Stimmung im Projektierungsbüro für Straßenwesen (Halle)
26. Juni 1961
Einzel-Information Nr. 331/61 über den Verlauf eines Forums mit Angehörigen der technischen Intelligenz des VE-Projektierungsbetriebes für Straßenwesen (VEPS) Halle/Saale
Im VE-Projektierungsbetrieb für Straßenwesen (VEPS) Halle werden durch Angehörige der technischen Intelligenz seit längerer Zeit verschiedene negative Diskussionen geführt, die sich teilweise gegen die Politik unserer Partei und gegen die Grundlagen unserer Staatsmacht richten. Nach Beratung mit dem Wirtschaftssekretär der Bezirksleitung der SED in Halle wurde beschlossen, deshalb ein Forum mit den Angehörigen der technischen Intelligenz dieses Betriebes einzuberufen. Am 13.6.1961 wurde dieses Forum im Volkspark Halle in der Zeit von 16.00 bis 22.00 Uhr durchgeführt. Außer Vertretern der SED-Bezirksleitung, der SED-Stadtbezirksleitung, der Reichsbahndirektion Halle, der Kammer der Technik Halle und der Hauptverwaltung Straßenwesen nahmen ca. 60 Ingenieure des VEPS teil.
Auch auf dem Forum kam es neben der Behandlung verschiedener fachlicher Probleme – auf die später noch eingegangen wird – zu einer Reihe unklarer aber auch ausgesprochen feindlicher Stellungnahmen, die teilweise in äußerst provokatorischer Form vorgetragen wurden. Nachfolgend soll auf einige der wichtigsten provokatorischen Diskussionen, die z. T. auch als »Vorschläge« getarnt waren, hingewiesen werden:
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Von freien Wahlen könne in der DDR nicht gesprochen werden, weil entweder nur die Kandidaten der Nationalen Front gewählt würden, oder Suggestivfragen zu beantworten seien, z. B.: Sind sie für Krieg oder für Frieden? Sind sie für Atombomben oder nicht? Eine freie Willensentscheidung sei damit nicht möglich.
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Die Presse in der DDR hebe besonders das Schlechte und Negative aus dem wirtschaftlichen und politischen Leben Westdeutschlands hervor und verschweige bewusst das Gute. Bei der Berichterstattung über die DDR sei es gerade umgekehrt. Man sage der Bevölkerung nicht immer die Wahrheit.
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Walter Ulbricht erhalte von seinen Organen nur rosarot gefärbte Berichte und erfahre nicht die Wahrheit.
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Der großen Masse sei es gleichgültig, wo sie lebt. Die Hauptsache sei, es gehe ihr wirtschaftlich gut. (Ein Ingenieur erklärte z. B. in einem Zwischenruf: Er sei überzeugt, dass in fünf bis zehn Jahren Atombomben fielen. Bis dahin sei es auf jeden Fall besser, gut gelebt zu haben.)
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Warum veröffentliche man keine Statistiken über die Republikfluchten aus der DDR, besonders der Ärzte und der technischen Intelligenz. (Ein Diskussionsredner erklärte wörtlich: Man müsste jeden zweiten Arzt vor den Staatsanwalt bringen.)
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Es bestehe eine unerträgliche Behandlung für Reisende nach Westdeutschland im Allgemeinen und auch seitens der zuständigen Volkspolizeiorgane. Die Verbote würden trotz enger familiärer Verbindungen ausgesprochen. (Auf den Hinweis eines Mitglieds der SED-Bezirksleitung, dass jeder, der in Westdeutschland positiv zur DDR auftritt, großen Gefahren ausgesetzt ist, wurde erwidert: Es handle sich in diesen Fällen nur um Propagandaredner, und im umgekehrten Falle würden solche Personen aus Westdeutschland in der DDR sofort verhaftet. Ihnen – den Ingenieuren selbst – sei bisher bei ihren Aufenthalten in Westdeutschland kein Haar gekrümmt worden.)
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Man müsse ungehindert und jederzeit nach Westdeutschland aber auch ins sozialistische Ausland reisen können. Aber selbst zwischen den sozialistischen Ländern herrschten Stacheldrahtverhaue und Abkapselung.
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Die Nationale Volksarmee sei nicht notwendig und könnte aufgelöst werden. Einerseits würde dadurch der absolute Friedenswille der DDR gegenüber dem kapitalistischen Ausland bewiesen, andererseits könnten viele freiwerdende Arbeitskräfte einer »nützlichen« Beschäftigung zugeführt werden. Auch verschiedene Materialengpässe könne man dadurch einschränken.
