Situation in der Arzneimittelversorgung (2)
28. November 1961
Einzel-Information Nr. 741/61 über provokatorische Aktionen gegen die Störfreimachung auf dem Gebiet der Arzneimittelversorgung [Ergänzung]
Ergänzend zu unserer Information Nr. 732/61 vom 23.11.1961 weisen wir nachstehend noch auf einige weitere Äußerungen und Bestrebungen von Angehörigen der medizinischen Intelligenz vorwiegend aus Halle hin, die auf der gleichen Linie liegen und gleichzeitig die Absicht dieser Kreise erkennen lassen, die Maßnahmen zur Störfreimachung auch zu anderen feindlichen Angriffen auszunutzen.
Eine besonders aktive Rolle spielt dabei Nationalpreisträger Prof. Dr. phil. Mothes, Kurt, von der math.-nat. Fakultät der Universität Halle, Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher »Leopoldina«. Prof. M. lehnte Gespräche über den XXII. Parteitag1 in seinem Institut mit der Begründung ab, dass er befürchtete, seine Wissenschaftler würden bei solchen Aussprachen »explodieren«, weil sie mit dem neuen Arzneimittelgesetz nicht einverstanden seien und bereits einen Streik erwägen.
Er selbst bezog dazu folgende Stellungnahme: »Ich sehe schwarz für die weitere Entwicklung. Wie viele Menschen in der DDR müssen jetzt sterben, weil die Einfuhr von Medikamenten aus Westdeutschland verboten ist. Ich bin für Menschlichkeit und schreibe deshalb an Walter Ulbricht erneut einen Brief. Erhalte ich keine oder eine ablehnende Antwort, so ist das der letzte Brief gewesen. Die Stimmung war seit 1949 noch nie so schlimm wie heute. Die Professoren an der Universität und an den Universitätskliniken stehen vor einem Streik.« Diesen angekündigten Brief an Genossen Walter Ulbricht hat M. auch geschrieben.
Bereits am 31.10.1961 vertrat M. gegenüber einer Kommission des Staatssekretariats für Hoch- und Fachschulwesen folgende Ansichten:
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Gegenwärtig werde auf die Professoren, Assistenten und Studenten ein ungeheurer ideologischer Druck, um nicht zu sagen Terror, ausgeübt.
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Eine ganze Reihe Wissenschaftler wüsste nicht mehr weiter. Ein Teil des Lehrkörpers habe ihm in persönlichen Gesprächen schon die Durchführung eines eintägigen Vorlesungsstreiks vorgeschlagen.
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Die Maßnahme zur Störfreimachung würde der wissenschaftlichen Arbeit schaden. Selbst die Sowjetunion und andere sozialistische Länder seien von Lieferungen aus dem westlichen Ausland abhängig.2
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Mit dem Drängen nach Abgabe von Erklärungen und Entscheidungen zu politischen Maßnahmen und Problemen würden die Menschen durch die örtlichen Organe zu Heuchlern erzogen. Es sei z. B. Tatsache, dass die Studenten und der Lehrkörper trotz geleisteter Unterschriften mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen nicht einverstanden seien.
Ferner äußerte M. in einem anderen Zusammenhang, dass die Wissenschaftler in der DDR keine Möglichkeit mehr hätten, sich über den Stand des Westens zu informieren, weil sie nur auf die DDR-Presse angewiesen seien. Die Wissenschaftler in der DDR müssten ihre Forschungen unter schwierigeren Bedingungen durchführen als beispielsweise die Wissenschaftler in Westdeutschland oder in der ČSSR: »… die Tschechen reisen ungehindert in der DDR umher und treiben Wirtschaftsspionage wie nie zuvor. Wir aber sehen uns das an und sagen nichts dazu, weil unsere Regierung keine Ahnung von solchen Dingen hat…« Prof. Mothes beabsichtigt nach seinen eigenen Äußerungen seine Funktionen niederzulegen und nur am Institut zu arbeiten.
Prof. Mörl, ebenfalls Halle, erklärte: »Ich weiß nicht, ob der Handelsminister berechtigt ist, in diesen Sätzen so vielen Menschen das Todesurteil auszusprechen. Das wird aber nicht widerspruchslos hingenommen. Ich werde einen Protest an den Senat, ans Ministerium und an die Volkskammer richten.«3
Prof. Weingärtner, Direktor der Universitäts-Kinderklinik Halle, zu den Maßnahmen: »Bisher erhielt ich laufend Geschenksendungen von Bayer/Leverkusen für Epilepsie. Jetzt ist es damit auch aus. Wenn ich das den Eltern erkläre, werden sie den Staatsrat bombardieren. Diese Verordnung ist überhaupt schlecht und man müsste dagegen Einspruch erheben. Unsere Industrie kann den Vorrat nicht decken und eines Tages sind die Apotheken ausverkauft.«4
Oberarzt Dr. Theune von der Hautklinik führte zur Begründung seiner ablehnenden Haltung einen Fall in seiner Klinik an, wo ein Patient auf ein Westpräparat angewiesen ist. Für vier Wochen reiche der Bedarf noch aus, nachdem ist mit dem Ableben des Patienten zu rechnen.
