Direktor der Kinderklinik der Charité (2)
[ohne Datum]
Einzelinformation Nr. 562a/63 über Prof. Dr. med. habil. Dieckhoff, Josef, Direktor der Kinderklinik der Charité und Professor mit Lehrstuhl für Kinderheilkunde an der Humboldt-Universität zu Berlin
Ergänzend zu unserer Information Nr. 365/63 über das Verhalten Prof. Dr. Dieckhoff1 wird mitgeteilt:
Wie im ersten Bericht bereits erwähnt wurde, hatte Prof. Dr. D. zeitweise die Absicht, die DDR zu verlassen.
Nach Ablehnung einer geplanten Auslandsreise Prof. Dr. D.’s unternahm er zur ernsthaften Verwirklichung dieser Absicht bereits Anfang Februar 1963 erste Schritte. Durch Vermittlung seiner Sekretärin [Vorname Name 1], der er seine Absicht mitteilte, wurde er mit einem in Westberlin studierenden westdeutschen Medizinstudenten (einen Bekannten der [Name1]) in Verbindung gebracht.
Dieser erklärte ihm, dass die Schleusung mittels gefälschter Pässe während der Leipziger Frühjahrsmesse2 erfolgte und erhielt für die zu fälschenden Pässe Lichtbilder von Prof. Dr. D. Dieser Plan wurde nicht durchgeführt, da nach Angaben des Schleusers »etwas dazwischen gekommen« wäre. Neue Festlegungen wurden zu diesem Zeitpunkt nicht getroffen.
Wie Prof. Dr. D. von seinem in Köln-Veldern wohnhaften Schwager erfahren habe, sei die Schleuser-Organisation ohne Prof. Dr. D.’s Kenntnis an seinen Schwager herangetreten und habe von ihm 20 000 DM-West für die Schleusung erhalten. Prof. Dr. D. habe dann nichts mehr unternommen, weil er sich in der Zwischenzeit wieder beruhigt hatte und die Unterstützung spürte, die ihm seitens verschiedener Institutionen in der DDR gewährt wurden.
Im August 1963 wurde er von dem gleichen westdeutschen Medizinstudenten jedoch abermals angesprochen und unterrichtet, dass die Schleusung endgültig am 8.9.1963 erfolge. Prof. Dr. D. und seine Ehefrau sollten am Morgen des 8.9.1963 auf dem Ostbahnhof in Berlin die gefälschten Papiere von dem Schleuser in Empfang nehmen und anschließend (8.15 Uhr) mit dem D-Zug Berlin – Kopenhagen über Warnemünde die DDR verlassen.
Prof. Dr. D. kam dieser Aufforderung nach. Als der Kurier jedoch nicht rechtzeitig eintraf, begab sich D. mit seiner Ehefrau zurück in seine Wohnung. Dort wurde er am gleichen Vormittag von dem westdeutschen Kurier darüber informiert, dass die Schleusung abends mit dem gleichen Zug (19.57 Uhr) erfolgte. Am Nachmittag des 8.9.1963 erhielt er in seiner Wohnung die gefälschten Pässe ausgehändigt.
Im Beisein seiner Ehefrau, seiner Sekretärin [Name 1] und der Bibliotheks-Mitarbeiterin an der Kinderklinik der Charité [Name 2], die ebenfalls die DDR verlassen wollten und gefälschte Pässe erhielten, gab er jedoch die für ihn und seine Ehefrau bestimmten gefälschten Pässe zurück. Er begründete dies damit, dass die Pässe zu oberflächlich gefälscht wären und er unter diesen Umständen auf ein illegales Verlassen der DDR verzichte.
Am 9.9.1963 nahm er seine Arbeit in der Charité wieder auf.
Die [Name 1] und die [Name 2] hingegen fuhren mit ihren gefälschten Pässen wie vorgesehen nach Warnemünde, um die DDR zu verlassen. Dort wurden sie von den Sicherheitsorganen festgenommen.
Am 12.9.1963 meldeten sich Prof. Dr. D. und seine Ehefrau im MfS, wo sie die vorstehend genannten Angaben machten bzw. bestätigten.
Prof. Dr. D. wies dabei auch darauf hin, dass er sich mit Selbstmordgedanken getragen hätte.
