Westliche Einfluss auf die Lage in der DDR
24. Juli 1961
Bericht Nr. 392/61 über die von führenden westdeutschen und Westberliner politischen Kreisen intern geäußerten Möglichkeiten zur Auslösung von Provokationen in der DDR
In den letzten Wochen und Monaten ist eine Zunahme von Äußerungen und Stellungnahmen über die Möglichkeiten zur Auslösung provokatorischer konterrevolutionärer Aktionen in der DDR festzustellen. Häufig sind solche Stellungnahmen mit Plänen verbunden, deren Verwirklichung zur Auslösung eines Aufstandes beitragen bzw. eine solche Entwicklung beschleunigen soll.
Mit dieser Information ist nicht beabsichtigt, eine umfassende Einschätzung der oftmals selbst von westlichen Politikern als haltlose Spekulationen bezeichneten Erklärungen und Pläne vorzunehmen. Mit der Information sollen vielmehr zusammenfassend die provokatorischen Äußerungen dargelegt und die Kreise, die sie vertreten, genannt werden.
Es ist offensichtlich, dass die feindlichen Kräfte mit ihren Plänen und Erklärungen, neben den von ihnen angenommenen Erfolgsaussichten einer Politik der Organisierung sog. innerer Unruhen in der DDR, auch die Absicht verfolgen, die verständigungsfeindlichen Kräfte zu stärken und die Westmächte in Richtung einer Politik der Verschärfung der Spannungen zu beeinflussen. Sie versuchen zu diesem Zweck, sowohl in Westdeutschland als auch in den NATO- und anderen Ländern Illusionen über die Möglichkeit von inneren Erschütterungen in der DDR zu erwecken, wachzuhalten und glaubhaft zu machen.
Neben solchen »offiziellen Erklärungen« wie die von Brandt in den USA (in der DDR seien auf die Dauer »explosive Entwicklungen« möglich, weil das »kommunistische System viel weniger gefestigt« sei, als man annehme)1 und von Adenauer auf der Pressekonferenz am 13.7.1961 in Westberlin (in der DDR scheine eine Panik ausgebrochen zu sein)2 verdienen vor allem zahlreiche interne Äußerungen und Pläne führender CDU- und SPD-Kreise und von Vertretern westlicher Agentenzentralen Beachtung.
In bereits vor einigen Monaten von feindlichen Agentenzentralen (Ostbüro der SPD und CDU,3 Springer-Konzern usw.) vorgenommenen Einschätzungen der Lage in der DDR wird davon ausgegangen, dass
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bestimmte Produktionsschwierigkeiten und Mängel in der Versorgung in der DDR,
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der angebliche Widerspruch zwischen den Zielen der Partei und Regierung auf der einen und den Möglichkeiten zu ihrer Verwirklichung auf der anderen Seite und
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die angeblich mangelnde politisch-moralische Bereitschaft eines großen Teils der Bevölkerung zur Durchführung der Beschlüsse
zu einer ständigen Verschlechterung der Stimmung der Bevölkerung und schließlich zu einer Situation führen würden, in der innere Unruhen ausgelöst werden könnten und in der auch eine Unterstützung eines evtl. militärischen Eingreifens von außen angenommen wird.
Britische Abgeordnete äußerten vor Kurzem intern, dass führende westdeutsche Politiker beabsichtigen würden, im Falle der Unterzeichnung eines Friedensvertrages nur mit der DDR kurze Zeit nach Unterzeichnung dieses Vertrages in der DDR einen Aufstand auszulösen. Die Geheimdienste der Westmächte und Westdeutschlands würden sich erneut mit der Untersuchung der entsprechenden Möglichkeiten beschäftigen. Im Allgemeinen seien aber die Vertreter der Geheimdienste schon jetzt der Meinung, dass aufgrund der Situation in der DDR die Organisierung eines solchen Aufstandes möglich sei. Die Auslösung eines Aufstandes sei vor allem auch dann beabsichtigt, wenn den Westmächten die Anwendung militärischer Mittel zur »Freihaltung« der Verbindungswege nach Westberlin zu riskant erscheine.
Bundesminister Lemmer erklärte in einer internen Dienstbesprechung, dass er nicht mehr bereit sei, »die Menschen in der Zone zum Verbleiben aufzufordern«. Die Wiederholung der alten Aufforderung würde ihn unpopulär machen, da, nach seinen Informationen, sich die Stimmung in der DDR »katastrophal entwickele«. Lemmer erklärte weiter, dass eine Änderung nur dann eintreten würde, wenn u. a. ein bedeutender Auslandskredit aufgenommen, im großen Umfang Reisegenehmigungen erteilt und die »Parteiaktivität auf vielen Gebieten zurückgepfiffen« werde.
