Hagenow und Gehrendorf/Gardelegen bekannt.
Folgende Vorkommnisse, die im Rahmen der Umzugsaktion festgestellt wurden, verdienen in diesem Zusammenhang Beachtung:
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Beim Fuhrunternehmer [Name 1] in Ottengrün/Oelsnitz wurde eine gut erhaltene SA-Uniform gefunden.
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In zwei Fällen wurden in Gutenfürst/Plauen faschistische Literatur und eine vollständige Nazi-Uniform sichergestellt.
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Bei dem LPG-Bauern [Name 2], Besandten/Ludwigslust wurden Flugblätter des SPD-Ostbüros2 und ein Plakat aus der Nazizeit sichergestellt. Bei einem anderen Bürger aus diesem Kreis wurde ein Soldbuch der SS gefunden.
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In Roth/Hildburghausen/Suhl wurden bei der Familie [Name 3] Westschmöker, ein Notizbuch mit Erinnerungen aus der Nazizeit u. ä. Nazischmierereien gefunden.
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In Motzlar/Bad Salzungen/Suhl versuchte eine vom Umzug betroffene Person ihre Scheune in Brand zu stecken (Festnahme erfolgte).
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In Brennersgrün/Lobenstein/Gera versuchte ein Umzügler, Einzelheiten der Aktion durch Tonband- und Fotoaufnahmen festzuhalten. (Das Material wurde beschlagnahmt.)
Im weiteren Verlauf der Umzugsaktion ist eine gewisse Zunahme solcher Einzelerscheinungen festzustellen, wo von den Umzügen nicht betroffene Personen negativ hervortreten oder versuchen, die Einsatzgruppen zu diffamieren bzw. in ihrer Arbeit zu behindern. In Blankenburg/Lobenstein/Gera randalierte der Schwager einer vom Umzug betroffenen Person in deren Wohnung und versuchte die Möbel zu demolieren. (vorläufige Festnahme erfolgte)
Einige Bauern in Langengrün/Schleif/Gera lehnten es ab, das Vieh der Umzügler zu füttern. Sie forderten die Rückgängigmachung der Umzugsaktion. In Görlitz/Schleiz/Gera forderte eine Einwohnerin die LPG-Mitglieder auf, die Arbeit zu verweigern. Sie beschimpfte außerdem die Einsatzkräfte der VP. (Festnahme wird geprüft) Ein BGL-Mitglied der Brauerei Meiningen/Suhl drohte dem Betriebsleiter mit Aufhängen, da er an der Umzugsaktion beteiligt sei. (Bearbeitung durch Abt. K)
Außerdem wurden einige Fälle bekannt, wo Arbeiter nicht zur Arbeit erschienen bzw. auf dem Wege zur Arbeitsstelle umkehrten, nachdem sie von der Umzugsaktion Kenntnis erhielten. So fuhren Arbeiter aus den Orten Gerthausen, Wohlmuthausen und Helmershausen im Kreis Meiningen in ihre Wohnorte zurück, weil sie der Ansicht waren, evtl. mit umziehen zu müssen. LPG-Mitglieder aus Wohlmuthausen lehnten es ab, heute zur Kartoffelernte zu fahren, da sie nicht wüssten, ob sie morgen ebenfalls umziehen müssten. Die Bewohner des Ortes lehnten es ab, bei den Verladearbeiten mitzuhelfen.
In Streufdorf/Hildburghausen fuhren einige Arbeiter nicht zu ihren Arbeitsstellen. Eine Äußerung ähnlichen Inhalts wurde aus Ummerstadt/Hildburghausen bekannt.
In der LPG/Schöneberg/Gera drohte ein Brigadier mit der Arbeitsniederlegung, da er durch den Umzug eines Bauern die Arbeit in seiner Brigade nicht mehr schaffe und damit rechnen müsse, deshalb eines Tages zur Verantwortung gezogen zu werden. (Agitationsgruppe im Einsatz, Mitgliederversammlung einberufen)
In Melpers/Meiningen/Suhl wurden zwei Personen mit Krad beim versuchten Grenzdurchbruch DDR/West gestellt und festgenommen. Bei einem Versuch, die Grenze zu durchbrechen, wurde zwischen Probstzella und Zopten ein Jugendlicher aus dem Kreis Ilmenau festgenommen.
Die Lage im westlichen Grenzgebiet weist keine wesentlichen Veränderungen gegenüber den Vortagen auf. Der Ausbau von Beobachtungsstützpunkten durch BGS- und US-Armee-Angehörige wird aus dem an den Bezirk Erfurt angrenzenden westdeutschen Gebiet bekannt. In Treffurt wurde ein US-Armee-Standposten stationiert, der die Zufahrtswege zur Grenze beobachtet.