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Wie gedenke die Partei die Arbeitskräftefrage zu lösen. Es seien zu viele Menschen in Verwaltungen beschäftigt. (In diesem Zusammenhang wollte man eine konkrete Antwort auf die Frage haben, wie groß z. B. die Anzahl der Mitarbeiter der Bezirksleitung der SED Halle ist. »Die Frau muss sich halb tot arbeiten, und gesunde Männer laufen von Sitzung zu Sitzung.«)
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Zur ökonomischen Hauptaufgabe würde überhaupt nicht mehr gesprochen. Sie stehe nicht mehr auf der Tagesordnung, weil die Ziele nicht erreicht werden könnten. Partei und Regierung hätten Versprechungen gemacht, aber nicht eingehalten. Stattdessen gehe die Gesamtproduktion von Konsumtionsgütern ständig zurück. Was es vor drei Jahren noch ohne Weiteres zu kaufen gab, sei heute nicht zu bekommen. (Scheren, Messer, Ersatzteile für Autos und Motorräder und vieles andere mehr) Ursache dafür sei, dass viele Privatbetriebe nicht mehr bestehen und die Zahl der Handwerker durch »politischen Druck« ständig zurückging.
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Die Knappheit an Lebensmitteln sei hauptsächlich auf die Kollektivierung der Landwirtschaft zurückzuführen. Die Eigeninitiative der Bauern sei dadurch gehemmt, die Besten nach Westdeutschland geflohen und der Rest arbeite nur noch acht Stunden. Auch die Jugend verlasse die Landwirtschaft. Wie sollen da die Aufgaben gelöst werden. In diesem Zusammenhang wurden u. a. folgende Äußerungen gemacht: Die Konflikte auf dem Lande würden verschleiert und die Fehler zugedeckt. (Genosse Chruschtschow dagegen habe die Missstände in der Landwirtschaft der SU offen dargelegt.) Warum spricht niemand darüber, wie hoch die Landwirtschaft in der DDR verschuldet sei.
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Neben dem Zurückheben der Produktion schlechthin, würde auch die Qualität der Erzeugnisse sinken. An der Konstruktion habe sich seit 1945 nichts geändert. Was früher noch Weltniveau hatte, kann heute kaum noch verkauft werden (Contax). Die Qualität der Schuhe ist absolut unzureichend. Es sei schade um das dafür verbrauchte Leder.
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Warum unterschiedliche Entlohnung bei gleicher Arbeit?
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Warum Bevorzugung der medizinischen Intelligenz?
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Warum keine klare Antwort auf unsere Fragen (»mit Theorie wird der Geist tot gemacht«).
Im Zusammenhang mit den zuletzt angeführten Argumenten zu ökonomischen Problemen wurde sinngemäß geäußert, dass man »normale Verhältnisse wie früher« schaffen müsse, oder wie jetzt in Westdeutschland. Dann übernehmen Ingenieure auch leitende Funktionen an der Basis. Aber so will keiner in den Betrieben arbeiten, wo der Handlanger 1 000 DM und der Ingenieur 600 DM erhalte. Ein Bauleiter sei nur Laufbursche und ginge an den ganzen Schwierigkeiten kaputt.
Als typisches Beispiel für die gesamte Atmosphäre auf diesem Forum soll ein Auszug aus einem Diskussionsbeitrag des Ingenieurs [Name 1] angeführt werden. [Name 1] erklärte:
»… Ich bin katholisch geboren, nationalsozialistisch erzogen und musste mir ein eigenes neues Weltbild schaffen. Ich bin nicht der Parteidisziplin unterworfen und nehme mir deshalb die Freiheit, meine Meinung zu sagen. Wir müssen mehr tun und nicht soviel schreiben. Mit unserer Propaganda wird die Welt nicht verändert. Mein Bruder lebt als Oberschlesier in Westdeutschland. Er kommt nicht hier her, weil er drüben bequemer lebt. Drüben macht sich auch niemand politische Gedanken … Wozu brauchen wir 16 Jahre nach Hiroshima eine Armee? Wir greifen doch niemanden an. Wir schicken unsere Armee nach Hause und bezahlen lieber an die Sowjetunion für dortige Raketen. Unsere Transparente wirken nicht mehr. Keiner nimmt sie ernst. Wir müssen mehr Mut zur eigenen Entwaffnung finden. Werden wir wirklich angegriffen, so werden unsere 150 km Breite doch im Nu überrollt. Wir müssen etwas Neues bringen, Jahr für Jahr werden Memoranden gemacht, sollten wir nicht als kleines Völkchen auf unsere lächerliche Armee verzichten? Wir müssen drüben die Menschen durch Verbesserung des Lebensstandards überzeugen. Und wenn wir die Armee nach Hause schicken, werden doch Geld, Material und Arbeitskräfte frei …«
Als weitere aufschlussreiche »Argumente« wurden noch angeführt:
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Die Erziehung der Kinder an den Schulen sei nicht in Ordnung. Man impfe den Kindern ein, dass es in Westdeutschland nur Verbrecher gebe. In der gesamten Erziehung zeigten sich drei Meinungen,
1. die zensiert wird,
2. die von der Schule und
3. die im Privatleben.