Der Westberliner CDU-Bundestagsabgeordnete Stingl4 erklärte vor dem CDU-Landessozialausschuss in Westberlin, dass die völlige Zerrissenheit der ostzonalen Planwirtschaft die Regierung der DDR nicht zur Ruhe kommen lasse.5 Unter Hinweis auf das »Beispiel Hennigsdorf« forderte er,6 dass die Bevölkerung der DDR immer wieder »aufgerüttelt« und zu einem Vorgehen gegen die Regierung der DDR veranlasst werden müsste.
Der nordrhein-westfälische Innenminister Dufhues brachte in einem internen Gespräch zum Ausdruck, dass er mit der Fortsetzung der Republikflucht rechne, was den wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR zur Folge habe. Da die DDR innerhalb der Wirtschaftsgemeinschaft des »Ostblocks« bestimmte Aufgaben zu erfüllen habe, sei die gesamte »Wirtschaftskonzeption des Ostens« infrage gestellt. Auswirkungen würden vor allem auch in Polen und Ungarn zu spüren sein.
Nach einer bisher nicht überprüften Information habe Kriegsminister Strauß auf einer internen Zusammenkunft führender Politiker erklärt, dass die »Zone« unruhig ist und alles getan werden müsse, um für eine noch größere Unruhe zu sorgen. Er habe Nachrichten, dass ein neuer »17. Juni« vorbereitet werde. In einem solchen Falle würde die Deutschland- und Westberlin-Frage geklärt.
Die rechte SPD-Führung ist bestrebt, bei der Organisierung von Provokationen in der DDR eine besonders aktive Rolle zu spielen und, gestützt auf das »Kuratorium Unteilbares Deutschland«,7 zu diesem Zweck eine »breite Bewegung« zu entfachen. Für die von der SPD-Führung verfolgten Absichten ist die Erklärung Ollenhauers bezeichnend, wonach eine Veränderung des »Status der Zone« notwendig sei und deshalb die Aktionen des Kuratoriums unterstützt werden müssten.
In einer gemeinsamen Sitzung der SPD-Führung und des Kuratoriums wurde betont, dass im Interesse der Verhinderung des Abschlusses eines Friedensvertrages und der Regelung des Westberlinproblems die Westmächte, die neutralen Länder und die westdeutsche Bevölkerung beeinflusst und die »Menschen in der Zone in Bewegung gebracht werden« müssten.8 Eine entsprechende »Volksbewegung« müsste zunächst einen bedeutenden Zeitgewinn bringen. (Auf der Sitzung wurden zahlreiche Vorschläge zur Forcierung der Hetzpropaganda in diesem Sinne gemacht.)
Der stellv. SPD-Vorsitzende Wehner hatte vor der Sitzung den Führungsgremien der SPD diese Haltung der SPD-Führung damit begründet, dass die Beeinflussung der Weltöffentlichkeit eine Angelegenheit der nationalen Selbstbehauptung sei.
Eine vertrauenswürdige Quelle wies auf Äußerungen eines Mitglieds des SPD-Vorstandes hin, nach denen aufgrund bestimmter Mängel in der Versorgung und der durch die letzten Unwetter evtl. zu erwartenden schlechten Ernte mit einer Zunahme der »Schwierigkeiten in der DDR« und im Herbst des Jahres mit »Unruhen lokaler Art« in der DDR zu rechnen sei. Die Situation sei in diesem Jahre anders als 1953, da jetzt die Bonner Bundeswehr bereitstehe. Wenn die DDR diplomatisch stärker ins Gespräch komme, könne erwartet werden, dass das SPD-Ostbüro noch im Herbst »Unruhen« in der DDR inszeniert, »um die Regierung der DDR moralisch abzuwerten«.
Der Leiter des SPD-Ostbüros Stephan Thomas erklärte schon im Frühjahr des Jahres, dass eine geschickte Propagierung der »Krisensituation« in der DDR große Auswirkungen haben würde, zumal die SED zu 60 % aus »Mitläufern« bestehe und nur durch eiserne Disziplin zusammengehalten werde. Eine gewisse Konzentrierung müsse auf solche Forderungen erfolgen, wie z. B. die »Erweiterung der Mitbestimmung« in den Betrieben, die Einführung der 5-Tage-Woche usw. (Forderungen dieser Art werden konzentriert in den in die DDR eingeschleusten Hetzschriften, vor allem des SPD-Ostbüros, erhoben und zum Ausdruck gebracht, dass die Arbeiter in der DDR veranlasst werden müssten, konterrevolutionäre Forderungen zu erheben.)
