Die Tätigkeit einer jugendlichen Untergrundgruppe in Ostberlin
1. Juni 1963
Einzelinformation Nr. 350/63 über die am 8. Mai 1963 festgenommene Untergrundgruppe im demokratischen Berlin
Ergänzend zu den ihnen bereits bekannten Fakten werden nachstehend noch eine Reihe weiterer durch die Untersuchung festgestellter Einzelheiten mitgeteilt.
Am 16.5.1963 wurde ein weiteres Mitglied der Untergrundgruppe,1 der 1955 aus Bayern übergesiedelte [Name 8, Vorname], geb. am [Tag, Monat] 1942 in Berlin, wohnhaft Berlin N 54, [Straße, Nr.], Beruf: Baumaschinenschlosser, Arbeitsstelle: VEB Hochbau, Berlin-Lichtenberg, Familienstand: ledig, soziale Herkunft: Arbeiter, festgenommen. [Name 8] nahm bis zum Dezember 1962 an den Zusammenkünften der Untergrundgruppe teil, kannte die feindliche Zielstellung und hat maßgeblich am sogenannten Programm mitgearbeitet. Aus angeblicher Angst vor einer Festnahme nahm er an den Flugblattaktionen jedoch nicht mehr teil und zog sich zurück.
Die Initiative zur Bildung der Untergrundgruppe ging von den festgenommenen [Name 1] und [Vorname 1 Name 2] aus.
Beide kannten sich durch ihre gemeinsame berufliche Tätigkeit bei der Deutschen Staatsbibliothek, wo sie u. a. Zugang zu Westzeitungen und Westzeitschriften hatten. In Gesprächen stellten sie ihre übereinstimmenden, gegen die DDR gerichteten Auffassungen fest. Sie vertraten den Standpunkt, dass an der Spaltung Deutschlands und an ihrer Vertiefung die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR schuld seien. Aufgrund dieser Auffassungen, die sie Anfang des Jahres 1962 äußerten, schlug [Name 1] vor, eine »Gruppe von gleichgesinnten Personen« zu bilden, die im Sinne einer »dritten Kraft« tätig werden und ein »Programm zur Wiedervereinigung« erarbeiten sollte.
Diese Aufgaben verwirklichten sie in der Folgezeit, indem [Vorname 1 Name 2] zuerst seine Ehefrau [Vorname 2 Name 2] einweihte und einbezog und im September 1962 den [Vorname Name 5], dessen negative Einstellung ihm durch seine Ehefrau ebenfalls bekannt war, für die Gruppe gewann. [Name 1] führte den ihm als negativ bekannten [Vorname Name 4] und später seine ([Name 1]) Freundin [Vorname Name 7] der Gruppe zu.
Die weiblichen Mitglieder der Untergrundgruppe wurden hauptsächlich auch unter dem Gesichtspunkt einbezogen, Schreibmaschinenarbeiten zur Herstellung feindlicher Materialien zu erledigen.
Von dem neuen Mitglied der Gruppe [Vorname Name 5] wurde dann weiter der [Name 3] für die Untergrundgruppe gewonnen. Dabei war [Vorname Name 5] bekannt, dass [Name 3] Mitglied der SED ist. Er wusste aber angeblich auch mit Sicherheit, dass [Name 3] mit den Zielen der SED nicht einverstanden sei. [Name 3] bestätigte dies u. a., indem er sofort ein weiteres Mitglied für die Untergrundgruppe gewann, den ihm aus dem Wohngebiet bekannten [Vorname Name 6]. [Name 3] erklärte auch selbst, dass er nur Mitglied der SED geworden sei, um im persönlichen Leben besser vorwärts zu kommen. Er habe noch zu keinem Zeitpunkt auf dem Boden der Arbeiterpartei gestanden.
Dieser [Name 3] trug wesentlich dazu bei, den feindlichen Charakter dieser Gruppe noch mehr zu verstärken. So wurden die am Anfang von [Vorname 1 Name 2] und [Name 1] entwickelten zum Teil noch verschwommenen feindlichen Vorstellungen – in dem geplanten Programm »von beiden Gesellschaftssystemen in Deutschland das beste« aufzunehmen, um eine »Massenbasis« zu erreichen – unter maßgeblichen Einfluss [Name 3] in einen »strikten Kampf gegen die Politik der DDR« und für die »bedingungslose Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik Deutschland« präzisiert.
Unter dieser Zielsetzung wurden dann auch das sogenannte Programm und Statut der Untergrundgruppe ausgearbeitet und die feindlichen Aktionen vorbereitet und durchgeführt.
[Vorname 1 Name 2] war zu diesem Zeitpunkt auch bestrebt, unter Ausnutzung eines ihm bekannten Westberliners Flugblätter in Westberlin drucken zu lassen, was aber nicht realisiert wurde.
