Stimmung im VEB Kartonagenmaschinenfabrik (Dresden)
25. Juli 1961
Einzel-Information Nr. 394/61 über die Untersuchung der Vorkommnisse im VEB Kama (Kartonagenmaschinenfabrik) in Dresden
Ergänzend zu unserem Hinweis vom 11.7.1961 wurden vom MfS folgende Einzelheiten über die provokatorische Befragung durch den [Name 1] und über die gesamte Situation im VEB Kama festgestellt.
Am 10.7.1961 wurde auf Initiative der wegen des Vorkommnisses im Betrieb weilenden Kommission (Vertreter der SED-Bezirksleitung und Stadtleitung, der Gewerkschaft und eines Mitarbeiters der KD des MfS) eine Versammlung in der Abteilung Hobelei und Bohrerei durchgeführt. In dieser Versammlung konnte noch keine Klarheit geschaffen werden, im Gegenteil traten [Name 1] und weitere Personen mit einer Reihe negativer Diskussionen auf, z. B.:
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In der DDR gäbe es keine Opposition.
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Bei einer »freien Wahl« sollte man alle bestehenden Parteien zulassen.
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Die Großmächte müssten unbedingt im Besitz der Atomwaffen bleiben, da man dann gegenseitig Angst habe, einen neuen Krieg zu beginnen.
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Bei uns wurde zuerst aufgerüstet, indem die KVP gegründet wurde; daraufhin hätte Westdeutschland die Bundeswehr geschaffen und die Wehrpflicht eingeführt.
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Die Versorgungslage sei nach 16 Jahren immer noch nicht befriedigend – Massenbedarfsgüter, Butter, Kartoffeln.
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In der Frage der Intelligenz sei der Unterschied in der Bezahlung zu den Arbeitern zu groß.
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Die Bildung der Intelligenzclubs u. Ä. sei eine Abkapselung gegenüber der Arbeiterklasse.
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Der Abschluss eines Friedensvertrages nur mit der DDR verhärtet die Spaltung Deutschlands.
Neben [Name 1] vertraten diese Ansicht besonders der Werkzeugausgeber [Name 2], der Horizontalbohrer [Name 3] und der Hobler [Name 4].
Der aus einer Arbeiterfamilie stammende [Name 2] ist 35 Jahre alt, führt im Betrieb ständig negative Diskussionen (Versorgungsschwierigkeiten, BGL-Wahlen seien keine freien Wahlen) und trat bereits am 17.6.1953 als Wortführer auf.
Der 1936 geborene [Name 3] entstammt ebenfalls einer Arbeiterfamilie und ist im FDGB, DTSB, DRK und in der FDJ organisiert. Er ist aktiver Bergsteiger und gehört zum Bergrettungsdienst. Nach Rückkehr von seinen regelmäßigen Bergtouren im Elbsandsteingebirge tritt er stets mit negativen Diskussionen in Erscheinung und lehnt grundsätzlich alles Fortschrittliche ab. U. a. erklärte er sich nicht mit der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft einverstanden, weil der Zeitpunkt zu früh sei. Er wendet sich ferner gegen die BGL-Wahlen und bezeichnet sie als Betrug. Weitere negative Diskussionen von ihm richten sich gegen die Bildung sozialistischer Brigaden, gegen Normarbeit und Neuerermethoden. Den Eintritt in die NVA lehnt er ab.
Der 1939 geborene [Name 4] stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, trat bisher im Betrieb noch nicht negativ in Erscheinung, wird aber von den drei vorgenannten Personen offensichtlich stark beeinflusst.
In den von der Kommission nach dieser Versammlung organisierten individuellen Aussprachen mit Arbeitern aus der Abteilung Hobelei und Bohrerei und aus den anderen Betriebsabteilungen distanzierten sich alle Personen, die sich an der Abstimmung beteiligten, von [Name 1].
Nur [Name 1] trat in der ersten Aussprache mit ihm in einer sehr aggressiven Form auf und sah sein negatives Verhalten nicht ein. Erst in einer weiteren Aussprache gab er zu, falsch gehandelt zu haben, aber unter gleichzeitiger Beteuerung, dass er keine Hintermänner habe. Inwieweit [Name 1] von der Verwerflichkeit seiner Handlung aber wirklich überzeugt ist, konnte in dieser Aussprache noch nicht mit Sicherheit eingeschätzt werden.
Die von den übrigen Personen bei den individuellen Aussprachen vorgebrachten Stellungnahmen laufen hauptsächlich auf zwei Gesichtspunkte hinaus:
Ein Teil versucht die Handlung [Name 1] zu bagatellisieren, ohne selbst von dem provokatorischen Charakter überzeugt zu sein, z. B.:
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Das war ein dummer Jungenstreich, das hat sich [Name 1] nicht richtig überlegt.
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So schlimm war das ja gar nicht, ihr wollt in Kama ja nur ein Beispiel für die ganze DDR schaffen.
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Es war ganz gut , dass es so kam, jetzt werden in diesem Zusammenhang alle anderen Probleme aufgeklärt.
