Einschätzung der Passierscheinvereinbarung durch Egon Bahr und andere
20. Dezember 1963
Einzelinformation Nr. 781/63 über eine Einschätzung der Passierscheinvereinbarung durch den Westberliner Senatspressechef Egon Bahr und anderer profilierter Personen
Dem MfS liegen Angaben über eine interne Unterredung zwischen Senatspressechef Egon Bahr,1 Pfarrer Weckerling,2 Journalist Sebastian Haffner,3 Leiter der Evangelischen Akademie Dr. Müller-Gangloff4 vor.
In dieser Unterredung wurde folgender gemeinsamer Standpunkt bezogen:
Als Reaktion auf das Ergebnis der Passierscheinverhandlungen5 sei in Westberlin ein völliger Stimmungsumschwung zu verzeichnen. Der Abschluss der Passierscheinvereinbarungen sei der Ausdruck dafür, dass »die Führung der SED die Schwenkung von der starren, dogmatischen Richtung der Politik zur Angleichung an die weltweite Tendenz der Entspannung und der gegenseitigen Konzession« weiter vollzogen habe. Dieser Kurs sei seit dem VI. Parteitag6 und in allen nachfolgenden Maßnahmen sichtbar geworden und habe jetzt zum ersten Ergebnis geführt. (Diese Tatsache wurde besonders von Bahr hoch eingeschätzt.)
Die Verhandlungsergebnisse stellten sich nach außen hin »dem kleinen Mann im Westen«, der nicht so viel Einblick in die große Politik habe, so dar, als ob die DDR allein der Interessenvertreter seiner persönlichen Wünsche sei. Das wäre im gewissen Grade auch die Klemme, in die der Westen geraten sei. Allen bisherigen Vorschlägen der DDR auf Entspannung hätte man im Westen kein großes Gewicht beizumessen brauchen, da sie bei den einfachen Menschen im Westen keine Resonanz gehabt hätten. Das diesmalige Nachgeben des Senats sei vor allem darauf zurückzuführen, dass die Vorschläge der DDR erstmalig mit den persönlichen Wünschen der Masse der Menschen im Osten und im Westen unter Betrachtung der Politik übereinstimmten. Das Aufatmen in breiten Kreisen der Bevölkerung des Westens sei dadurch zu erklären, dass es sich um den ersten Entspannungsschritt handele, der direkt in ihr persönliches Leben eingreife. Alle bisherigen Entspannungsvereinbarungen, wie z. B. in der Kubafrage, im Atomtestabkommen usw. hätten den Durchschnittsmenschen sehr wenig interessiert.
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