Zurückweisung von Präses Scharf an der Grenze
1. September 1961
[Einzel-Information] Nr. 505/61 über die Zurückweisung des Vorsitzenden des Rates der EKD, Präses Dr. Kurt Scharf, nach Westberlin
Vom Rat der EKD wurde für den 30.8. eine Ratstagung nach Westberlin einberufen, zu der auch offiziell Einladungen verschickt wurden. Tatsächlich wollte man diese Ratstagung aber dann am 31.8. illegal im demokratischen Berlin durchführen bzw. fortsetzen, weil von diesen Kreisen damit gerechnet wurde, dass im demokratischen Berlin einmal die Ratsmitglieder aus der DDR ohne Schwierigkeiten teilnehmen könnten und zum anderen auch die westdeutschen und Westberliner Ratsmitglieder eine entsprechende Genehmigung zum Aufsuchen des demokratischen Berlin bekämen.1
Vom Polizeipräsidenten des demokratischen Berlin, Generalmajor Eikemeier, wurde Präses Scharf2 jedoch informiert, dass eine Ratstagung im demokratischen Berlin verboten ist.
Präses Scharf hat deshalb zusammen mit Oberkonsistorialrat Andler3, mit Hagemeyer4 und Figur5 einen Antrag zum Betreten Westberlins gestellt.
Während für Präses Scharf ein Berechtigungsschein zum Betreten Westberlins ausgestellt wurde, erhielten die anderen Genannten diese Genehmigung nicht.
Am 31.8. tagten in Westberlin die Ratsmitglieder, die nicht ins demokratische Berlin durften, und im demokratischen Berlin fanden sich die Ratsmitglieder aus der DDR – u. a. wurden Bischof Krummacher und Präses Mager gesehen – zusammen. Präses Scharf nahm an der Westberliner Ratstagung teil mit der Absicht, anschließend sofort die im demokratischen Berlin weilenden Ratsmitglieder von der Westberliner Ratstagung zu verständigen. So verließ Präses Scharf am 31.8.1961, gegen 12.40 Uhr mit seinem Berechtigungsschein über den KP Invalidenstraße das demokratische Berlin und versuchte gegen 20.15 Uhr über den gleichen KP in das demokratische Berlin zurückzukehren.
Im Rahmen der ab 29.8. vom MfS eingeleiteten Kontrollmaßnahmen wurde Präses Scharf bei seinem Versuch, ins demokratische Berlin zurückzukehren, angehalten. Nachdem ihm sein DPA und sein Berechtigungsschein eingezogen wurde, wurde wie folgt mündlich erklärt, dass er das demokratische Berlin nicht mehr betreten könne:
»Ich muss Ihnen erklären, dass Sie das demokratische Berlin, die Hauptstadt der DDR, nicht mehr betreten können. Sie haben sich in Ihrem Telegramm für die Familienzusammenführung in ganz Berlin eingesetzt.
Die staatlichen Organe geben Ihnen die Möglichkeit, zu Ihrer Familie nach Westberlin zurückzukehren. Ferner haben Sie durch die Nichtabgabe ihres Westberliner Personalausweises bewiesen, dass sie nicht gewillt sind, sich von der revanchistischen und militaristischen Entwicklung in Westdeutschland und Westberlin zu distanzieren.
Die Institution, der Sie vorstehen, ist mit dem militaristischen System in Westdeutschland durch Abschluss eines Militärseelsorgevertrages und durch die Schaffung einer Militärkirche auf das Engste verbunden.
Aus diesem Grunde begeben Sie sich unverzüglich und für immer zurück in den Westsektor.«
Diese Erklärung brachte Präses Scharf völlig aus der Fassung. Er war nicht imstande, zusammenhängend etwas zu erwidern, sondern redete völlig durcheinander u. a. davon, dass seine Papiere echt seien, er keinen Westberliner DPA habe, dass man auf diese Art so etwas nicht machen könne, dass diese Maßnahme unredlich wäre usw.
Präses Scharf war so schockiert, dass er weder einen Westberliner Polizeiangehörigen oder jemand anderen ansprach, noch sich von seinem Fahrer verabschiedete.
Soweit zu beobachten war, kehrte Präses Scharf zu Fuß nach Westberlin zurück.
Der Kraftfahrer, der im demokratischen Berlin wohnhaft ist, wurde mit dem Wagen, der ein polizeiliches Kennzeichen des demokratischen Berlin besitzt, eingelassen.
Der gesamte Vorgang dauerte nur wenige Minuten und verlief ohne jeden Zwischenfall.
In diesem Zusammenhang ist noch bemerkenswert, dass in den gestrigen Nachmittagsstunden beginnend von den westlichen Rundfunkstationen die Meldung gebracht und besonders herausgestellt wurde, dass Scharf als einziger Vertreter der evangelischen Kirche der DDR die Erlaubnis zur Teilnahme an der Sitzung in Westberlin erhalten hat, bis jetzt aber jede Reaktion auf die Zurückweisung von Scharf fehlt.6