Während der andere Teil den Fehler einsah und beispielsweise erklärte:
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Wenn uns die Partei diese ganzen Probleme schon früher so erläutert hätte, wie ihr (die Kommission) es jetzt tut, dann wäre das Ganze nicht vorgekommen.
Auch in der Mitgliederversammlung der BPO am 11.7.1961 wurde von der Parteileitung die Provokation [Name 1] verurteilt und eingeschätzt, dass solche Handlungen im Interesse des Ostbüros der SPD liegen.1 Alle Genossen distanzierten sich einmütig von dieser Provokation des [Name 1], und die an der »Abstimmung« beteiligten Genossen verurteilten ihre Haltung und erklärten, dass sie sich der Tragweite ihres Verhaltens nicht bewusst gewesen waren und sich durch die unmittelbare Befragung des [Name 1] während der Arbeit am Arbeitsplatz die Fragestellung nicht gründlich überlegt hätten.
In dieser Mitgliederversammlung wurde beschlossen, dass alle Genossen aufklärend auf die parteilosen Kollegen des Betriebes einwirken, auf die negative Handlungsweise des [Name 1] hinweisen und die gesamte Reaktion der Arbeiter und Angestellten der Parteileitung mitteilen.
Dieser Beschluss wurde in der Praxis nicht verwirklicht. Die Genossen gingen nicht in die Offensive, sondern warteten, dass man Diskussionen an sie heranträgt. Bezeichnend dafür ist, dass fast alle Gruppenorganisatoren übereinstimmend erklärten, es gäbe im Betrieb keinerlei Diskussionen über diese Provokation [Name 1], und sie und auch die Kollegen hätten gar keine Zeit darüber zu sprechen. Andererseits wurden in widersprüchlicher Weise von den Gruppenorganisatoren folgende Meinungen vertreten:
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»Ja, es gibt Diskussionen, aber ich nenne keine Namen, denn ich bin kein Zinker.«
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»Wenn es wichtige Sachen gibt, werde ich die Partei informieren, aber ich kann nicht aus einer Mücke einen Elefanten machen.«
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»Immer geht alles auf die Gruppenorganisatoren. Wir dürfen alles ausbaden. Wenn etwas los ist, bekommen immer wir die Dresche.«
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»Im Betrieb wird erst wieder diskutiert, wenn die Kommission raus ist. Deshalb solltet ihr acht Tage aus dem Betrieb verschwinden, dann könnt ihr ja wiederkommen.«
Ein Mitglied der Parteileitung erklärte, dass die Arbeiter ihre Diskussionen abbrechen, sobald sich ein Genosse sehen lässt.
Diese Meinungen, die negativen Diskussionen in der ersten Versammlung und die bei den Aussprachen abgegebenen Stellungnahmen zeigen einerseits, dass es unter einem beträchtlichen Teil der Angehörigen des Betriebes eine Reihe prinzipieller Unklarheiten und sozialdemokratische Tendenzen gibt, weisen aber andererseits gleichzeitig auf noch große Schwächen der politisch-ideologischen Arbeit sowohl seitens der Werkleitung als auch seitens der Partei- und Gewerkschaftsorganisation im Betrieb hin.
Die Werkleitung wurde seit 1945 10-mal und der Parteisekretär 13-mal gewechselt. Die Parteiarbeit spielt sich im Wesentlichen bloß innerhalb der BPO ab, ohne dass ein nennenswerter Einfluss auf die parteilosen Kollegen ausgeübt wird.
Von der Gewerkschaft wurde seit ca. drei Jahren keine Betriebsgewerkschaftsversammlung durchgeführt. Der Arbeitsdirektor wird kritisiert, weil er nur kommandiere und versuche, alle Probleme durch Brüllen zu lösen.
Verschiedene Vorkommnisse in der Vergangenheit wurden von der Werk- und Parteileitung überspitzt behandelt. So wurde z. B. ein Meister von der Werkleitung beim Arbeitsgericht nur deshalb verklagt, weil er den auf dem Werkhof stehenden Werkleiter und Parteisekretär in abfälliger Form zurief: »Was macht ihr denn da?« Das Arbeitsgericht wies die Klage zurück. Trotzdem erhielt der Meister vom Werkleiter einen Verweis. Als der Kollege [Name 5] gegen die Annahme der Siebenmeilenstiefel-Bewegung2 sprach und sie als Kinderei bezeichnete, wurde er von der Partei- und Betriebsleitung als Provokateur und Militarist gebrandmarkt und in einem Flugblatt als Anführer einer Gruppe im Betrieb hingestellt. Wenn sich auch in beiden Fällen Auseinandersetzungen zweifellos notwendig machten, waren doch die dabei angewandten Methoden falsch.
Auf einer ähnlichen Linie liegt das Bestreben des Parteisekretärs, alle Aufgaben möglichst mit administrativen Mitteln zu lösen, wodurch eine wirklich überzeugende Arbeit mit den Menschen nur in seltenen Fällen erfolgt.
Die Gesamtheit dieser Schwächen trug mit dazu bei, dass viele Kollegen nicht das notwendige Vertrauensverhältnis zur Partei-, Gewerkschafts- und Betriebsleitung besitzen und negativ eingestellte Personen durch diese Situation eine bestimmte Resonanz finden.