Ab September 1962 trafen sich die Mitglieder der Untergrundgruppe zur Organisierung ihrer feindlichen Handlungen regelmäßig jeden Donnerstag in der Wohnung des [Name 1] oder [Name 3]. Dort wurden unter Beteiligung aller Beschuldigten das sogenannte Programm und das sogenannte Statut schriftlich ausgearbeitet.
Sowohl im Programm als auch im Statut wird der westdeutsche Staat als »vom Volk frei gewählt« und als »Garant für Freiheit, Demokratie und Recht« verherrlicht, während in übelster Weise gegen die DDR gehetzt wird. Die DDR sei »gegen den Willen und unter Missachtung der nationalen Interessen des deutschen Volkes« geschaffen worden. Ihre Politik sei »antinational, unrechtlich und mit der vollen Verantwortung für die Spaltung Deutschlands belastet«, weshalb gegen das in der DDR herrschende politische System und gegen den gesamten Staatsapparat als »Hauptfeind der deutschen Wiedervereinigung zum Zwecke ihrer Schwächung und letztlich ihres Sturzes« gekämpft werden müsse.
Für ihre Untergrundgruppe legten sie im November 1962 den Namen »Deutscher Wiedervereinigungsbund« (DWB) fest. Im Programm und im Statut sind ferner Festlegungen enthalten über Fragen der Mitgliedschaft in der Untergrundgruppe, über Rechte und Pflichten der Mitglieder, über Finanzierung der Gruppe und der Aktionen, über Fragen der Konspiration und Absicherung und über den strukturellen Aufbau. Unter anderem heißt es dort sinngemäß:
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Die Untergrundgruppe müsse so unauffällig wie möglich sein, weil sie illegal arbeitet.
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Die gesamte Gruppe ist aufzugliedern und in »Zellen« zu teilen; eine »zentrale Gruppe« muss sich aus den Fähigsten zusammensetzen.
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Die kleinsten Gruppeneinheiten haben hauptsächlich die praktischen Aktionen auszuführen. Sie sind planmäßig aufzuteilen. Über alle Mitglieder, ihren Wirkungskreis, ihre Arbeit und ihre Mittel ist eine Kartei anzulegen. Bei Anwachsen der Gruppeneinheiten sind innerhalb Berlins im jeweiligen Stadtbezirk Bezirksgruppen zu organisieren. Die Sicherung und Überwachung ihrer Versammlungen und Aktionen müssen sie selbst übernehmen.
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Neu aufzunehmende Mitglieder müssen vorher auf ihre politischen und moralischen Eigenschaften hin überprüft werden. Vor der Aufnahme dürfen sie keinerlei Einzelheiten über den Aufbau des Bundes erfahren.
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Die Finanzierung erfolgt durch Mitgliedsbeiträge in Höhe von 1,5 % des Netto-Verdienstes. Die Gelder werden für propagandistische Zwecke (Herstellung von Flugblättern, Plakaten, Handzetteln), für Unkosten beim Kauf von Arbeitsmitteln (Druckmaschine, Papier usw.) und für allgemeine Ausgaben verwendet.
In den Vernehmungen dazu erklärten die Beschuldigten, dass sie sogenannte Fünfergruppen schaffen wollten, deren Gruppenführer wiederum ein kollektives Leitungsorgan darstellen sollten. Außerdem sollte aus Gründen der Konspiration für jedes Mitglied eine Kennziffer eingeführt, eine Sicherungsgruppe gebildet und ein Warnsystem ausgearbeitet werden.
Diese geplanten Maßnahmen sollten besonders bei eventueller Festnahme durch die Sicherheitsorgane die weitere illegale feindliche Tätigkeit ermöglichen und die Mitglieder der Untergrundgruppe abschirmen.
Jedes Mitglied war zur strengsten Geheimhaltung verpflichtet.
Wenn auch das vorgesehene Ausmaß der Gruppe und ihre Struktur bis zum Zeitpunkt der Festnahme noch nicht aufgebaut war, gab es doch weitere Versuche, Personen zu testen und zur Mitarbeit zu gewinnen und gingen sie auch ab Januar 1963 dazu über, entsprechend ihrer Zielstellung Flugblattaktionen vorzubereiten und durchzuführen.
