Tagung der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg
19. August 1961
[Einzel-Information] Nr. 449/61 über die Reaktion führender Kreise der Evangelischen Kirche auf die Sicherungsmaßnahmen der DDR in Berlin
Am 17.8.1961, um 10.15 Uhr fand eine Tagung der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg statt.1 Durch das Nichterscheinen des Bischof Dibelius wurde der Beginn der Tagung hinausgezögert. (Bekanntlich wurde Dibelius an zwei Kontrollpunkten zurückgewiesen.)
Die Tagung wurde daraufhin im Auftrage von Dibelius vom Konsistorialrat Zimmermann geleitet.
Neben Dibelius waren folgende Personen nicht erschienen:
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Vizepräsident Suchan, der erklärte, er wolle sich als Vorsitzender2 des »Senders Freies Berlin« nicht festnehmen lassen,
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Konsistorialrat Ranke, der sich im Urlaub befindet.
Folgende Probleme standen zur Diskussion:
- 1.
Bericht zur Lage von Präses Scharf,3
- 2.
Notwendigkeit der Neuorganisierung der Arbeit innerhalb der Landeskirche Berlin-Brandenburg,
- 3.
Vorlage der Predigthilfe und eines »Wortes an die Gemeinden« der Landeskirche,
- 4.
Termin über die Einberufung einer Sondersynode der Landeskirche Berlin-Brandenburg.
Zum ersten und zweiten Tagesordnungspunkt erklärte Präses Scharf:
Durch die Maßnahmen der DDR wurde Westberlin und vor allem das kirchliche Leben in Westberlin mit Ausnahme einer »Sortierung an den Grenzen« nicht beeinträchtigt. Das zeigt, dass eine Differenzierung zuerst an der Kirche demonstriert werden soll. Die von Brandt in der Westberlin-Frage geforderten Maßnahmen dienen in erster Linie wahlpolitischen Motiven.
Geschädigt wurde durch die Maßnahmen der DDR vor allem die kirchliche Organisation, die bisher noch eine Klammerfunktion zwischen Ost und West hatte. Diese Maßnahmen zwingen uns in Berlin-Brandenburg zu einer völligen Umorganisierung der Arbeit. Ein genauer Überblick über die Situation ist noch nicht vorhanden. Dazu ist noch längere Zeit notwendig. Man muss erst in folgenden Fragen Inventur machen:
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Wer braucht Passierscheine?
- –
Wer soll in Zukunft wo seine Tätigkeit aufnehmen? usw.
Wir denken, dass wir Ende dieses Monats einen umfassenden Bericht darüber an den Rat der EKiD geben können. Ein ebenfalls noch ungelöstes Problem ist, wo die nächste Ratssitzung stattfinden soll. In Anbetracht der gegenwärtigen Lage kann der Tagungsort noch nicht festgelegt werden.
Die jetzige Situation beeinträchtigt die verschiedensten Zweige des kirchlichen Lebens, so z. B. auch den ökonomischen Sektor. Das Kohle-Stahl-Abkommen mit der DDR sicherte, wenn auch nicht vollkommen, einen großen Teil der ökonomischen Grundlagen der Evangelischen Kirche in der DDR.4 Die finanziellen Mittel für das kirchliche Leben im »Ostsektor« wurden bisher aus folgenden Quellen aufgebracht:
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30 Prozent aus der Umlage der Bruderhilfe aus dem Westen,
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30 Prozent aus in Westberlin eingezahlten und in den Wechselstuben umgetauschten sowie nach dem Osten transferierten Kirchensteuern.
Die ökonomische Lage der Kirchen in der DDR ist zzt. unübersehbar. Die ökonomische Krise lässt befürchten, dass wir z. B. in der Landwirtschaftsfrage nicht mehr frei entscheiden können, d. h., wir müssen landwirtschaftliche Betriebe abstoßen, sonst leben wir in der Gefahr der wirtschaftlichen Erpressung. So hart es auch sein mag, wir sind gezwungen, in allernächster Zukunft die Gehälter der Pfarrer in der Landeskirche Berlin-Brandenburg auf 70 % zu reduzieren. Wir sagen aber jedem Pfarrer, dass die Schuld dafür die Regierung der DDR trägt.
Scharf erklärte ferner, die gegenwärtige Situation gebe zwei Möglichkeiten der Kommentierung:
- 1.
