Einschätzung der Passierscheinvereinbarung durch Egon Bahr
20. Dezember 1963
Einzelinformation Nr. 785/63 über Vorschläge des Westberliner Senatspressechefs Bahr zur Passierscheinaktion und über seine Bestrebungen, mit DDR-Kreisen Kontakte herzustellen
Nach vorliegenden internen Angaben habe Bahr1 den Westberliner Journalisten Stehle2 beauftragt, dafür zu sorgen, dass seine (Bahrs) Vorschläge und Bestrebungen zu den o. g. Fragen führenden sogenannten liberalen Kreisen in der DDR bekannt werden.
Zur Passierscheinaktion3 habe Bahr in den Abendstunden des 19.12. an Brandt4 eine Analyse gegeben. Er habe darin unter Hinweis auf die Vielzahl nicht abgefertigter Personen, auf die langen Wartezeiten und auf das zu erwartende Ansteigen der Zahl der Nichtabgefertigten eingeschätzt, dass sich im Gang der Abfertigung an den Passierscheinstellen eine außerordentlich kritische Situation ergeben habe. Bei den von Westberliner Seite unternommenen Versuchen, unter den Wartenden und bei der Abfertigung Ordnung zu schaffen, habe es bisher 21 Verletzte gegeben, darunter drei Westberliner Polizisten. Außerdem sei Sachschaden entstanden (zerbrochene Scheiben usw.). Gegen die Postangestellten5 der DDR habe es keinerlei Angriffe gegeben.
Weiter habe Bahr in dieser Analyse festgestellt, dass verschiedene westliche Presseorgane (vor allem aus den Kreisen der Passierscheingegner) versuchen, eine sogenannte Erbitterungsstimmung anzuheizen. Er, Bahr, versuche den Einsatz aller Mittel, um solche Versuche abzuwehren. Zu diesem Zweck halte er täglich eine Pressekonferenz ab, auf der er die positive Haltung des Senats zum Gang der Abfertigung ausdrücklich hervorhebe. Die nächste Pressekonferenz finde am 20.12., 14.30 Uhr, statt.
Zum gestrigen Gespräch zwischen Senatsrat Korber6 und Staatssekretär Wendt7 habe Bahr erklärt, dass die Westberliner Seite von den Ergebnissen dieses Gespräches nicht befriedigt sei. Die Erhöhung der Zahl der Postangestellten der DDR auf 150 sei zwar sehr anzuerkennen, aber noch nicht ausreichend. Von Korber vorgetragene Bitten des Senats seien noch am gestrigen Abend seitens der DDR fernschriftlich abgelehnt worden.
Über den Journalisten Stehle bitte Bahr die DDR-Organe um ernste und gewissenhafte Prüfung folgender von ihm gemachter Vorschläge:
- 1.
Bei einer Trennung der Annahme und Ausgabe der Passierscheine würden bisherige Abmachungen nicht verletzt und im Einverständnis beider Seiten könnte die Zahl der in den Passierscheinstellen tätigen Postangestellten der DDR verdoppelt werden, wodurch die Abfertigung bedeutend beschleunigt würde.
- 2.
Der Senat schlägt die Öffnung einer direkten Telefonverbindung zwischen der Regierung der DDR und dem Senat für bestimmte telefonische Rückfragen vor.
- 3.
Es müsste überprüft werden, ob Westberliner Postangestellte wenigstens bei der Ausgabe der Passierscheinanträge mitwirken könnten.
Bahr habe außerdem ausdrücklich mitteilen lassen, dass Albertz8 und er gegenwärtig die Westberliner Politik fest in der Hand hätten und Brandt meistens ihre Handlungen nur nachträglich sanktioniere. Ihre Position stehe jedoch deshalb auf schwachen Füßen, weil die reaktionären Kräfte ebenfalls tätig sind. Der Gruppe um Bahr gehe es um die Praktizierung eines Modellfalles, was maximal an Ost-West-Gesprächen und entsprechenden Vereinbarungen möglich sei. Bahr vermute, dass es auch im demokratischen Berlin9 unter bestimmten Regierungskreisen Kräfte gebe, die nicht an einer Ausweitung der gegenwärtigen Verhandlungen interessiert seien. Er wünsche deshalb persönlich ein Kontaktgespräch mit einem Vertreter des sogenannten liberalen Flügels in der DDR. Bahr bezeichnete sich selbst als den exponiertesten Vertreter des liberalen Flügels in Westberlin.
Über den Journalisten Stehle lasse Bahr ausrichten, dass er an einem »diskreten« Informationsgespräch interessiert sei und vonseiten des Westberliner Senats keine Störabsichten bestehen würden. Bahr sei bereit, dieses Gespräch auch im demokratischen Berlin zu führen. Dabei müsse jedoch berücksichtigt werden, dass er ständig von Journalisten verfolgt werde und sein Überwechseln in das demokratische Berlin nicht unbemerkt vor sich gehen könne. Für ihn als Westberliner müsse außerdem ein Verfahren ausfindig gemacht werden, damit er reibungslos und unbemerkt durch einen Kontrollpunkt gelangen könne.
In den heutigen Vormittagsstunden wurde von Stehle außerdem mitgeteilt, dass um 12.00 Uhr eine Sitzung des Senats stattfinde. Die gegenwärtige politische Lage und die Stimmung in Westberlin würden im Mittelpunkt dieser Sitzung stehen. Von der Gruppe um Bahr werde eine äußerst harte Auseinandersetzung erwartet, die vor allem durch erhöhten Druck reaktionärer Kräfte in Gang gebracht worden sei. Bahr würde die heutigen Presseveröffentlichungen als ernstes Anzeichen dafür einschätzen, dass die Passierscheingegner alle Mittel einsetzen, um aufgetretene Stauungen bei der Abfertigung in eine öffentliche Pogromstimmung umzufälschen.
Bahr erwarte auf dieser Senatssitzung scharfe Angriffe vor allem von Amrehn10 und Lemmer.11
Zur heutigen Pressekonferenz des Senats wird mit der Teilnahme von ca. 700 Journalisten gerechnet. Bahr nehme an, dass die reaktionäre Seite für diese Pressekonferenz ihre Journalisten mobilisiert hat und er mit vielen provokatorischen Fragen rechnen müsse.
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