Dazu wurden u. a. von den Beschuldigten [Vorname Name 1], [Vorname Name 5] und [Vorname Name 7] insgesamt vier Typendruckkästen mit Zubehör sowie das zur Herstellung notwendige Papier beschafft und von ihnen und weiteren Gruppenmitgliedern ungefähr 2 000 Hetzflugblätter im März 1963 mittels Druckkästen mit folgendem Text hergestellt:
»Deutsche! | Eure Tat für die Wiedervereinigung. Kampf gegen die Regierung der DDR. Unterstützt den Deutschen Wiedervereinigungsbund. Unser Vaterland – ein Deutschland.«
Diese Flugblätter wurden am 14. und 28. März 1963 im Gebiet der Hauptstadt verbreitet, wobei vorher besonders dichtbesiedelte Straßen in den Stadtbezirken Lichtenberg, Friedrichshain und Prenzlauer Berg als Verbreitungsbezirke festgelegt worden waren. Die Verbreitung erfolgte aus Sicherheitsgründen in Gruppen von zwei Mann, wobei von jedem Mitglied jeweils 100 Flugblätter in Hausbriefkästen von Wohnhäusern eingeworfen wurden. Um eine Gefährdung der Aktion zu vermeiden, wurde sie auf 30 Minuten begrenzt.
Nach diesen Flugblattaktionen fand jeweils ein Kontrolltreff aller an den Aktionen beteiligten Personen am Automatenrestaurant am Alexanderplatz statt, um die Vollzähligkeit und das reibungslose Gelingen zu kontrollieren.
Für den 8. Mai 1963 war eine weitere Aktion der Gruppe geplant, bei der die von den Gruppenmitgliedern [Vorname Name 7], [Vorname 1 Name 2] und [Vorname Name 5] hergestellten ca. 50 Hetzzettel auf Parkbänken, an Litfaßsäulen und an anderen Stellen in der Umgebung des S-Bahnhofes Friedrichstraße angeklebt werden sollten. Inhalt der Hetzzettel war:
»Unser Vaterland – ein Deutschland ! | DWB (Stempel) | Deutscher Wiedervereinigungsbund.«
Diese Aktion wurde durch die Festnahme der Beschuldigten bei der Übergabe der Hetzzettel verhindert.
Ebenfalls seit Januar/Februar 1963 wurde eine Postwurfsendung mit Hetzflugblättern vorbereitet, die zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen sollte.
Zu diesem Zweck sammelten auftragsgemäß alle Beschuldigten Adressen von Bürgern der DDR (Namensschilder an Wohnungen, Telefonbücher), an die die noch herzustellenden Hetzflugblätter versandt werden sollten. Außerdem beschafften sie sich dafür größere Mengen Schreibpapier, Briefumschläge und Briefmarken. Die [Vorname Name 7] versah bereits ca. 100 Briefumschläge mit Anschriften von Bürgern der DDR. Alle diese Materialien konnten in der Wohnung des für die organisatorische Vorbereitung derartiger Aktionen verantwortlichen [Name 1] und teilweise auch bei anderen Beschuldigten sichergestellt werden.
Ferner wurden Exemplare des sogenannten Statuts und Programms, Skizzen über vorgesehenen Aufbau und Struktur der Gruppe, Protokolle über acht durchgeführte Beratungen, Entwürfe von Hetzflugblättern gegen die Regierung der DDR, Tatwerkzeuge wie Reiseschreibmaschinen, Druckkasten und -typen, Stempel, Stempelfarbe und Gummihandschuhe sichergestellt.
Übereinstimmenden Aussagen aller Beschuldigten zufolge beabsichtigten sie ferner illegal die DDR zu verlassen.
Wie die bisherigen Untersuchungen ergaben, hatten zu diesem Zweck die Beschuldigten [Vorname 1 und Vorname 2 Name 2] Verbindung zu dem ehemaligen Geliebten der [Vorname 2 Name 2], einem gewissen Dr. [Vorname Name 9] aus Berlin-Dahlem, [Straße, Nr.] (war bis September 1961 Arzt im BVG-Ambulatorium) aufgenommen. Im Januar 1963 sandte dieser [Name 9] eine angebliche westdeutsche Ärztin namens [Name 10] als Kurier zu [Name 2] und ließ mitteilen, dass er eine Ausschleusung durch die Kanalisationsanlagen in Teltow organisieren wolle. Dieses Vorhaben wurde jedoch wieder fallengelassen.
Anfang März 1963 wurde [Name 2] von der [Name 10] darauf hingewiesen, dass von Westberliner Studenten (zu denen [Name 9] Verbindungen unterhalte) ein Tunnel in das demokratische Berlin vorgetrieben werde, durch den die Untergrundgruppe nach Westberlin gelangen könne. Nachdem der Termin für diese Ausschleusung aus den Beschuldigten nicht bekannten Gründen mehrmals verschoben wurde, teilte die [Name 10] am 23. April 1963 mit, dass die Ausschleusung auf unbestimmte Zeit verschoben sei. Dr. [Name 9] werde aber nach weiteren Schleusungsmöglichkeiten suchen.
Alle Beschuldigten erklärten, dass weder der [Name 9] noch die [Name 10] wussten, dass es sich bei ihrer Gruppe um eine staatsfeindliche Untergrundgruppe handelte.
Weitere Verbindungen der Gruppe nach Westberlin konnten bisher nicht festgestellt werden.