Fahnenflucht eines Oberleutnants einer Grenzkompanie in den Westen
19. Februar 1963
Einzelinformation Nr. 103/63 über die Fahnenflucht des Oberleutnant der NVA, Kommando Grenze, [Vorname Name 1] am 17. Februar 1963 von der Kompanie Hanum
Am 17.2.1963, in der Zeit zwischen 18.45 Uhr und 19.30 Uhr, wurde Oberleutnant [Name 1, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1930 in Zeitz, wohnhaft Hanum, Kreis Klötze, soziale Herkunft: Arbeiter, Familienstand: verheiratet, drei Kinder, SED seit 1.1.1948, NVA seit 5.6.1950, von der Dienststelle – Kompanie Hanum1 – Regiment Beetzendorf in Dienstuniform unter Mitnahme seiner Dienst-Pistole »M«2 nach Westdeutschland fahnenflüchtig.
[Name 1] besuchte im Jahre 1954 eine Offiziers-Schule für Zugführer und ist seitdem als Zugführer in der Kompanie Hanum eingesetzt. Trotz seiner langjährigen Zugehörigkeit zur NVA, Kommando Grenze, hat er sich nur ein ungenügendes politisches Wissen angeeignet, was u. a. in einigen von ihm getroffenen Fehlentscheidungen bei Vorkommnissen in seiner Dienststelle zum Ausdruck kam.
[Name 1] wird als geistig nicht sehr beweglich eingeschätzt. Er trat ruhig und zurückhaltend auf.
[Name 1] wurde seit dem 1.1.1948 wiederholt als Sekretär der Grundorganisation3 der Dienststelle der NVA, Kommando Grenze, Hanum gewählt. 1960 und 1961 erhielt er jeweils eine Parteistrafe wegen ungenügender Erfüllung seiner dienstlichen Aufgaben. Außerdem wurde er 1960 und 1962 wegen gleicher Vergehen disziplinarisch zur Verantwortung gezogen. [Name 1] versah seinen Dienst nicht immer entsprechend den Beschlüssen unserer Partei sowie den bestehenden Befehlen und Anweisungen der NVA, Kommando Grenze. Seine Arbeitsweise war teilweise oberflächlich. [Name 1] neigte in der Vergangenheit zum übermäßigen Alkoholgenuss. Dies wurde von seinen Vorgesetzten nicht genügend beachtet und nicht gerügt. Ungünstig wirkte sich in der gesamten Dienstdurchführung in der Dienststelle Hanum weiter aus, dass Befehle und Weisungen in der Kompanie nicht konsequent ausgeführt wurden und eine straffe militärische Führung nicht immer gewährleistet war. Häufig bestand keine konkrete Kontrolle und Übersicht über die Ausführung von Befehlen und Weisungen.
Während seiner gesamten Tätigkeit in der NVA, Kommando Grenze, zeigte sich, dass [Name 1] keinen ausgeprägten eigenen Willen hatte. Das äußert sich u. a. darin, dass er die von seiner Ehefrau geführte lose Korrespondenz nach Westdeutschland (Bekannte) nicht unterband und den Empfang westlicher Fernsehsendungen in der Wohnung seiner Bekannten duldete. Eine Schwester des [Name 1] sowie mehrere Verwandte 2. Grades wohnen in Westdeutschland. Zu ihnen soll jedoch keine Verbindung bestanden haben.
Über die Umstände der Fahnenflucht des [Name 1] wurde Folgendes ermittelt:
[Name 1] hatte vom 16.2.1963 – 18.00 Uhr bis 18.2.1963 – 8.00 Uhr dienstfrei zu seiner in Hanum wohnenden Familie [sic!]. Für den 17.2.1963 – 13.00 Uhr war [Name 1] zur Dienststelle Hanum bestellt worden. Er sollte als 1. Zugführer die Dienstgeschäfte vorübergehend übernehmen, weil der Kompanieführer Hauptmann [Name 2] ab 18.2.1963 zu einer Schulung abberufen worden war. Am 17.2.1963 – 13.45 Uhr erschien [Name 1] in der Dienststelle Hanum im angetrunkenen Zustand. [Name 1] hatte am Abend des 16.2.1963 der Jahresabschlussfeier der LPG Hanum beigewohnt und dabei stark dem Alkohol zugesprochen. Am 17.2.1963 – 11.00 Uhr verließ er seine Wohnung und ging zum »Tiegelbratenessen« der LPG Hanum, wo er wieder Alkohol zu sich nahm. Als [Name 1] um 13.45 Uhr vom Kompanieführer zur Ausnüchterung nach Hause geschickt wurde, mit der Weisung, um 18.00 Uhr erneut in der Dienststelle zu erscheinen, suchte [Name 1] nochmals die LPG auf und trank weiter Alkohol. Gegen 16.00 Uhr begab sich [Name 1] gemeinsam mit dem LPG-Vorsitzenden der LPG Hanum [Name 3] und dem Parteisekretär der Ortschaft Hanum [Name 4] zur Gaststätte in Hanum, wo sie Skat spielten und weitertranken.