In diesem Zusammenhang verdient Beachtung, dass in Westberliner SPD-Funktionärskreisen Gerüchte über einen zu erwartenden »Aufstand in der Zone« verbreitet und dass auch die SPD-Organisationen im demokratischen Berlin in diesem Sinne beeinflusst werden. Diese SPD-Funktionäre vertreten die Meinung, dass aufgrund der derzeitigen wirtschaftlichen Situation in der DDR die Hetz- und Wühltätigkeit Erfolgsaussichten habe.
Mitarbeiter des Bonner Innenministeriums und des Westberliner Senats für Volksbildung erklärten in einem internen Gespräch, dass alles getan werden müsse, um Aktionen – ähnlich dem Hennigsdorfer Brief9 – zu organisieren und damit die Haltung der USA in der Westberlin-Frage zu »unterstützen«. Noch vor der neuen Ernte müssten »Rebellionen« unter den Arbeitern der DDR organisiert werden.
Führende Westberliner RCDS-Kreise erklärten, dass über sog. Flüchtlingsorganisationen in der DDR begrenzte aber aktive Gruppen geschaffen werden müssten, die hervortreten sollen, wenn »der Osten« in der nächsten Zeit zu einem »weichen Kurs gezwungen« werde.
Im Westfernsehen wurde am 9.7.1961 der »Internationale Frühschoppen«, ohne hier ausführlich darauf einzugehen, dazu benutzt, Spekulationen auf einen »Aufstand« in der DDR in Richtung eines »neuen 17. Juni« bzw. der Konterrevolution in Ungarn unter der Öffentlichkeit zu verbreiten.
Neuerdings erschienen auch in den dänischen Zeitungen »Dagens Nyheter« und »Information« vermutlich von Bonn inszenierte Artikel, in denen von einem »möglichen Aufstand« in der DDR »bei Abschneiden des Fluchtweges, bei Zunahme der Versorgungsschwierigkeiten und bei Verhängung einer Westblockade« berichtet wurde.
Etwa Mitte Juli des Jahres erschien in der englischen »Sunday Times« ein Artikel, wonach in der DDR Widerstandsgruppen gebildet würden, die das Ziel hätten, lokale Aufstände zu inszenieren.10 Ein Vertreter des Londoner BBC in Westberlin erklärte, dass diese Angaben evtl. von ihm stammen könnten. Er habe Kenntnis von »organisierten Widerstandsgruppen«, die zzt. führerlos seien, aber von außen geleitet werden und Anlässe zur Auslösung von Grenzprovokationen (Einsatz des Bundesgrenzschutzes usw.) schaffen könnten. (Es muss beachtet werden, dass die BBC zahlreiche falsche Behauptungen über die Lage in der DDR verbreitet, die zu einem großen Teil von den Westberliner BBC-Vertretern stammen dürften.) Der genannte BBC-Vertreter erklärte außerdem, er habe von seiner Londoner Zentrale den Hinweis erhalten, dass mit einem Putsch in der DDR zu rechnen sei und er deshalb unbedingt in Westberlin bleiben und für eine »kontinuierliche Berichterstattung« sorgen müsse.
Allgemein ist festzustellen, dass sich die Verfasser der »Berichte über die Lage in der Zone« bei den einzelnen Agentenzentralen auf solche Fragen konzentrieren, die als »Nachweis« einer zunehmenden Unzufriedenheit der Bevölkerung der DDR dienen können.
Die stellv. Leiterin des Lemmerschen »Informationsbüros West«11 (IWE) Elisabeth Rapp erklärte u. a., dass aufgrund der Versorgungsschwierigkeiten die Bürger der DDR davon Gebrauch machen müssten, Tausende von Briefen und Beschwerden zu schreiben und damit eine Protestwelle zu entfachen.
Nach einer internen Information wies der »Bundesnachrichtendienst« (Gehlen) seine Agenten an, die Erkundung von Mängeln in der Versorgung, Lohnbewegungen und anderen Erscheinungen, die für feindliche Aktionen ausgenutzt werden können, vorrangig zu behandeln. Entsprechende Hinweise sollen den jeweiligen Zentralen sofort übermittelt werden.
Im Interesse der Sicherheit der Quellen kann der Bericht publizistisch nicht ausgewertet werden.
Sämtliche im Bericht genannten Hinweise werden vom MfS überprüft, um festzustellen, welche Absichten die Initiatoren der Provokationspläne im Einzelnen verfolgen und woher sie evtl. ihre »Informationen« beziehen, auf denen sie ihre Spekulationen aufbauen. Wenn weitere Überprüfungsergebnisse vorliegen und ausführlichere Einschätzungen möglich sind, wird umgehend darüber informiert.