Westliche Vorhaben zur Unterstützung von Fluchten
10. März 1961
Bericht Nr. 140/61 über Pläne, Absichten und Methoden des Gegners zur Organisierung der Republikflucht
Dem MfS wurden in letzter Zeit erneut Hinweise bekannt, die beweisen, dass der Gegner im Rahmen der psychologischen Kriegsführung gegen die DDR weiterhin bestrebt ist, durch umfangreiche und vielseitige Maßnahmen Republikfluchten zu organisieren.
Die bisher bekanntgewordenen Maßnahmen und Methoden sowie Pläne und Absichten zur Organisierung der Republikflucht lassen folgende vom Gegner verfolgte Ziele erkennen:
- 1.
Die Störung der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung in der DDR, ihrer Politik der Verständigung und der Verhandlungen und ihres wachsenden nationalen und internationalen Ansehens.
- 2.
Die Ausschaltung der DDR als Konkurrent auf dem Weltmarkt durch zielstrebige Abwerbung von Spezialisten, vor allem aus exportintensiven Industriezweigen.
- 3.
Die Beschaffung von Fach- und Arbeitskräften für die westdeutsche und die Westberliner Wirtschaft zur Beseitigung des durch die Hochkonjunktur in bestimmten Berufszweigen vorhandenen Arbeitskräftemangels, besonders in der Rüstungsindustrie.
- 4.
Mit der zur Organisierung der Republikfluchten notwendigen Lügenkampagne über die angeblich unerträglichen Zustände in der DDR von dem in der Westzone herrschenden politischen Notstand abzulenken.
Innerhalb des Bonner Staatsapparates ist vor allem das sog. »Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen« unter der Leitung von Lemmer der hauptsächlichste Organisator der Republikflucht. Das Lemmer-Ministerium1, das für diese Aufgabe jährlich Mio.-Beträge aus dem Bonner Staatshaushalt sowie Zuschüsse der verschiedensten politischen und klerikalen Vereinigungen erhält, ergreift nicht nur selbst Maßnahmen, die die Flucht aus der DDR intensivieren und fördern, sondern lenkt, leitet und koordiniert auch alle die Aktionen, die aufgrund der gegebenen Anregungen von den verschiedensten Agentenzentralen, Vereinigungen, Organisationen aus eingeleitet werden.
Im Jahre 1960 wurde z. B. zur Verstärkung der Republikflucht von DDR-Bürgern durch leitende Mitarbeiter des Lemmer-Ministeriums festgelegt, mittels Zuschüsse aus dem Bonner Staatshaushalt besondere Vergünstigungen für ältere Personen aus der DDR zu schaffen, unter dem Aspekt, sie zum illegalen Verlassen der DDR zu bewegen und durch sie jüngere Arbeitskräfte nachzuziehen.
Als Mittel zur Abwerbung von Bürgern der DDR bedient sich das Lemmer-Ministerium des Einsatzes von Werbeagenten aus den verschiedensten vom Ministerium gesteuerten Agenten- und Terrororganisationen.
Weiterhin nimmt das Lemmer-Ministerium direkten oder indirekten Einfluss auf die verschiedensten Einrichtungen und Organisationen in Westberlin und Westdeutschland, die für die Organisierung der Republikflucht Möglichkeiten bieten. Dazu zählen u. a. wissenschaftliche Einrichtungen und Berufsverbände, so z. B. der »Hartmann-Bund«, der Verband deutscher Ingenieure, die verschiedensten Agentenzentralen und -organisationen, darunter das sog. Informationsbüro West (IWE)2 in Westberlin und die Landsmannschaften, die Einrichtungen der Presse, des Rundfunks und Fernsehens.
In die Abwerbeaktionen des Bonner Staates wurde auch das Kriegsministerium aktiv mit einbezogen, indem es auf wissenschaftlichen Kongressen und Tagungen in Westberlin und Westdeutschland höhere Offiziere mit anwesenden Wissenschaftlern und Ärzten aus der DDR in Verbindung zu treten und diese abzuwerben versuchen. [sic!]
Die Organe des Bonner Innenministeriums, besonders die Polizei und der Bundesgrenzschutz, unterstützen die Abwerbung von Bürgern der DDR gegenwärtig u. a. dadurch, dass sie zu privaten Besuchen in Westdeutschland weilenden DDR-Bürgern die PM 12 a3 durch Stempel ungültig zu machen und die Bürger bei Bestehen auf Rückreise in die DDR mit dem Hinweis auf ihre ungültigen Personalpapiere bedrohen. Beim Grenzübertritt werden Bürger der DDR, die auf entsprechende Fragen, ob sie in Westdeutschland verbleiben wollen, abschlägig antworten, damit einzuschüchtern versucht, dass ihnen vorgehalten wird, sie würden doch nur gesamtdeutsche Gespräche zu führen beabsichtigen.