[Name 1] verließ gegen 18.00 Uhr die Gaststätte und begab sich zur Dienststelle. Dort suchte er das Zugführerzimmer auf und entnahm Pressefestlose der »Volksstimme«,4 um sie, trotz Einspruch Leutnant [Name 5], in der Kompanie zu verkaufen. In der Unterkunftsbaracke verkaufte [Name 1] an drei Soldaten Lose und wurde 18.30 Uhr letztmalig im Objekt gesehen.
Gegen 18.50 Uhr des 17.2.1963 wurde von einem Postenpaar des Kommando Grenze Hanum gehört, dass auf westlichem Gebiet, unmittelbar in der Nähe der Staatsgrenze, aus einer Handfeuerwaffe fünf Schuss abgegeben wurden. Vermutlich handelte es sich um Schüsse aus der Dienstpistole des [Name 1]. Durch ein zweites Postenpaar wurde gegen 19.40 Uhr eine Spur DDR – West, ca. 200 m nördlich vom Bahnhof Hanum, unmittelbar hinter der Ortschaft, festgestellt. Die Drahtsperre war beiderseitig durchschnitten. Diese Spur wurde am 18.2.1963, nachdem Oberleutnant [Name 1] nicht aufzufinden war, als die des [Name 1] identifiziert. Die Spur des [Name 1] in Richtung West verlief im Zick-Zack-Kurs ins westliche Hinterland. Daran ist zu erkennen, dass sich die flüchtende Person im stark angetrunkenen Zustand befunden hatte.
Am 19.2.1963, gegen 7.15 Uhr, wurde durch einen Feldwebel des Kommando Grenze Hanum in der Ortschaft Hanum eine Anzahl Pressefestlose gefunden, die [Name 1] beim Verlassen der Ortschaft Hanum verloren oder weggeworfen haben muss.
Die Nachforschungen über den Verbleib des Genossen Oberleutnant [Name 1] wurden am 18.2.1963 – 8.00 Uhr begonnen, nachdem [Name 1] nicht zum Dienst erschienen war.
Am 18.2.1963 – 6.00 Uhr erschienen auf westlichem Gebiet gegenüber dem Schlagbaum Bahnhof Hanum – Straße Zasenbeck/WD vier Zöllner in einem VW-Bus und untersuchten mit einem Hund eingehend die Durchbruchstelle. Weitere vier Zöllner hielten sich während des 18.2.1963 ständig in der Nähe der Durchbruchstelle auf westlichem Gebiet auf.
Die Untersuchungen ergaben kein Motiv für die Fahnenflucht. [Name 1] führte ein geordnetes Familienleben. Von seiner Ehefrau wurde er am 17.2.1963 – 11.00 Uhr das letzte Mal gesehen. Von den Personen, mit denen [Name 1] kurz vor seiner Fahnenflucht zusammentraf, ist nach bisherigen Überprüfungen keine Beeinflussung zur Fahnenflucht erfolgt. Für eine Beeinflussung durch Verwandte aus Westdeutschland gibt es ebenfalls keine Hinweise. Auch wurden in den letzten Monaten mit dem [Name 1] in der Dienststelle oder in seiner Grundorganisation keine wesentlichen Auseinandersetzungen geführt, die Anlass einer Fahnenflucht gewesen sein könnten. Festgestellt wurde jedoch, dass [Name 1] seinen Dienst in der NVA, Kommando Grenze, in der letzten Zeit lustlos versah und wiederholt zu seiner Ehefrau äußerte, dass er auf seine bevorstehende Entpflichtung im Jahre 1964 warte. Die Fahnenflucht erfolgte unter dem Einfluss starken Alkoholgenusses, was auch aus der Spur in Richtung West hervorging.
Weitere Maßnahmen zur Untersuchung der Fahnenflucht und möglicher Verbindungen des [Name 1] wurden durch das MfS in Verbindung mit der NVA, Kommando Grenze, eingeleitet.