Soll sich die Kirche aktuell-politisch überhaupt engagieren oder nicht? Die Erfahrungen besagen, dass eine solche Politik zu Weiterungen führt, die nicht mehr zu verantworten sind.
- 2.
Wenn sich die Kirche aktuell-politisch engagiert, dann wie und für welche Richtung?
Scharf legte dar, dass Brandt die einzige Stütze der Evangelischen Kirche sei, weil er einen schärferen Kurs steuert.
Im Verlaufe der sich anschließenden Debatte kam es über die Äußerungen Scharfs zu einer teilweisen in Tumulte ausartenden Auseinandersetzung.
Unter Führung von Konsistorialrat Zimmermann sprach sich die Mehrheit der aus Westberlin stammenden Mitglieder der Kirchenleitung gegen den Kurs von Brandt aus. Diese Personen behaupteten, im Namen von Bischof Dibelius zu sprechen.
Sie vertraten die Ansicht, dass die von Adenauer eingeschlagene Politik die einzige sei, die für die Evangelische Kirche Perspektive habe.
Wörtlich erklärte Zimmermann: »Die Politik Brandts ist eine kurzsichtige Angelegenheit, denn der Osten sitzt an der längeren Seite des Hebels. Wir können die Kirche nicht für Brandt riskieren.«
Die Anhänger des Brandt-Flügels bezichtigten die Dibelius-Anhänger einer weitsichtigen [sic!] Adenauer-Politik, bei der man Kopf und Kragen verliert. Scharf erklärte u. a.: »Adenauer macht Politik auf Kosten Berlins, das ist nicht im Interesse der Landeskirche Berlin-Brandenburg.«
Die Diskussion darüber wurde ohne Ergebnis abgebrochen, weil die beiden Richtungen sich in keiner Beziehung näher kamen und sich die Gegensätze immer mehr zuspitzten. Scharf stellte den Antrag, Dibelius aufzusuchen und mit ihm ein Gespräch über diese Fragen zu führen, um zu einer Einigung zu gelangen. (Scharf hatte im Verlaufe des 17.8. zweimal vergeblich versucht, die Grenze nach Westberlin zu überschreiten.)
Die Sekretärin des Bischofs Dibelius, Frau [Name], teilte mit, dass Dibelius am 18.8. wiederum versuchen wollte, das demokratische Berlin zu betreten. Sie gab zu verstehen, dass man sich in der Kirchenleitung völlig im Ungewissen darüber ist, ob es sich bei den Sperrmaßnahmen um allgemeine oder nur an einem Tag gebundene Maßnahmen handelt.
Im dritten Tagesordnungspunkt der Sitzung beschäftigte sich die Kirchenleitung Berlin-Brandenburg mit der Annahme der von einem Dreierausschuss ausgearbeiteten Predigthilfe. Sie wurde allen Superintendenten übergeben. In dieser Predigthilfe ruft die Kirchenleitung die Gemeinden zur Besonnenheit auf. Sie warnt vor unüberlegten Handlungen in der jetzigen Situation und rät zur Geduld und zum Abwarten.
Bei der Behandlung des 4. Tagesordnungspunktes (Sondersynode der Landeskirche Berlin-Brandenburg) stellte Präses Scharf fest, dass die Forderung von 81 Synodalen notwendig sei, um eine Synode zusammenzurufen. Propst Schutzka teilte mit, dass man die Unterschriftensammlung der Lutherischen Arbeitsgemeinschaft, die zzt. im Gange ist und die sich mit Fragen der Erziehung beschäftigt, als Handhabe für die Einberufung der Synode verwenden könne, weil dadurch die Aussicht besteht, in den nächsten Tagen die erforderliche Anzahl von Unterschriften zu beschaffen.
Im Zusammenhang mit der vorgesehenen Neuwahl des Bischofs der Landeskirche Berlin-Brandenburg erklärte er: »Vonseiten der DDR ist zzt. eine größere Aktion im Gange, die auf den Bruch der Kirche abzielt. Die Dekoration von Bischof Mitzenheim und die Betonung des in der Evangelischen Kirche nicht existierenden Titels ›Rangältester Bischof‹ lassen das alte Projekt einer Nationalkirche erkennen. Die Verhinderung dieser Aktion ist nur vonseiten der Landeskirche Berlin-Brandenburg möglich.«
Die Äußerungen von Schutzka liefen darauf hinaus, Präses Scharf nicht nach Westberlin in sein Amt einzuführen, sondern ihn im demokratischen Berlin ansässig zu machen.