Neben der provokatorischen »Abstimmung« durch [Name 1] sind dafür auch die im Zusammenhang mit den BGL-Wahlen aufgetretenen Erscheinungen typisch. So gab es eine Reihe negativer Diskussionen zu den BGL-Wahlen und die Wahl musste 3-mal wiederholt werden.
In den negativen Diskussionen wurde hauptsächlich gefordert, in die BGL nur solche Personen zu wählen, die parteilos sind oder aus der SED ausgeschlossen wurden. Diese Meinung wurde auch in einer vorbereitenden Sitzung der Vertrauensleute der Gewerkschaft diskutiert. Das Protokoll darüber konnte nach der Sitzung jedoch nicht mehr aufgefunden werden, sodass ein neues frisiertes Protokoll für den FDGB-Kreisvorstand angefertigt wurde. Aber auch dieses Protokoll verschwand spurlos.
Der von der BPO vorgeschlagene BGL-Vorsitzende wurde von den Arbeitern dann auch abgelehnt, u. a. mit der Begründung, dass er unrechtmäßig eine Prämie bekommen hätte, ohne die BGL davon zu informieren. Es bestünde deshalb keine Garantie, dass er die Interessen der Arbeiter vertreten würde. Erst nach nochmaligen Aussprachen wurde der von der BPO vorgeschlagene Kandidat für den BGL-Vorsitzenden gewählt.
Gleichzeitig wurden aber auch der von den negativen Kräften als BGL-Vorsitzender vorgesehene [Name 6] und eine weitere negative Person, [Name 7], in die BGL gewählt. [Name 6] gehörte am 17.6.1953 mit zu den Wortführern der negativen Personen. 1954 wurde er wegen Wirtschaftsverbrechen zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Vor der Konstituierung der BGL am 14.7.1961 verließ [Name 6] während der Arbeitszeit ohne konkrete Angabe des Grundes für fünf Stunden den Betrieb, vermutlich um sich mit dem zu dieser Zeit in Urlaub befindlichen [Name 7] zu beraten.
[Name 7] wurde aus der SED ausgeschlossen. Während der Diskussionen über das Arbeitsgesetzbuch wandte er sich dagegen, dass Arbeiter bei Notwendigkeit in andere Betriebe versetzt werden können, weil man damit eine gesetzliche Handhabe hätte, um unliebsame Arbeiter abzuschieben.
[Name 6] und [Name 7] versuchten zusammen mit dem Hauptbuchhalter [Name 8] in der Vergangenheit, bewusste Genossen im Betrieb, die ihnen unangenehm waren, an die Wand zu drücken und nach Möglichkeit zum Verlassen des Betriebes zu zwingen. Z. B. wurde der ehem. Kaderleiter, Genosse [Name 9], durch Betreiben dieser Personen kompromittiert, indem ihm eine Fragebogenfälschung nachgewiesen wurde, die aber ganz offensichtlich keinen ernsten Hintergrund hatte und die Gefangenschaft seines Bruders (einmal USA, einmal SU) betraf. Obwohl er seinen Bruder nach 1945 nachweisbar nicht mehr gesehen oder gesprochen hat, wurde [Name 9] aus dem Betrieb entlassen.
Für Hauptbuchhalter [Name 8] ist charakteristisch, dass er gegenüber der Kommission keinerlei Angaben über betriebliche und personelle Dinge der Vergangenheit machte, obwohl er seit 1945 im Betrieb tätig ist und im Allgemeinen als »lebende Betriebschronik« bezeichnet wird. Sein im Flugzeugwerk Dresden beschäftigter Bruder ist bereits ebenfalls negativ in Erscheinung getreten.
Vom MfS wurden alle notwendigen operativen Maßnahmen zur Beseitigung evtl. vom Gegner ausnutzbarer Ansatzpunkte eingeleitet.
Außerdem wurden bestimmte Konzentrationen unter den Bergsteigern in operative Kontrolle und Bearbeitung genommen, weil – wie die Haltung des bereits genannten [Name 3] beweist – von ihnen feindliche Beeinflussungen ausgehen. So wurde festgestellt, dass in den Seilschaften der Bergsteiger neben bestimmten Traditionen des Arbeitersports auch ausgesprochene SPD-Traditionen vorhanden sind.
Von den Bergsteigern werden zahlreiche direkte und indirekte Verbindungen nach Westberlin und Westdeutschland unterhalten. Viele Bergsteiger wurden bereits republikflüchtig und wirken von Westdeutschland und Westberlin aus zersetzend auf die in der DDR vorhandenen Bergsteiger ein, und bezeichnenderweise hat der westdeutsche Alpenverein in Westberlin eine Sektion gegründet. Feindliche Konzentrationen unter den Bergsteigern zeigen sich auch darin, dass Gedenktafeln antifaschistischer Widerstandskämpfer von Felswänden in der sächsischen Schweiz entfernt wurden. In Gipfelbüchern wurden Hakenkreuze und ähnliche Schmierereien angebracht, während Eintragungen fortschrittlichen Inhalts zerstört wurden.