Fahnenflucht von vier Grenzsoldaten nach Hessen
19. November 1963
Einzelinformation Nr. 701/63 über eine Gruppenfahnenflucht von vier Angehörigen der NVA/Kommando Grenze, Kompanie Lauchröden, Grenzregiment Eisenach, 11. Grenzbrigade am 15. November 1963
Am 15.11.1963, zwischen 20.00 und 21.00 Uhr, wurden die Angehörigen der Kompanie Lauchröden, Grenzregiment Eisenach, Unterfeldwebel [Name 1, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1942, stellvertretender Zugführer, NVA seit 9.2.1960, ledig, keine Westverwandtschaft, Mitglied SED/FDJ; Unteroffizier [Name 2, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1943, Gruppenführer, NVA seit 25.8.1961, ledig, ein Onkel in WD, Mitglied SED/FDJ; Unteroffizier [Name 3, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1939, Gruppenführer, NVA seit 7.9.1961, ledig, eine Tante, ein Großvater in WD, Mitglied FDJ; Unteroffizier [Name 4, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1943, Gruppenführer, NVA seit 13.9.1961, ledig, keine Westverwandtschaft, Mitglied FDJ (alle Freiwillige), im Bereich der Kompanie Lauchröden nach Westdeutschland fahnenflüchtig.
Am 15.11.1963, gegen 17.30 Uhr, wurde Unteroffizier [Name 4] von seinem Zugführer Feldwebel [Name 5] beauftragt, den Zug zum Postendienst im Grenzgebiet einzuweisen.
Da kein Offizier anwesend war und der Feldwebel die Kompanie nicht verlassen konnte, wurde Unteroffizier [Name 4] über den Einsatz der einzelnen Posten genau informiert.
Gegen 19.45 Uhr fuhr [Name 4] den Zug mit einem Kfz zur Grenze.
Entgegen dem Befehl wies er die Posten rechts und links der Straße Lauchröden – Gerstungen so ein, dass ein größerer Grenzabschnitt (ca. 1 km) ungesichert blieb.
Danach kehrte [Name 4] zur Kompanie zurück und begab sich mit Unteroffizier [Name 3] befehlsgemäß auf Standortstreife. Anschließend waren beide ab 21.30 Uhr als Kontrollstreife zur Postenkontrolle im Grenzgebiet eingesetzt.
Während der Standortstreife suchten [Name 4] und [Name 3] um 20.15 Uhr die Gaststätte Lauchröden auf, die sie gegen 20.30 Uhr wieder verließen.
Unterfeldwebel [Name 1], Unteroffizier [Name 2] und Unteroffizier [Name 6] erhielten am 15.11. bis 21.30 Uhr Ausgang nach Lauchröden.
Um aber bei ihrem Vorhaben (der beabsichtigten Fahnenflucht) nicht gestört zu werden, erklärten [Name 1] und [Name 2] gegenüber dem [Name 6], dass sie es sich überlegt hätten und nicht ausgehen würden.
Daraufhin blieb auch Unteroffizier [Name 6] in der Kompanie.
Kurze Zeit danach stellte Unteroffizier [Name 6] jedoch fest, dass Unterfeldwebel [Name 1] und Unteroffizier [Name 2], trotz ihrer gegenteiligen Behauptungen, die Kompanie verlassen hatten.
Nach den bisherigen Überprüfungen begaben sich [Name 1] und [Name 2] sofort in das Grenzgebiet, wo sie von Unteroffizier [Name 4] und Unteroffizier [Name 3] bereits erwartet wurden, um gemeinsam in dem von [Name 4] durch befehlswidrigen Posteneinsatz vorbereiteten Grenzabschnitt fahnenflüchtig zu werden.
Sie benutzten die Straße Lauchröden – Gerstungen und durchschwammen anschließend die Werra.
Am 16.11.1963, gegen 8.30 Uhr, wurden am diesseitigen Ufer der Werra die Waffen, Munition und Ausrüstungsgegenstände der vier Fahnenflüchtigen gefunden und sichergestellt.
Nach den bisherigen Untersuchungsergebnissen war die Gruppenfahnenflucht seit ca. Anfang November 1963 geplant. Nach den Aussagen des Unteroffizier [Name 7], Nachrichten-Gruppenführer in der Kompanie Lauchröden, hat ca. acht Tage vor der Fahnenflucht in seiner Gegenwart ein Gespräch stattgefunden, bei dem sich [Name 1], [Name 2] und [Name 4] – angeblich in scherzhafter Form – über die Möglichkeit einer gemeinsamen Fahnenflucht unterhielten. Unteroffizier [Name 7] hat darüber keine Meldung gemacht.
Über die möglichen Ursachen der Fahnenflucht wurde bisher Folgendes festgestellt:
Unteroffizier [Name 4] war im Kreis Königs Wusterhausen wohnhaft und hatte ein Gesuch zur Versetzung zu einer Berliner Grenzbrigade eingereicht. Dies wurde jedoch abgelehnt. Danach ließ [Name 4] in der Dienstdurchführung nach, trat als Initiator negativer Diskussionen auf und musste seit Oktober 1963 zweimal disziplinarisch bestraft werden, letztmalig am 4.11.1963 wegen wiederholter Ausgangsüberschreitung mit drei Tagen Arrest.
Die Strafe war noch nicht verbüßt.
Unteroffizier [Name 1] äußerte wiederholt seine Verärgerung darüber, nicht als Zugführer eingesetzt worden zu sein. In mehreren Aussprachen mit dem Kompaniechef äußerte [Name 1] daraufhin die Bitte, als Waffen-Unteroffizier eingesetzt zu werden. Auch dieser Wunsch wurde abgelehnt, worüber [Name 1] sehr verärgert war.
Unteroffizier [Name 2] wurde im September 1963 aufgrund seiner seit Anfang des Jahres ständig nachlassenden Dienstleistung durch den Kompanie-Chef für Oktober 1963 zur Entpflichtung vorgeschlagen. Von dieser Maßnahme erhielt [Name 2] Kenntnis. Der Entpflichtungsvorschlag wurde jedoch durch die Bataillonsleitung abgelehnt. Ohne mit [Name 2] eine entsprechende Aussprache zu führen und diese Entscheidung zu erläutern, musste er daraufhin seinen Dienst weiter versehen.
Unterfeldwebel [Name 1] und Unteroffizier [Name 3] versahen bisher einen guten Dienst und Unteroffizier [Name 3] wurde als vorbildlicher Soldat eingeschätzt.
Nach den bisherigen Untersuchungen bestand insgesamt gesehen in der Kompanie Lauchröden kein gutes sozialistisches Vertrauensverhältnis. Der Kompaniechef Hauptmann [Name 8] versuchte auf Befehlsbasis – unter Missachtung der Erziehungsarbeit – eine strenge militärische Disziplin und Ordnung durchzusetzen.
Diese ungenügende Leitungstätigkeit des Kompaniechefs wirkte sich auch nachteilig auf die Stimmung der Kompanie aus.
Begünstigt wurde die Unzufriedenheit noch durch verschiedene Unzulänglichkeiten in der materiellen Versorgung der Kompanie, deren Ursachen jedoch nicht allein in der Kompanie liegen.
Die Untersuchungen werden fortgesetzt. Durch das MfS wurden Maßnahmen zur weiteren Ermittlung der Ursachen und zur Aufklärung einer möglichen Mitwirkung feindlicher Kräfte sowie zur Absicherung der Einheit eingeleitet.