Im demokratischen Berlin sei Scharf als zukünftiger Bischof der Landeskirche Berlin-Brandenburg vor allem deshalb notwendig, um gegen Bischof Mitzenheim ein ausreichendes Gegengewicht zu schaffen.
Am Schluss der Sitzung der Kirchenleitung wurde ein Protestschreiben an Walter Ulbricht und Friedrich Ebert verabschiedet. Darin wird die Beseitigung der »gewaltsamen Abriegelung« der Westsektoren und die großzügige Ausstellung von Passierscheinen und Aufenthaltsgenehmigungen verlangt.
Am Nachmittag des 17.8.1961, von 14.30 bis 16.30 Uhr, fand eine durch Präses Scharf einberufene Tagung der Superintendenten der Landeskirche Berlin-Brandenburg statt.
Scharf forderte hier in seinem Bericht zur Lage »große Besonnenheit« und stellte anhand von Beispielen die Tatsache heraus, dass viele Superintendenten an der Fahrt nach Berlin gehindert wurden. Aus Westberlin waren von zwölf Superintendenten zehn anwesend, aus dem demokratischen Berlin von neun Superintendenten sieben und aus der DDR von 48 Superintendenten nur 30.
Seitens der Kirchenleitung nahmen neben Präses Scharf außerdem Präses Figur, Propst Schutzka und Generalsuperintendent Jacob an der Zusammenkunft teil.
Scharf forderte alle Superintendenten auf, mit ihren Geistlichen zu sprechen, von jeglicher Propaganda gegen die Maßnahmen der DDR Abstand zu nehmen. Er sagte: »Die Kirche will nicht Proteste und Drohungen aussprechen und nicht die leeren Drohungen der anderen mehren.« Weiter führte er aus, dass wirtschaftliche Drohungen seitens des Westens der Kirche nur schaden könnten.
Zu den Wahlen in der DDR am 17.9. meinte er: »Wir wollen als Kirche keine Parolen ausgeben. Jeder Geistliche und jedes Gemeindemitglied soll nach seinem Gewissen selbst entscheiden und handeln.«
Generalsuperintendent Jacob (Cottbus) forderte die Anwesenden auf, die Wahlen in der DDR zu ignorieren und einfach zu Hause zu bleiben. Er erklärte: »Die jetzigen Maßnahmen der Regierung der DDR geben jedem Geistlichen ein Beispiel, wie er sich zu den kommenden Wahlen zu verhalten hat.« Die gleiche Auffassung vertrat der Superintendent Stappenbeck (Forst), der gleichzeitig verlangte, dass die Evangelische Kirche gegen die DDR vorgehen soll. Ähnlich äußerte sich auch Präses Figur. Die anderen Anwesenden nahmen nicht zu diesem Problem Stellung.
Am Schluss dieser Tagung teilte Präses Scharf mit, dass Dibelius mehrmals an der Durchfahrt in das demokratische Berlin gehindert wurde. Aus diesem Grunde will Dibelius der Presse ein »Wort an die Gemeinden« übergeben, worin er zum Ausdruck bringen will, dass man sich durch die Maßnahmen der DDR nicht irremachen lassen soll.
Es wird eingeschätzt, dass sich in beiden Tagungen bei den reaktionärsten Kräften der Evangelischen Kirche eine große Zerfahrenheit und Nervosität bemerkbar machte.
Präses Scharf bildet offensichtlich das reaktionäre Zentrum und das Sammelbecken aller reaktionären Einflüsse. Es besteht die Möglichkeit, dass sich Präses Scharf entscheidet, Bürger der DDR zu bleiben, um damit alle reaktionären Kräfte innerhalb der DDR zu sammeln und anzuleiten. Das würde dem Bischof Mitzenheim in der Sammlung der fortschrittlichen Kräfte und der Bekämpfung der reaktionären Kreise Schwierigkeiten verursachen. Es muss deshalb entschieden werden, ob Präses Scharf die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt wird, um somit zu verhindern, dass die sich anbahnende Sammlung der positiven Kräfte um Bischof Mitzenheim gestört wird.
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