Direktor der Kinderklinik der Charité (1)
7. Juni 1963
Einzelinformation Nr. 365/63 über Prof. Dr. med. habil. Dieckhoff, Josef, Direktor der Kinderklinik der Charité und Professor mit Lehrstuhl für Kinderheilkunde an der Humboldt-Universität zu Berlin
Dem MfS liegen zum Verhalten Prof. Dr. Dieckhoffs1 eine Reihe Hinweise vor, über die wir nachstehend informieren.
Prof. Dr. D. nahm 1950 eine Berufung an die Universität Halle an und kam dazu aus Westdeutschland in die DDR.
Er hat seit 1935 in verantwortlichen Stellungen im Gesundheitswesen und an Universitäten in Westdeutschland und in der Schweiz gearbeitet und ist durch seine wissenschaftliche Arbeit international anerkannt.
Prof. Dr. D. gehörte von 1933 bis 1940 der NSDAP an und will dann nach eigenen Angaben am illegalen Kampf gegen den Faschismus teilgenommen haben, weshalb er auch 1944 in die Schweiz emigriert sei. [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben.]
Die Berufung an die Universität Halle nahm er aus seiner mehr gefühlsmäßigen antifaschistischen Einstellung und Ablehnung der Entwicklung in Westdeutschland heraus an. Ein wirkliches politisches Wissen ist jedoch bei ihm noch nicht sehr ausgeprägt.
Es muss aber betont werden, dass er bei Reisen in das Ausland die DDR stets würdig vertreten hat. Während einer Kongressreise nach dem 13.8.19612 nach Portugal trat Prof. Dr. D. zusammen mit den anderen drei Teilnehmern der DDR gegen die Störversuche der westdeutschen Teilnehmer auf, die forderten, die DDR-Teilnehmer nicht als offizielle Delegation anzuerkennen. Prof. Dr. D. und die anderen DDR-Teilnehmer setzten es beim Veranstalter durch, dass die DDR-Flagge gehisst und sie als offizielle Delegation anerkannt wurden.
Nach dem 13.8.1961 war Prof. Dr. D. einer der Klinikdirektoren, der seinen Mitarbeitern zu verstehen gab, dass jetzt gearbeitet wird und er Ordnung schaffen werde.
Auch ist bei ernsthaften politischen Gesprächen mit ihm festzustellen, dass er eine richtige Einstellung zur politischen Entwicklung in Westdeutschland hat.
Andererseits wird er aber politisch negativ vor allem von seiner Ehefrau und von einigen politisch zurückgebliebenen Mitarbeitern der Charité beeinflusst.
Außerdem wurde bekannt, dass der Westberliner Vertreter des Bayer-Konzerns [Name] regelmäßig Prof. Dr. D. besucht und ihm Pakete mit Nahrungs- und Genussmitteln überbringt.
Ferner werden von verschiedenen Angehörigen besonders der medizinischen Intelligenz seine gute Arbeit und seine Unterstützung der DDR zum Anlass gewisser Äußerungen genommen, die von ihm als diskriminierend empfunden werden.
Im Ergebnis der angeführten Faktoren und einer Reihe arbeitsmäßiger Schwierigkeiten, die von ihm als bürokratische Arbeitsweise der Verwaltungsorgane der Charité hingestellt werden, zeigen sich bei Prof. Dr. D. zeitweilig Schwankungen im persönlichen und politischen Verhalten und eine gewisse Resignation. In solchen Situationen ließ er durchblicken, dass er sich mit dem Gedanken eines Verlassens der DDR befasste.
Im Einzelnen sind es besonders folgende Probleme, die zu seiner Unzufriedenheit beitragen:
Prof. Dr. D. nahm vom Leiter der Abteilung Wissenschaft im Ministerium für Gesundheitswesen Prof. Dr. Misgeld3 den Auftrag entgegen, die Bildung einer eigenen Gesellschaft für Kinderheilkunde der DDR4 vorzubereiten. Nach uns vorliegenden Hinweisen führte er diesen Auftrag gewissenhaft durch und hat ihn auch politisch richtig erkannt.
