»Störfreimachung« der pharmazeutischen Industrie
12. September 1961
Bericht Nr. 522/61 über Mängel bei der Störfreimachung auf dem Gebiet der Pharmazie
Die Produktion pharmazeutischer Erzeugnisse ist gegenwärtig rohstoffseitig und ausrüstungsmäßig stark von Importen aus dem kapitalistischen Ausland, besonders von Westdeutschland und Holland, abhängig. So müssen z. B. die Grundstoffe für die Hormonherstellung (Prednison und Prednisolon) vollständig aus dem kapitalistischen Ausland bezogen werden.
Eine der wesentlichsten Ursachen für die bisher schleppende Bearbeitung des Problems zur Erreichung der Störfreiheit sowie für die aufgetretenen Mängel in der bedarfsgerechten Versorgung besteht in der mangelhaften Leitungstätigkeit der VVB Pharmazeutische Industrie. Mit dem Problem der Störfreimachung beschäftigte sich diese VVB intensiv erst im Ergebnis der Auswertung des 13. Plenums1 und einer massierten Kritik durch die Genossen Markowitsch2 und Adler3 vom Volkswirtschaftsrat. Die VVB begann erst im Juli/August 1961 entscheidende und komplexe Maßnahmen zur Lösung der Störfreimachung in ihrem Verantwortungsbereich einzuleiten.
Aus den der VVB angehörenden Betrieben wurde in der Vergangenheit übereinstimmend zum Ausdruck gebracht, dass die VVB die Betriebe bei ihren Bemühungen zur Störfreimachung kaum unterstützt hat und die Betriebe ohne richtungsweisende Anleitung der VVB die Probleme der Störfreimachung in eigener Verantwortung entscheiden sollten. Es handelte sich dabei hauptsächlich um solche Fragen wie der fehlenden Übersicht über die Möglichkeiten der Verwendung von Rohstoffen und Halbfertigfabrikaten aus den Ländern des sozialistischen Lagers, der fehlenden Übersicht über die notwendig gewordene schnellere Erforschung und Entwicklung wichtiger Medikamentenpositionen in der DDR sowie der weiteren Entwicklung der Konzentration und Spezialisierung für die Produktion pharmazeutischer Artikel sowohl innerhalb der DDR als auch im Rahmen des RGW.
Die gegenwärtig laufenden Verhandlungen mit einer Reihe sozialistischer Staaten erbrachten erstmalig einen Überblick über das Produktionssortiment dieser Länder, wobei sich zeigte, dass durch die Versäumnisse in der Vergangenheit kaum Voraussetzungen vorhanden sind, um in der gegenwärtigen Periode die schnelle und reibungslose Umstellung in importabhängigen Medikamentenpositionen zu gewährleisten.
Der politisch-ideologische Zustand der VVB zu den Fragen der Störfreimachung wird u. a. dadurch charakterisiert, dass bis zum 13. Plenum die Auffassung vertreten wurde, eine Wirtschaftsblockade durch Westdeutschland würde nicht eintreten, bzw. bei einem derartigen Ereignis könnten die notwendigen Präparate auch über persönliche Verbindungen in das Ausland beschafft werden. Allein aus dieser falschen Einschätzung resultieren die Verzögerungen und der Tempoverlust in der Störfreimachung innerhalb der pharmazeutischen Industrie. Eine gleichartige Situation soll für fast alle Betriebe der VVB charakteristisch sein. Nur im VEB Jenapharm soll ein annähernd geschlossenes Programm unter Einschätzung der realen Bedingungen und Voraussetzungen für die Erreichung der Störfreiheit bestehen.
Die vorhandenen Hinweise aus der VVB weisen auf eine unzureichende Abstimmung und Koordinierung zwischen Bedarf und Produktion sowie eine mit diesen zusammenhängenden Fragen erforderliche Abstimmung mit dem Ministerium für Gesundheitswesen hin. Die VVB Pharmazeutische Industrie übergab z. B. nach eigener Einschätzung Auflagen an die Betriebe (sog. Betriebslisten) zur Erprobung und Neuaufnahme von Medikamenten in die Produktion, ohne das Ministerium für Gesundheit zu konsultieren. Es war damit beabsichtigt, die wertmäßig größten Anteile des Importes zu beseitigen, jedoch verabsäumte man die Einschätzung mit dem Ministerium für Gesundheit zu koordinieren, sodass sie den realen Bedingungen des Bedarfs kaum gerecht wird.
Ein außerordentlich wichtiger, jedoch hemmender Faktor für die Lösung des Problems der Störfreimachung stellt die Tätigkeit des Gutachterausschusses für Arzneimittel dar. Von Wissenschaftlern wird die Meinung vertreten, dass die bisher eingeführten Westpräparate von diesem Ausschuss sofort geprüft werden, während neuentwickelte Präparate aus der DDR-Produktion stark benachteiligt werden sollen. Die Folge derartig schleppender Arbeitsweise besteht u. a. darin, dass die Angehörigen des VEB Jenapharm bereits zum Ausdruck brachten, es habe keinen Zweck mehr, etwas für die Unabhängigkeit zu tun, da doch keine Erfolge zu verzeichnen seien. Sie verweisen auf eine für ihre Vorstellung stark überbetonte Propagierung von Westerzeugnissen.
Die weitere Spezialisierung und Produktionsverlagerung, die seit dem 1.1.1960 verstärkt begonnen wurde, hat nach den gegenwärtigen Erkenntnissen keine nennenswerten Auswirkungen für die Erreichung der Störfreiheit. Die VVB führte keine exakten Untersuchungen über die Möglichkeiten der Produktionsverlagerungen. Die Einschätzung der vorhandenen Produktionskapazitäten in den Betrieben wurde gröblichst vernachlässigt, sodass z. B. bei der Verlagerung der Nasenölpräparate vom Promasol-Werk Erfurt zum VEB Chemische Werke Grünau die Produktion infolge fehlender Kapazität nicht aufgenommen werden konnte. Ebenso verhält es sich mit der Verlagerung der Pepsin-Produktion von der Fa. Witte/Rostock zum VEB Chemische Werke Grünau.
Die geplanten Produktionsverlagerungen bzw. Zusammenlegungen haben infolge der unzureichenden Vorbereitungen unter organisatorischen Schwächen gelitten. Am Beispiel der Schaffung des Arzneimittelwerkes Dresden verdeutlicht sich das besonders stark. Nachdem sich monatelang das Gerücht in den Chemischen Werken Radebeul und dem AWD verbreitet hatte, von der VVB jedoch keine offizielle Stellungnahme erfolgte bzw. eine entsprechende Weisung zur Vorbereitung der Betriebszusammenlegung zurückgehalten wurde, erfolgte im November 1960 die Bekanntgabe eines Beschlusses der VVB an beide Betriebe, den sofortigen Zusammenschluss vorzubereiten und durchzuführen. Bei der organisatorischen Durchführung wurde dann von der VVB keine Hilfe geleistet. Es zeigte sich, dass es besonders bei der erforderlichen Veränderung im Stellenplan zwischen den leitenden Funktionären beider Betriebe zu erheblichen Streitigkeiten kam, die auch gegenwärtig noch nicht überwunden sind. Die geplante Einsparung von 70 Arbeitskräften wurde nicht erreicht. Eine weitere Folge der ungenügenden Vorbereitung der Zusammenlegung zum AWD besteht darin, dass alte, nicht mehr absetzbare Präparate, weiterproduziert werden, die Produktionskapazitäten für neue, dringend benötigte Präparate jedoch nicht vorhanden sind.