Als Motive für die Absicht des illegalen Verlassens der DDR gaben sie an:
Die Hauptursache sei, dass sie sich seit dem 13.8.1961 von ihren Kindern getrennt und ihrer persönlichen Freiheit, was Besuchsmöglichkeiten in Westdeutschland betrifft, beraubt fühlen. Prof. D. habe dem ständigen Drängen seiner Ehefrau nachgegeben, zumal sie auf einen Visaantrag vom 22.6.1964 zu einer Privatreise trotz mehrmaliger Rücksprache weder eine positive noch negative Antwort erhalten habe. Dieser Reiseantrag sei über das Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen gestellt worden.
Er selbst habe ebenfalls das Vertrauen zu unserer Entwicklung verloren, weil er sich ständig wegen »kleinlicher Dinge« herumärgern müsse, die in der Einzelinformation Nr. 365/63 vom Juni 1963 ausführlich dargelegt sind. Prof. Dr. Dieckhoff war seinen eigenen Worten nach entschlossen, nicht in Westdeutschland zu bleiben, sondern ins kapitalistische Ausland zu gehen, da er sich bewusst sei, in Westdeutschland nie eine solche Stellung zu erhalten, wie er sie in der Charité einnimmt.
Prof. Dr. D. wurde vom MfS als Selbststeller behandelt und sofort wieder entlassen. Ein Ermittlungsverfahren wurde nicht eingeleitet. Er wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass die [Name 1] und [Name 2] – von denen er annahm, dass sie die DDR verlassen hätten – mit einer Reihe anderer Personen in Warnemünde verhaftet wurden und gegen sie ein Untersuchungsverfahren eingeleitet ist.
Prof. Dr. D. wurde vom MfS zugesichert, dass vorerst der Senat und die Verwaltung der Humboldt-Universität nicht informiert werden.
Um die jetzt verstärkt vorhandene Unruhe und Unsicherheit sowie die Unzufriedenheit und die Schwankungen bei Prof. Dr. D. und dessen Ehefrau überwinden zu helfen und um zu verhindern, dass er sich aufgrund seiner jetzigen Lage zu einer erneuten Handlung gegen die DDR verleiten lässt, halten wir – in Ergänzung bereits früherer Vorschläge – folgende Maßnahmen für zweckmäßig und bitten sie zu prüfen:
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Der Kontakt zwischen dem Leiter der Abt. Gesundheitspolitik beim ZK der SED3 und Prof. Dr. D. sollte weiter gefestigt werden. Dabei käme es vor allem darauf an, Prof. Dr. D. zu beweisen, dass er nach wie vor Vertrauen genießt und ihm auch so weit als möglich geholfen wird, bestimmte Schwierigkeiten in seiner Tätigkeit zu beseitigen.
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Der Minister für Gesundheitswesen sollte persönlich den Kontakt zu Prof. Dr. Dieckhoff aufnehmen und halten, um ihn auch von staatlicher Seite her mehr zu beeinflussen. Es ist bekannt, dass Prof. Dr. D. den Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates und Minister für Gesundheitswesen, Sefrin,4 sehr schätzt. (Bisher hatte Prof. Dr. D. nur zum Leiter der Abt. Wissenschaft im MfG, Genossen Prof. Dr. Misgeld,5 Kontakt.)
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Prof. Dr. D. hat bisher nur eine Mansardenwohnung in seiner Klinik und sucht eine andere Wohnung. Es sollte geprüft werden, inwieweit ihm ein Einfamilienhaus oder eine entsprechende Wohnung angeboten werden kann.
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In einer grundsätzlichen Aussprache (eventuell durch den Minister für Gesundheitswesen) sollte Prof. Dr. D. aufgefordert werden, offen zu sagen, ob er ins kapitalistische Ausland zu gehen beabsichtige. Sollte dies der Fall sein, müsste ihm eventuell versichert werden, dass einem Ausreiseantrag auf »legalem Wege« zugestimmt würde. Ferner sollte geklärt werden, ob und in welchen Abständen Frau Dieckhoff ihre Kinder in Westdeutschland besuchen kann.
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Der Antrag der Frau Dieckhoff zum Besuch ihrer Kinder in Westdeutschland sollte für den Monat Oktober, wo Prof. Dr. D. einen Kongress in Dresden leitet, genehmigt werden (eigener Vorschlag von Frau D.).
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Dem von Prof. Dr. Dieckhoff gemeinsam mit Prof. Dr. Kleine-Natrop,6 Dresden, und Dr. Findeisen,7 Potsdam, im Auftrage des Staatssekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen eingereichten Einreiseantrag zum Kongressbesuch nach Frankreich sollte zugestimmt werden.