In dieser Arbeit wird er jedoch durch gewisse Kräfte des Vorstandes der Sächsisch-thüringischen Gesellschaft für Kinderheilkunde5 behindert, die ihm Widerstand entgegenbringen. Diese Kräfte wollen mit allen Mitteln versuchen, den bisherigen Zustand – Sächsisch-thüringische Gesellschaft als Tochtergesellschaft der sogenannten deutschen (westdeutschen) Gesellschaft für Pädiatrie6 – zu erhalten. Prof. Dr. D. findet dies umso verwerflicher, als sich unter diesen Personen Mitglieder der SED befinden. Er beabsichtigt, diesen Auftrag deshalb zurückzugeben.
Prof. Dr. D. ist ferner Mitglied des Rates für Planung und Koordinierung der medizinischen Wissenschaften.7 Er ist jedoch enttäuscht, weil er nicht dem Präsidium dieses Rates angehört und glaubt, seine fachlichen Fähigkeiten seien nicht gewürdigt. Prof. Dr. D. hat in diesem Zusammenhang den Eindruck, dass einige Professoren (darunter ebenfalls wieder Mitglieder der SED) gegen ihn stehen. Nach seinen Äußerungen gebe es von diesen Andeutungen, dass er sich »vor den Karren der SED und des Ministeriums für Gesundheitswesen spannen« ließe.
Er glaubt wegen der Durchführung der vorher genannten Aufgaben und seiner richtigen Einstellung zur Gesundheitspolitik in diesen Fragen von diesen Kräften diskriminiert zu werden, was seinem internationalen Rang schade. Diese Schlussfolgerung zieht Prof. Dr. D. aus Gesprächen mit westdeutschen und dänischen Kollegen, die ihn deswegen bei der letzten Rostocker Fachtagung8 angesprochen hätten.
Ein weiteres ihn bewegendes Problem ist die Kinderheilkunde in der DDR, von der er glaubt, sie werde vernachlässigt.
So führe er bereits seit längerer Zeit Auseinandersetzungen mit der Verwaltung wegen eines Erweiterungsbaues der Klinik. Die dafür vorgesehenen Räumlichkeiten sind zurzeit mit acht Schwestern seiner Klinik belegt. Nach Auskunft der Verwaltung könnten ihm die Mittel für diesen Erweiterungsbau zur Verfügung gestellt werden, jedoch seien keine Arbeitskräfte vorhanden. Außerdem wisse man nicht, wo man sonst die acht Schwestern unterbringen solle. Prof. Dr. D. betrachtet eine solche Arbeitsweise als bürokratisch und unrentabel. Es sei nicht zu vertreten, dass Klinikbetten, für die der Staat jährlich 40 000 bis 50 000 DM9 je Bett ausgibt, mit Schwestern belegt sind.
Die in Verbindung mit der Studienreform stehende 3%ige Kürzung des Personals betrachtet Prof. Dr. D. im gleichen Zusammenhang und wundert sich, dass der Klinik von Prof. Schulz10 mit der gleichen Bettenzahl doppelt soviel Ärzte zur Verfügung stehen wie ihm.
Er ist außerdem verärgert darüber, dass ihm Planstellen, geringfügige Mittel für Experimente und andere »kleinliche Dinge« nicht zur Verfügung gestellt werden.
Ferner wurde ihm angeblich eine Reise gemeinsam mit seinem Assistenten nach Prag aus finanziellen Gründen gestrichen, weil die Gelder nur für eine Person vorhanden wären.
Um dazu beizutragen, die Schwankungen Prof. Dr. Dieckhoffs zu überwinden und um zu verhindern, dass er sich aufgrund seiner derzeitigen Unzufriedenheit zu einer Handlung gegen die DDR verleiten lässt (Prof. Dr. D. steht vor einer Auslandsreise), halten wir folgende Maßnahmen für zweckmäßig und bitten sie zu prüfen:
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Ein führender Genosse des ZK der SED sollte mit Prof. Dr. D. eine Aussprache, an der er sehr interessiert ist, führen. Dabei könnte geprüft werden, inwieweit ihm geholfen werden kann, bestimmte Schwierigkeiten in seiner Tätigkeit zu beseitigen.
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In Anerkennung seiner fachlichen, international anerkannten Tätigkeit wäre zu erwägen, ihn mit einer staatlichen Auszeichnung (eventuell Nationalpreis) zu bedenken.
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Ein leitender Genosse des Ministeriums für Gesundheitswesen sollte beauftragt werden, ständigen Kontakt zu Prof. Dr. D. zu halten und ihn damit gleichzeitig auch politisch zu bestärken.