Dr. Panzer von der Chirurgischen Klinik erklärte, dass nun einwandfrei festzustellen sei, »dass es mit dem Gesundheitswesen in der DDR zurückgegangen ist«.5
Bereits nach den Sicherungsmaßnahmen vom 13.8. nahmen Kreise der medizinischen Intelligenz in Halle scharf gegen die Sicherungsmaßnahmen Stellung und deuteten an, die Teilnahme an fachärztlichen Tagungen in Westdeutschland zu erzwingen, weil sie »das einzige Loch sind, durch das wir jetzt noch schlüpfen können«.
Unter diesem Aspekt ist auch das Verhalten von Prof. Dr. Jacobi, Direktor der Universitätsklinik und Poliklinik für HNO-Krankheiten zu sehen. Prof. J. schrieb in einem Brief an das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen, Abteilung Medizin, in dem er sich über die Ablehnung seiner Teilnahme an den HNO-Veranstaltungen am 5.11.1961 in Frankfurt/M. beschwerte, u. a. Folgendes:
»Die unerträgliche Situation drängt mich, Einspruch zu erheben, und zwar: 1. gegen die sehr nachlässige Bearbeitung meines Antrages, der erst auf Drängen Beantwortung erfuhr. 2. gegen die für uns Hochschullehrer unhaltbare Situation, dass man Wissenschaftlern die Teilnahme an wichtigen Veranstaltungen nicht gestattet, während z. B. Sportler und Sportfunktionäre – soweit ihnen die Einreisegenehmigungen erteilt werden – reisen dürfen. Es fehlt mir das Verständnis dafür, dass Sitzungen von Sportfunktionären wichtiger sein sollen als wissenschaftliche Sitzungen und Reisen von Wissenschaftlern. Ich bitte deshalb um Auskunft, wie ich die Handhabung solcher Genehmigungen verstehen soll, dass man dem einen alle Wege ebnet und uns, die wir ebenfalls die DDR – wenn auch auf anderem Gebiet – repräsentieren, die Möglichkeit nimmt.«
Als Angriff gegen die führende Rolle der Partei ist ein Brief des Prof. Dr. Reichenbach zu werten, den er nach einer Tagung der Zahnmediziner in Halle an das Ministerium für Gesundheitswesen schrieb. (An dieser Tagung nahmen einige Genossen teil, die nicht eingeladen waren. Dies nahm Prof. R. zum Anlass seines Protestes.)
In diesem Brief heißt es u. a.: »… Die dort anwesenden Personen hatten sich noch nie um den Ablauf unserer Tagungen gekümmert. Sie haben nicht die geringsten Beziehungen zu einem medizinischen Fach. Sie konnten deshalb nach meiner Meinung und der des Vorstandes nur zum Zwecke der Kontrolle und der Beaufsichtigung anwesend sein. … Die ganzen Vorgänge zusammenfassend muss ich bei reiflicher Überlegung die getroffenen Maßnahmen anlässlich unserer Tagung als ein großes Misstrauen gegen mich ansehen. Um nun Ihr Ministerium und mich vor weiteren ähnlichen Erschütterungen zu bewahren, möchte ich meine Ämter, die ich im Rahmen des staatlichen Gesundheitswesens (im engeren Sinne) inne habe, zur Verfügung stellen, wobei ich vor allem an meine Mitgliedschaft zum Senat der Akademie für ärztliche Fortbildung denke. Zwar wurde ich auch wieder bei dieser Tagung durch das Vertrauen der Mitglieder unserer Gesellschaft zum 1. Vorsitzenden gewählt. Ich habe die Wahl aber nur bedingt angenommen unter dem Vorbehalt, dass ich auch in Zukunft, wie bisher, völlig frei die wissenschaftlichen Aufgaben der Gesellschaft und die wissenschaftliche Ausrichtung der Tagungen besorgen kann. In wissenschaftlicher Beziehung einengende Vorschriften, so z. B. die Auswahl der Referenten, wie sie Herrn Dozent Missgeld Ihres Ministeriums in Form der ›Kontengierung‹ westdeutscher Referenten ankündigten sowie die Verpflichtung, eine Mindestzahl Vortragender aus den Volksdemokratien im Programm aufzunehmen, müsste ich ablehnen …«