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Was sind die Ursachen der Republikflucht? Aus der DDR seien bereits 2 bis 3 Mio. Menschen abgehauen. Nach weiteren zehn Jahren würden nur noch 20 % der Bevölkerung übrig bleiben, nämlich die Funktionäre. Dann sei auch das Wohnungsproblem gelöst.
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Wir fordern Ausschreibung von Neuwahlen.
Bezeichnend für die Situation im VEPS ist die Tatsache, dass die Partei- und Betriebsleitung in den meisten Fällen von diesen schädlichen Diskussionen und Argumenten, wie sie auch dann auf dem Forum auftraten, wussten. Trotzdem wurden in den Grundorganisationen so gut wie keine politisch-ideologischen Auseinandersetzungen geführt und sich versöhnlerisch dazu verhalten. Das zeigte sich dann auch auf dem Forum, wo, außer der Kaderleiterin, keine verantwortlichen Genossen sowohl der Parteileitung als auch der Betriebsleitung eine parteimäßige Position bezogen und auf die provokatorische Haltung vieler Teilnehmer nicht reagierten bzw. auch keine Fragen beantworteten.
Von den auf dem Forum zur Sprache gekommenen fachlichen Problemen sollen nur einige wesentliche herausgegriffen werden, die einmal ebenfalls die verschiedensten politischen Schwankungen in diesem Zusammenhang erkennen lassen und die zum anderen auf einige Mängel der Leitungstätigkeit im Betrieb selbst sowie seitens übergeordneter Organe hinweisen.
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Die unterschiedliche Bezahlung der Ingenieure im Straßenwesen im Vergleich zu anderen Industriezweigen wie Bergbau, Eisenbahn u. Ä. sei in keiner Weise gerechtfertigt, ebenso wie die Sondertarife in Berlin. Es lohne sich nicht, ein Hochschulstudium zu absolvieren, wenn der Durchschnittsarbeiter mehr verdient als der Diplom-Ingenieur. (Im Forum wurde u. a. auch Lenin zur Beweisführung zitiert.)
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Der Bezug von Fachliteratur besonders aus Westdeutschland sei völlig ungenügend. Es stehe nur eine Zeitschrift zur Verfügung, und der von der Hauptverwaltung vorgeschlagene Weg des Ausleihens von Fachzeitschriften wird abgelehnt.
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Die neue Technik könne trotz aller Bemühungen im Straßenwesen nicht durchgesetzt werden, weil die ausführenden Betriebe nicht über die notwendigen Maschinen und Geräte verfügen. Straßenbaumaschinen würden laufend exportiert, aber für die DDR stünden keine zur Verfügung. Die Hauptverwaltung kümmere sich nur ungenügend um diese Fragen.
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Auch in anderen fachlichen Fragen sei die Anleitung der Hauptverwaltung ungenügend. Sie beschäftige sich »zu stark« mit politischer Arbeit. (Auf dem Forum wurde sinngemäß geäußert, dass sich die Hauptverwaltung hauptsächlich mit dem Bekleben von Wandzeitungen beschäftige.) Die wirklichen Sorgen der Betriebe (Arbeitskräftelage, Mechanisierung, Materialfragen) würden nicht behandelt oder vorzeitig abgewürgt. Mitarbeiter der Hauptverwaltung erscheinen oftmals nicht zu von ihnen festgelegten Besprechungen.
Für den schlechten Straßenzustand wurden in der Diskussion folgende Ursachen angeführt: Die schlechte Qualität der verschiedenen Baumaßnahmen sei eine Folge davon, dass früher im Allgemeinen von den Straßenbaubetrieben nur Deckenkonstruktionen durchgeführt wurden, die eine große Arbeitsproduktivität mit sich brachten. Wenn sich heute in vielen Fällen ein grundhafter Ausbau notwendig macht, kämen die Betriebe mit der Planerfüllung in große Schwierigkeiten. Es sei deshalb Unsinn, die Planerfüllung in Millionen DM zu messen, aber die Straßendecken nach spätestens drei Jahren wieder verfallen zu lassen.
Die Bezirksleitung der Partei wurde vom MfS vor dem Forum schriftlich über einige der zu erwartenden und schon als provokatorisch erkennbaren Fragen informiert und gebeten, das Forum zur Klärung einiger dieser Fragen auszunutzen und einen Vertreter zu schicken. Vom MfS wurden operative Maßnahmen eingeleitet, um die bei dem Forum in provokatorischer Form aufgetretenen Personen aufzuklären.