Gegenwärtig werden von der Bonner Regierung Pläne beraten, die Republikflucht von Mitarbeitern des Staatsapparates der DDR wesentlich zu verstärken. Zu diesem Zweck ist vorgesehen, derartige Mitarbeiter, »selbst wenn sie 10 bis 15 Jahre im Staatsdienst standen«, in finanzieller Hinsicht den 131ern4 gleichzustellen, um ihnen neben der propagandistischen Beeinflussung auch einen materiellen Anreiz zur Flucht nach Westdeutschland zu geben. Die notwendigen finanziellen Mittel dafür sollen bereits bereitgestellt worden sein.
Durch die Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn in Frankfurt/M. wurde bereits eine Verfügung zu den Richtlinien über die Regelung des allgemeinen Dienstalters erlassen, die den Eisenbahnern aus der DDR gleiche »Rechte« einräumt. Danach werden als Dienstzeiten angerechnet: »Der Grundwehrdienst, der Arbeitsdienst und der Kriegsdienst im zweiten Weltkrieg, wenn sich der Betreffende innerhalb von sechs Monaten nach Beendigung dieser Dienste nachweisbar ernsthaft um die Einstellung in den Eisenbahndienst beworben hat.« Dabei wird in dieser Verfügung ausdrücklich betont, dass als Eisenbahndienst auch der Dienst im Bereich der Deutschen Reichsbahn gilt.
Vom Westberliner Senat ist nach Erklärungen des Senators für Sozialfragen, Exner, geplant, die Zuzugsgenehmigung für Westberlin abzuschaffen, um Flüchtlingen aus der DDR die schnelle Eingliederung in den Arbeitsprozess in Westberlin zu ermöglichen. Der Senat will durch diese Maßnahme ein Ansteigen der Fluchten aus der DDR erreichen. Zur Unterstützung dieser Bestrebungen ist außerdem beabsichtigt, den Bau von Wohnungen für Republikflüchtige in Westberlin mit finanzieller Unterstützung Bonns (75 % der Kosten) wesentlich zu verstärken, um damit Bürgern der DDR einen erhöhten Anreiz zur Flucht zu geben.
Von der Bonner Regierung wurden 1960/61 zahlreiche Maßnahmen beschlossen, eingeführt und propagiert, unter dem Aspekt, Bürgern der DDR die »Anerkennung« zu erleichtern und größere materielle Anreize zu bieten.
Zu diesen Maßnahmen gehörte die breit propagierte Anweisung des Lemmer-Ministeriums an die »Notaufnahmebehörden«, republikflüchtige Landwirte bevorzugt abzufertigen und ihnen den »Flüchtlingsausweis C«5 auszuhändigen. Mit dem Ausweis C erhält der Republikflüchtige in Westdeutschland im Rahmen von »Kann-Vorschriften« Beihilfen zum Lebensunterhalt, zur Beschaffung des Hausrates und des Wohnraumes, zur Ausbildung der Kinder und zum Aufbau einer Existenz. Allein für den beruflichen Neuanfang können ihm bis zu 35 000 DM Entschädigung zugebilligt werden.
Die globale Erteilung des Ausweises C wurde inzwischen auch auf Angehörige anderer Berufsgruppen (z. B. Handwerker, Gewerbetreibende, Besitzer von privaten Betrieben) ausgedehnt, wenn deren »wirtschaftliche Existenz gefährdet« ist.
Gegenwärtig gibt es bereits Überlegungen, die Erteilung des Ausweises C noch großzügiger zu handhaben, indem jede politische Meinungsverschiedenheit bereits schon als »Grund für die Bedrohung der persönlichen Existenz« anerkannt werden soll.
Für die Flüchtlinge ohne C-Ausweis erarbeitete das »Bundesministerium für Vertriebene und Flüchtlinge« nach Ausführungen von Merkatz einen Erlass zur Gewährung einer Einrichtungsbeihilfe, ähnlich der bisher an Inhaber des C-Ausweises gewährten Hausratsbeihilfe.
Um einen einheitlichen Maßstab bei der Aushändigung des C-Ausweises in den Ländern Westdeutschlands durchzusetzen, wurde den Ländern durch die Bonner Regierung empfohlen, in den Ländern, Kreisen und Städten sog. Anerkennungsausschüsse zu bilden. In diese Ausschüsse sollen u. a. auch Mitglieder der »Vereinigung der Opfer des Stalinismus« (VOS)6 und des »Verbandes der Ostzonenflüchtlinge«7 berufen werden.