Der Posten an der Straße Böseckendorf, Raum Duderstadt, wo der schwere Grenzdurchbruch am 2.10.1961 erfolgte,3 wurde durch weitere sieben BGS-Angehörige und einen Zöllner verstärkt, die den Ort Böseckendorf beobachten. Die Ortschaft Ecklingerode/Erfurt wird durch fünf BGS-Angehörige aus Richtung Rothe/Warthe4 ständig beobachtet.
An der Straße Heinersdorf/Sonneberg-Welitsch/WD wurden unsere Grenzposten durch drei Frauen von westdeutschem Gebiet aus mit hetzerischen Reden provoziert.
An organisatorischen Mängeln wurden in der Berichtsperiode in erster Linie einige Beispiele dafür bekannt, dass Mitglieder der Agitations- und Einsatzgruppen bei der Durchführung der Maßnahmen zurückwichen oder negativ in Erscheinung traten.
Der Parteisekretär Weiß aus Geismar/Kreis Heiligenstadt/Bezirk Erfurt wurde von seiner Funktion entbunden, weil er sich mit dem Gastwirt [Name 4], der für den Umzug vorgesehen war, solidarisch erklärte. Infolge Unklarheiten über die Notwendigkeit der Maßnahmen musste der Bürgermeister der Gemeinde Kella, Kreis Heiligenstadt, Billi, abgesetzt werden.
Der Parteisekretär des Sägewerkes Heiligenstadt, der in einer Agitationsgruppe eingesetzt war, erklärte, die betroffenen Personen nicht von der Notwendigkeit der Maßnahmen überzeugen zu können. Der Ingenieur [Name 5], Mitglied der SED, beschäftigt im VEB Maxhütte, lehnte einen Einsatz in der Umzugsaktion ab. Ebenso handelte das SED-Mitglied [Name 6] aus dem VEB Holzbau Eisenberg.
In der Gemeinde Lehesten/Kreis Lobenstein/Bezirk Gera, wurde ein Angehöriger der Kampfgruppe vorläufig festgenommen, da er eine weitere Beteiligung an der Aktion ablehnte, als er davon hörte, dass sein Bruder mit betroffen war. Er erklärte dabei, der Inhalt des Magazins seiner MPi würde dafür reichen, die Grenze einige Zeit offen zu halten.
Das Kampfgruppenmitglied [Name 7] aus Lassan/Bezirk Schwerin gelangte mit zum Einsatz, obgleich er selbst für den Umzug vorgesehen war. Er wurde sofort in seinen Heimatort zurückgeschickt.
In Einzelfällen wurde bekannt, so beispielsweise aus dem Kreis Herrnburg/Bezirk Rostock, dass Angehörige der VP bei der Begründung der Maßnahmen unsicher auftraten und auf Fragen, in welche Orte die Umzügler kommen sollen, keine Antwort geben konnten.
Über organisatorische Mängel bei der Einweisung der Umzügler in den neuen Wohnorten wurde bisher ein Beispiel aus dem Kreis Sondershausen/Bezirk Erfurt bekannt. Es wurden widersprüchliche Angaben über die Zahl der in verschiedenen Gemeinden unterzubringenden Personen gemacht. Eine Überprüfung ergab, dass die Vorbereitungen richtig getroffen worden waren und die Personen ohne Schwierigkeiten eingewiesen werden konnten.
Eine Untersuchung der kurzfristig aufgetretenen Krankheiten von fünf Angehörigen der VP-Schule Zwickau, die im ersten Bericht gemeldet worden waren, hat ergeben, dass kein Zusammenhang mit der Aktion besteht, sondern die VP-Angehörigen ernsthaft erkrankt sind und z. T. schon seit einigen Tagen behandelt werden.
Nach der bisherigen Übersicht haben bis 18.00 Uhr insgesamt 3 160 Personen, davon 906 belastete Personen und 2 254 Angehörige, die ehemaligen Wohnorte im Grenzgebiet verlassen. Im Allgemeinen ist einzuschätzen, dass – bis auf geringfügige Ausnahmen in den Bezirken Erfurt und Suhl – die zum Umzug vorgesehenen Personen damit bereits die Grenzgebiete verlassen haben.
In ihre neuen Wohnorte wurden bis zu dem oben genannten Zeitpunkt 1 549 Personen eingewiesen.