Mit der sogenannten 2. Novelle zum »Häftlingsgesetz« erhält jede in der DDR wegen Vergehen gegen die staatliche Ordnung verurteilte und nach der Haft flüchtende Person ab 3. Haftjahr eine zusätzliche Summe von 250 DM pro Vierteljahr Haft, rückwirkend ab 1950.8
Unterstützt vom Lemmer-Ministerium führt die Ärztevereinigung »Hartmann-Bund« eine Spendenaktion unter dem Thema »Ärzte helfen Ärzten« durch. Damit soll besonders Kindern republikflüchtiger Ärzte das Studium in Westdeutschland ermöglicht werden.
Diese Maßnahmen wurden durch eine umfassende Presse-, Rundfunk- und Fernsehkampagne weitgehend propagiert, wobei als Organisatoren dieser Kampagne vor allem das Lemmer-Ministerium und das »Bundesministerium für Vertriebene und Flüchtlinge« in Erscheinung traten.
Aus dem Inhalt der Sendungen und Presseartikel von 1960 ist ersichtlich, dass die verstärkte Rundfunk- und Pressekampagne dabei nachstehende, für die Organisierung der Republikflucht wesentliche Ziele verfolgte:
- 1.
Durch Versprechen von staatlichen Vergünstigungen und Möglichkeiten des Aufbaues einer neuen Existenz in Westdeutschland nach erfolgter Flucht direkt bestimmte Berufs- und Bevölkerungsschichten der DDR zur Republikflucht zu beeinflussen.
- 2.
Durch Presse- und Rundfunkveröffentlichungen über angeblich gewährte finanzielle Unterstützung an Republikflüchtige und über vorhandene und mit durch Republikflüchtige zu besetzende Fehlstellen besonders bei Mangelberufen, bereits republikflüchtig gewordene Personen sowie westdeutsche Bürger anzuregen, in Briefen und durch andere persönliche Kontakte ihre Verwandten und Bekannten in der DDR damit vertraut zu machen und sie dadurch zur Republikflucht zu verleiten.
- 3.
Durch Veröffentlichung von Aufrufen Bonner Regierungsstellen an westdeutsche Interessenverbände, ausländische Staaten usw., Unterstützung und Hilfe bei der Eingliederung der Flüchtlinge zu leisten und durch die Wiedergabe zustimmender Erklärungen aus diesen Kreisen den Eindruck einer breiten Welle der Sympathie und Unterstützung für die Republikflüchtigen besonders durch die westdeutsche Bevölkerung zu erwecken.
Der organisierte Charakter der Abwerbung von Bürgern, besonders von Fach- und Arbeitskräften aus der DDR, wird auch daraus mit ersichtlich, dass sich mit Förderung und Duldung westdeutscher und Westberliner Regierungsorgane auch Verwaltungsdienststellen dieser Organe, Konzerne, sowie verschiedene Geheimdienste, Agentenzentralen, Revanchistenverbände, wirtschaftliche und wissenschaftliche Institute und Publikationsorgane mit Abwerbung befassen.
Aus den vorliegenden Materialien lassen sich folgende grundsätzliche Methoden erkennen, mit denen die genannten Organe die Abwerbung betreiben:
- 1.
In der Mehrzahl der Beispiele wurden durch diese Organe Republikflüchtige beauftragt, ihre Verwandten und Bekannten in der DDR anzuschreiben, ihnen entsprechende Stellenangebote zu unterbreiten und sie zum Verlassen der DDR aufzufordern.
- 2.
In einer Reihe von Fällen wurden Bürgern der DDR während dienstlichen oder privaten Aufenthalten in Westdeutschland mündliche Angebote unterbreitet. In Einzelfällen erfolgte dies auch durch Vertreter von westdeutschen Firmen, die sich zeitweilig in der DDR aufhielten.
- 3.
Eine weitere Methode war das Zuschicken von Einladungen und Stellenangeboten auf postalischem Wege.
- 4.
In Einzelfällen beauftragten westdeutsche Firmen auch von ihnen eingestellte Republikflüchtige in die DDR zurückzukehren, hier Arbeitskräfte abzuwerben und später mit diesen Abgeworbenen wieder flüchtig zu werden.
- 5.
Westberliner Konzerne, Betriebe usw. konzentrierten ihre Abwerbetätigkeit mehr auf die Gewinnung von Grenzgängern, nicht so sehr auf Republikflüchtige.